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Cover Lettre International, Etel Adnan
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LI 116, Frühjahr 2017

Roman und Moderne

Der schwindelerregende Wandel und der Triumph der Prosa der Welt

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Kann man sich den Roman ohne Moderne vorstellen? Der Roman ist die Moderne. Nicht nur könnte das Genre nicht ohne die Epoche existieren, so wie die Welle nicht ohne das Meer, sondern in mancher Hinsicht identifiziert er sich mit ihr und ist ihr wechselhafter Ausdruck, so wie der Blick oder eine bestimmte Mundstellung der Ausdruck eines Gesichtes sind. Sicher, der Ausdruck „Roman“ geht auf das Mittelalter zurück, und es gibt griechische „Romane“, aber kann man, soweit sie diesen Namen zu Recht verdienen, sagen, sie verfügten – sei es nur in embryonalen Formen und mit allen kulturellen, sozialen und stilistischen Charakteristika ihrer Epoche – im Guten wie im Schlechten über die Kennzeichen von Modernisierung und die Ambivalenz, die den Roman im eigentlichen Sinn auszeichnen: den Zusammenhang mit der Auflösung der Epik; die ambivalente Symbiose von der Krise des Epos und technischer Innovation, die Überreste des epischen Universums, die in neue Strukturen umgeformt und neu zusammengesetzt werden; die Koexistenz des Niedergangs überbrachter Werte mit der kühnen Konstruktion einer neuen Realität; ein Mischmasch von populären Erzählstrategien, serials und Feuilletons, welcher das antike Publikum ebenso begeistert hat wie später das bürgerliche, eine polyphonische Verschmelzung hoher und niedriger Gattungen, insbesondere von Registern und Themen. Übrigens erscheint das Ende der antiken Welt immer mehr als ein Spiegel vom Ende der modernen (auch der postmodernen?) Welt sowie der flüchtigen Imminenz von irgend etwas Anderem und radikal Verschiedenem, das wir spüren, jedoch nicht definieren und uns nicht einmal vorstellen können.
Der erste Roman im eigentlichen Sinn ist der inkommensurable Don Quijote de la Mancha, der nach Dostojewski allein schon gereicht hätte, um die Menschheit in den Augen Gottes zu rechtfertigen. Nach seinem Modell erfindet und kodifiziert die Romantik Jahrhunderte später den Roman als Ausdruck der Moderne par excellence. Im Don Quijote verifizieren das Epos und der Glaube an das Epos dessen eigenes Ende und dessen eigene Illusion, ohne aufzuhören, sich auf die heruntergekommenen Straßen der Welt zu wagen, als wären sie verzauberte Wälder voller Poesie und Bedeutung. Der Roman entsteht mit dieser Desillusionierung und diesem entzauberten und paradoxen Widerstand; er ist die Epopöe der Entzauberung.

(…)

In der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts wird das Geld exorziert, im Wirtshaus verjubelt, als Pension einkassiert, immobilisiert in landwirtschaftlichen Besitz. Es wird aber nie investiert, es wird nie eine vitale Substanz wie für die Protagonisten von Balzac oder für Faust mit seiner emanzipatorischen und zerstörerisch-unternehmerischen Tätigkeit.
Es ist kein Zufall, daß die österreichische Literatur des 19. Jahrhunderts, die in anderen Gattungen Großes leistet, den Roman nicht oder beinahe nicht kennt. Die österreichische Kultur bleibt im 19. Jahrhundert gegenüber den großen Philosophien, die vom Glauben an den der Geschichte immanenten Fortschritt geprägt sind, oft rückständig; sie wird in dem Moment zur Avantgarde, wo diese starke Modernität – mit ihren systematischen Philosophien und deren Tendenz, die Totalität der Welt in großen Synthesen zu erfassen und zu ordnen – in eine Krise gerät. Die österreichische Kultur wird dann zu einem Vorposten und einem äußerst empfindlichen Seismographen der Krise – Wien als „Wetterstation für Weltuntergang“, wie Karl Kraus sagen wird –, ein Laboratorium der nicht enden wollenden Analyse, die jede Einheit zerlegt, angefangen von der des Individuums selbst; ein Observatorium der Unsicherheit, der Unbestimmtheit, des Wahrscheinlichkeitschaos, welche die gegenwärtige Kultur kennzeichnen.
Die österreichische Literatur bringt große Antiroman-Romane hervor; nicht soziale Fresken, sondern Fresken der Desintegration des sozialen Gewebes und aller seiner Elemente, auch der des Ich – die Meisterwerke von Musil, Kafka und anderen Größen. Die österreichische Kultur war höchst aufmerksam hinsichtlich der Phänomenologie der Moderne, um so mehr, je weniger sie deren pauschale Anforderungen akzeptierte. Niemand hat zum Beispiel so wie Kraus die Macht der Medien und den Wandel der Informationsmedien verstanden. Gerade deshalb sträubte sich diese Kultur gegen den Glauben, daß die Zeitungslektüre das Morgengebet ersetzen könne, wie Hegel wollte, auch dann noch, als sie aufgehört hatte, diese Gebete zu sprechen, und nicht mehr wußte, an wen sie diese richten soll. Dies machte die österreichische Kultur zu einem sehr feinsinnigen Interpreten der Krise der starken Modernität, als deren Sicherheit in Unsicherheiten zerbröselte, in Unentscheidbarkeit, in Virtualität; als sich dem Realitätssinn – der häufig die gegenwärtige Realität als die einzig vorstellbare verabsolutiert – mit Musil der Möglichkeitssinn entgegengesetzt hat, der Gedanke, daß die Dinge sehr gut auch anders hätten verlaufen können.
Auch dieser radikal innovative Roman, der die narrativen Strukturen zerstört, ist ohne die in der modernen Welt geschehene Transformation des Realen und noch vielmehr der Subjektivität undenkbar – ohne diesen Prozeß der Fragmentierung und Zersetzung, der alle Bereiche betroffen hat, insbesondere das Ich, das eine „Anarchie der Atome“ (Nietzsche) geworden ist, ein „Anderes“ (Rimbaud), ein „Mann ohne Eigenschaften“ (Musil) oder eine Vielfalt von Kernen und Attributen ohne ein vereinigendes Zentrum, eine Menge von Eigenschaften ohne Mensch. „Unser ganzes Sein“ – schreibt Musil – „ist nichts als ein Delirium vieler“.
In Die Theorie des Romans – ein immer noch fundamentales Meisterwerk für das Verständnis dessen, was in den letzten zwei Jahrhunderten dem Leben und der Erzählung des Lebens passiert ist – zeigt Georg Lukács, wie der Roman sich in einer Welt bewegt, in der, im Unterschied zum epischen Universum, der Sinn nicht mehr gegeben ist. Er ist den Dingen zwar noch latent immanent, muß jedoch konstruiert werden – solange sich nicht zeigt, daß er nicht mehr konstruiert werden kann, was künftig immer mehr der Fall sein wird. Auf dem Frontispiz des modernen Romans scheint als resümierendes Epigraph jener fürchterliche Satz von Ibsen geschrieben zu sein, wonach sich einzubilden zu leben – wahrhaft zu leben – größenwahnsinnig sei. Natürlich wollte Ibsen damit sagen, daß dieser Größenwahnsinn, die Suche nach dem echten Leben, notwendig ist, aber nur das Bewußtsein von der Verwegenheit und Schwierigkeit dieses Unternehmens es möglich macht, sich dem echten Leben zu nähern.
Der Roman ist die Schwierigkeit dieser Suche, die Odyssee ihrer Enttäuschung oder ihres, trotz allem, erlösenden Hafens der Sinnerfülltheit. Geboren aus dem Zerfall der Epik ist er – vor allem die großen Romane des 19. Jahrhunderts – auch eine Rekonstruktion von Epik, einer Ganzheit des Lebens.

 

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