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Cover Lettre International 99, Franz Erhard Walter
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LI 99, Winter 2012

Elektronische Börsen

Das globale System des Aktienhandels schaltet im Mikrosekundentakt

Vor nur zwanzig Jahren war das Herz der meisten Finanzmärkte ein Börsenparkett, auf dem Menschen Auge in Auge miteinander Geschäfte machten. Der Parketthandel am Chicago Mercantile Exchange beispielsweise bestand zumeist in einem Gedränge von Hunderten schwitzender, schreiender und gestikulierender Körper. Jetzt ist das Herz vieler Märkte (zumindest bei Standardprodukten wie Aktien) ein klimatisiertes Lagerhaus voller Computer, die von einer Handvoll Wartungspersonal überwacht werden. Die Geschäfte, die früher auf den Parketts getätigt wurden, finden jetzt über matching engines statt, Computersysteme, die Kauf- und Verkauforders verarbeiten und einen Handel abschließen, sobald sie eine Kauforder und eine Verkauforder finden, die zueinander passen.

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Einige, wenn auch nicht alle automatisierten Handelsstrategien erfordern ultraschnellen „Hochfrequenzhandel“. Das elektronische market making ist das deutlichste Beispiel. Der spread zwischen dem Kurs, zu dem ein market-making-Programm Aktien kauft, und dem Kurs, zu dem es sie verkauft, beträgt heute oft nur einen Cent, daher müssen die market-making-Algorithmen die Aufträge, die sie abgeben, sehr schnell ändern, sobald sich die Kurse und das Ordergefüge verschieben. Ein algo-sniffer oder statistical-arbitrage-Trader hat vielleicht etwas mehr Zeit: Mir wurde erzählt, daß statistical-arbitrage-Programme eine Aktienposition einen ganzen Tag lang halten (und in manchen Fällen sogar noch länger), bevor sie diese liquidieren. Solche Gelegenheiten werden sich jedoch schnell verflüchtigen, wenn ein anderer Algorithmus sie vorher ausfindig macht. Die Geschwindigkeiten nehmen ständig zu. In den Daten von Hasbrouck und Saar, die von 2007 und 2008 stammen, war die hauptsächliche Einheit der Handelszeit noch die Millisekunde, doch das beginnt nun beinahe gemächlich zu erscheinen: Zeit wird heute oft in Mikrosekunden (millionstel Sekunden) gemessen. Die Londoner Börse gibt beispielsweise an, daß ihre Handelsplattform Turquoise eine Order in nur 124 Mikrosekunden verarbeiten kann.

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Wenn sie nach Kriterien wie den Handelskosten bewertet werden, sind die Auswirkungen der Automatisierung vermutlich vorteilhaft. Was jedoch dagegen abgewogen werden muß, sind die Implikationen einer seltsamen und beunruhigenden Episode, die sich am Nachmittag des 6. Mai 2010 ereignete, gegen 14 Uhr 40 begann und nur zwanzig Minuten dauerte. Die Kurse der amerikanischen Aktien und der index-futures-Kontrakte, die Wetten auf diese Aktien sind, fielen durchschnittlich um etwa sechs Prozent innerhalb von nur fünf Minuten, ein Kursrückgang von noch nie dagewesener Geschwindigkeit. Die Kurse insgesamt erholten sich dann beinahe ebensoschnell, doch es fanden gigantische Kursschwankungen bei einzelnen Aktien statt. Aktien des weltweiten Beratungsunternehmens Accenture zum Beispiel waren für etwa 40,50 Dollar gehandelt worden, doch sie fielen auf einen einzigen Cent. Aktien von Sotheby’s, die um 34 Dollar gehandelt worden waren, sprangen plötzlich auf 99 999,99 Dollar. Der Markt war an diesem Tag bereits nervös wegen der Schuldenkrise in der Eurozone (insbesondere wegen der prekären Situation Griechenlands), doch während der kritischen zwanzig Minuten trafen keine „neuen Nachrichten“ ein, die der Grund für den plötzlichen tiefen Fall und die anschließende Erholung hätten sein können, und nichts war über Accenture bekannt geworden, das hätte erklären können, warum diese Aktien beinahe ihren gesamten Wert verloren hatten.

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Crash-Spiralen

Doch zum Glück ist die elektronische Handelsplattform, auf der diese index futures gekauft und verkauft wurden – das Chicago Mercantile Exchange Globex System – derart programmiert, daß sie eine derartige Spirale entdeckt. Ihre stop logic functionality ist dazu bestimmt, sich selbst fortsetzende Crashs und Kursspitzen nach oben zu stoppen. Ein stop ist eine Order, die erst dann automatisch ausgelöst wird, wenn die Kurse unter ein voreingestelltes Niveau fallen. Käufer von index futures zum Beispiel werden manchmal versuchen, sich vor katastrophalen Verlusten zu schützen, indem sie stop-Orders plazieren, die diese Futures verkaufen werden, wenn ihre Kurse unter ein gegebenes Niveau fallen. Jedoch können diese Verkäufe potentiell zu einer Kaskade führen, indem sie einen weiteren Verfall der Kurse verursachen, der weitere stop-Orders auslöst. Das Ziel der stop logic functionality ist, diesen Prozeß anzuhalten, indem sie Menschen als Händlern Zeit gibt festzustellen, was vor sich geht, und in den Handel einzugreifen.

Um 14 Uhr 45 und 28 Sekunden löste der Kursverfall die stop logic functionality von Globex aus, die dem Handel eine fünfsekündige Pause auferlegte. Es funktionierte. Wie Alison Crosthwait von Instinet (einem der ältesten elektronischen Handelsplätze) in einem Internet-Diskussionsforum erklärte, das von der TABB-Gruppe betrieben wird, verschaffte die Fünf-Sekunden-Pause „den Marktteilnehmern genügend Zeit, um ihre Positionen zu prüfen und zum Markt zurückzukehren oder nicht, je nach den Schlußfolgerungen, zu denen sie gelangt sind … [Es] erlaubte den Marktteilnehmern, Vertrauen wiederzuerlangen.“ Ihre Käufe beendeten die Abwärtsspirale des Kurses für index futures, als der Handel fünf Sekunden später wieder begann.

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Trotz des bescheidenen Umfangs der Verluste fanden viele Marktteilnehmer und Regulierungsbehörden den flash crash sehr irritierend, und ich denke, sie hatten damit recht. Was mich an dieser Episode am meisten beunruhigt, ist nicht etwas, das geschehen ist, nicht einmal etwas, das gesagt worden ist, sondern etwas, das nicht gesagt worden ist. Alison Crosthwaits Beitrag rief nur fünf Kommentare anderer TABB-Forumsmitglieder hervor, und keiner widersprach ihrer Einschätzung, daß fünf Sekunden „hinreichend Zeit für die Marktteilnehmer waren, um ihre Positionen zu prüfen“. Es ist zweifellos richtig, wenn Crosthwaits das Auslösen der stop logic functionality als Wendepunkt ausmachte, und die Stabilisierung der Futures-Kurse nach der Fünf-Sekunden-Pause zeigt, daß sie richtig lag: Fünf Sekunden waren genug Zeit. Doch man muß bedenken, daß sie von Menschen sprach, die zu Entscheidungen kamen, und nicht von Computersystemen, die sich neu kalibrierten: Wir sprechen gewöhnlich nicht davon, daß Computer etwas „überdenken“ und „Vertrauen wiedergewinnen“. Dies ist eine Situation, in der nach der Terminologie des Organisationssoziologen Charles Perrow eine „enge Kopplung“ vorliegt: Es gibt sehr wenig „Lockerheit“, „Dehnbarkeit“ oder „Puffer“, und Entscheidungen müssen in einer nach jedem normalen menschlichen Maß sehr begrenzten Zeitspanne getroffen werden. Ich brauche fünf Sekunden, um mir die Nase zu putzen.

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Wenn wir über automatisierten Handel nachdenken, geschieht es leicht, den Fokus zu eng zu wählen und entweder selbstzufrieden auf seine unbezweifelbaren Vorzüge zu verweisen oder eine manchmal übertriebene Furcht vor außer Kontrolle geratenen Computern heraufzubeschwören. Statt dessen müssen wir über Finanzsysteme im ganzen nachdenken, so verzweifelt schwierig dieses Denken auch sein mag.

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.