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Cover Lettre International 63, Max Grüter
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Inhaltsverzeichnis

LI 63, Winter 2003

Allee der Wale

Das Delphi der Arktis und die Magie der siberischen Inuit

Im Juli 1976 wurde nahe beim Kap Chaplino der nordostsibirischen Tschuktschenhalbinsel, auf den zwei Inseln Yttigran und Arakamtschetschen, eine außergewöhnliche Kultstätte entdeckt. Sie befindet sich an einer strategisch und historisch bedeutsamen Stelle: der Beringstraße. Seit 40 000 Jahren haben alle großen Wanderungen von Sibirien in das damals menschenleeren Amerika hier hindurchgeführt. Die Eskimos bildeten vor 10 000 Jahren die letzte Wanderwelle. Im August und September 1990 konnte endlich die "Erste französisch-russische Expedition auf der Tschuktschenhalbinsel", deren ehrenvolle wissenschaftliche Leitung mir übertragen war, in dieses Gebiet reisen, dessen Betreten uns, den Leuten aus dem Westen, die Sowjetmacht verboten hatte " für mich galt dieses Verbot dreißig Jahre lang.

Seit der Oktoberrevolution war sie die erste internationale Expedition auf der Tschuktschenhalbinsel, und sie war die zweite seit jener anderen, die man auf Anordnung Katharinas II. ausgeschickt hatte: Diese Expedition hatte den Namen "Geographische und astronomische Forschungsreise in die nördlichen Gegenden Rußlands" erhalten. Geleitet wurde sie von einem britischen Offizier und früheren Reisegefährten des Kapitäns James Cook, dem Kommandanten Joseph Billings, den der Leutnant Gawriil Sarytschew unterstützte, um nicht zu sagen: streng überwachte. Die Expedition fuhr an Bord des Schiffes Slawa Rossii und bereiste die Region fast zehn Jahre lang (1785-1794), hat die bewußte Kultstätte jedoch nicht gesehen. In den Berichten der zwei Offiziere wird sie mit keiner Zeile, keinem Wort erwähnt.

Es folgten mehrere große russische Expeditionen, insbesondere die unter der Leitung des Kapitäns Fjodor Lütke an Bord der Korvette Senjawin (1826-1829). Kapitän Lütke, der Gründer der Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft und Adjutant des Zaren Nikolaus I., kartierte die beiden Inseln. Mit meinen Schritten folgte ich seinen Spuren. Ich betrachtete den Gipfel der Insel Arakamtschetschen, den er "Berg Athos" genannt hatte, eine Anspielung auf Alexander und vor allem auf das berühmte Kloster; und ich stellte fest, daß er keinen Kommentar über die Allee der Wale oder auch nur über den Walfang hinterlassen hat, dem sich die Meeresjäger der Eskimos und Tschuktschen intensiv und mit rituellen Praktiken widmen. Sein Dolmetscher verstand nicht, was man ihm sagte; und in seinem Bericht teilte Lütke vertraulich mit, daß er sich besser in der Zeichensprache, das heißt durch Gesten, ausdrückte.

"Da ich zwei Dolmetscher bei mir hatte, hoffte ich, bei den häufigen Begegnungen, die wir mit den bisher so wenig bekannten asiatischen Völkerschaften haben könnten, über sie recht interessante Auskünfte zusammenzutragen; doch zu meinem lebhaften Bedauern mußte ich mich vom ersten Augenblick an überzeugen, daß die Dolmetscher beinahe ganz unnütz sind, wenn es sich nicht um ein Tauschgeschäft oder einen Kauf handelt. Diese guten, aber sehr engstirnigen Greise, die in ihrem ganzen langen Leben nur auf Jahrmärkten oder bei den Bezirkskommissaren als Dolmetscher gedient haben, hatten es nicht gelernt, mit den Eingeborenen über irgendein anderes Thema zu reden, doch außerdem, und das war schlimmer für uns, konnten sie noch nicht ihre Gewohnheit überwinden, die sie seit der Zeit des Majors Pawlutski angenommen hatten, in den anderen nur feindlich gesinnte Menschen zu sehen; und es kam oft vor, daß sie durch ihre übermäßige Vorsicht das gute Einvernehmen mit uns behinderten und unbesonnen störten. Nie gelang es mir, sie davon abzubringen, die Tschuktschen zu bevormunden, was sie gewiß von den Kommissaren auf den Jahrmärkten gelernt hatten.

Kaum benimmt sich ein Tschuktsche etwas zwangloser, worum ich mich stets bemühte, da hält ihn der Dolmetscher auch schon zurück und erinnert ihn daran, sich vor dem Herrn Kommandanten nicht ungebührlich zu betragen; wenn er sich einbildet, daß der Tschuktsche besorgt ist, fängt er an, ihn zu beruhigen und zu streicheln, wobei er immer wieder sagt: mètschenki (gut, in Ordnung) und so weiter, und der Tschuktsche, der an nichts Schlimmes denkt, wird tatsächlich mißtrauisch. Ich rede erst gar nicht über ihre geringen Sprachkenntnisse und über den angeborenen Stumpfsinn aller beider. Manchmal brauchten sie einige Minuten, um die einfachste Bitte zu übersetzen, die nur aus zwei Worten bestand, und das auf solche Weise, daß niemand etwas verstanden hatte, wie man an den Augen der Zuhörer ablesen konnte. Oft war ich gezwungen, mich selbst mit den Fingern verständlich zu machen, wobei ich lediglich nach den Namen der wichtigsten Dinge fragte, und gewöhnlich gelang mir das besser als mit Hilfe der Dolmetscher. Aus all diesen Gründen und teilweise aus Zeitmangel sind die wenigen am Ende dieses Kapitels eingefügten Informationen alles, was ich sammeln konnte."

Die Ethnologie war damals im zaristischen Rußland eine gerade erst entstehende Disziplin. Auch in den Berichten der englischen und amerikanischen Expeditionen, die dieses Gebiet in der folgenden Zeit erkundeten, findet sich kein Hinweis auf die Wale. Während der Sowjetzeit wurden zahlreiche und hervorragende Forschungsreisen auf den Gebieten der Archäologie (Rudenko) und der physischen Anthropologie (Lewin) durchgeführt. Es fehlt jede Erwähnung der Allee der Wale bis zum Juli 1976, dem Zeitpunkt ihrer Entdeckung. Das ist so, als hätten Forschungsreisende, nachdem sie auf der Osterinsel gelandet wären, nicht die riesigen anthropomorphen Steine gesehen, die dort aufgerichtet sind.

Die Expedition im August und September 1990 konnte diese hochwichtigen archäologischen Entdeckungen " so gründlich, wie dies in dem kurzen Zeitraum möglich war, den die Behörden genehmigt hatten " in Augenschein nehmen. Diese Entdeckungen waren im Juli 1976 dem ausgezeichneten sowjetischen Archäologenteam gelungen, das von meinem alten Freund geleitet wurde, dem russischen Ethnoarchäologen Sergej Arutjunow, dem berühmten Erforscher der Gräber von Ekven. Während meiner eigenen ersten Reise konzentrierte ich mich auf einen historischen Kommentar und einen Interpretationsversuch zum Thema des Schamanismus.

Die Allee der Wale ist das Delphi der Arktis. In diesem strategisch wichtigen Gebiet der Beringstraße befinden wir uns am Vorabend großer Entdekkungen. Wie wenn wir in der Zeit Champollions lebten, als es die Entzifferung des Steins von Rosette ermöglichte, eine der großen Kulturen der Menschheit zu entdecken. An die Stelle des Steins von Rosette treten hier Elfenbeinarbeiten aus Walroßzähnen, in die vielfältige geometrische Zeichen eingeschnitzt sind. Und außerdem die seltenen schamanistischen Darstellungen, die auf Gebrauchsgegenständen erscheinen, wie etwa auf Säkken, Bällen, Teppichen und natürlich auch auf Masken und Tätowierungen. Auf Yttigran gibt es eine erste, sich über 100 bis 150 Meter erstrekkende Allee aus ostwestlich ausgerichteten Kieferknochen von Grönlandwalen.

Auf der Nachbarinsel Arakamtschetschen gibt es eine weitere Allee, die parallel dazu angeordnet ist. Die erste besteht aus 34 Säulen, davon sind drei Säulenpaare, die zweite aus elf Säulen. Zwischen diesen beiden Reihen verläuft eine Wasserstraße; dies ist meiner Ansicht nach die Allee der Wale, denn die Umrisse der Insel Arakamtschetschen können einen Wal darstellen, der in westlicher Richtung, das heißt zum Festland, also zu den Menschen hin, untertaucht. Aber das ist eine gewagte Deutung, die mir eine alte Yuit-Frau bei den von mir durchgeführten psychologischen (Rorschach-)Tests nahegelegt hat; diese Interpretation ließe sich nur durch die Sagen und Mythen der Tschuktschen und Yuit bestätigen.

"Über eine Entfernung von 400 Metern sind auf einem Küstenstreifen 13 Gruppen von insgesamt 47 riesigen Schädeln verteilt, die alle jeweils anderthalb Tonnen wiegen. Sie befinden sich fünfzig Zentimeter über dem Meeresspiegel, bilden Zweier- und danach Vierergruppen, also Intervalle von eins, drei, eins, vier die nach meiner Ansicht und nach der des berühmten und frühverstorbenen Historikers Charles Morazé von uralten, vielleicht dem Geist des Feng Shui verpflichteten Zahlenlehren abhängen." (Hummocks II)

Dies entspricht einer strengen Ordnung, wie Arutjunow betont. "Im geometrischen Mittelpunkt der Allee der Wale befindet sich eine verhältnismäßig ebene Fläche, die einen Halbkreis wie ein Amphitheater von vier bis fünf Metern bildet, dessen Ränder von gewaltigen Steinblöcken begrenzt werden. (…) Die Ausgrabungen in dieser nordwestlichen Welt haben aus einer Tiefe von 0,3 bis 0,8 Millimetern Asche, Gebeine, Reste von verkohlten Wal- und Walroßknochen ans Licht gebracht. Den Mittelpunkt umgeben eine große senkrechte Steinplatte und kleinere erratische Blöcke (440 bis 50 Zentimeter)." Die Flamme dieses Heiligtums von Yttigran ist ein Symbol für das Streben nach einer regelmäßigen Wiedergeburt. Die Flamme bringt das Heil. Sie steht im Mittelpunkt aller schamanistischen Riten Sibiriens. Sie ermöglicht es dem Geist des Toten, wenn die Tschuktschen dessen Leiche verbrennen, ins himmlische Vaterland zu wandern. Man könnte auf eine mögliche "Wesensverwandtschaft" (conaturalité) hinweisen, an die uns Antoine Faivre erinnert. Dabei bezieht er sich auf Raymond Abellio: Diesen "überraschte die enge Analogie, die ein Vergleich zwischen den 64 Hexagrammen des I Ging und den Codons des genetischen Codes offenbart".

Wenn man die Elfenbeinschnitzereien der bis 1800 v. u. Z. zurückreichenden Hochkultur der Eskimos an der Beringstraße (Old Bering Sea, OBS " Alte Beringmeerkultur) untersucht, ist man von den stilistischen Übereinstimmungen mit der Jadekunst des chinesischen Neolithikums (Beginn des 3. Jahrhunderts v. u. Z.) und mit der komplexen Kunst der Indianer der Nordwestküste Amerikas beeindruckt. Sobald man über den möglichen Einfluß des chinesischen Neolithikums auf diese Gesellschaften der Tschuktschenhalbinsel nachdenkt, stößt man auf chronologische Diskontinuitäten, deren Sinn man noch entdecken muß und die uns zu äußerster Vorsicht zwingen. Stand die Tschuktschenhalbinsel unter dem Einfluß der skythisch-sibirischen Kunst oder der Kunst Chinas oder auch der beider? "Die Zweiteilung der Darstellung ist für beide Kontinente bedeutsam. Die Verwandtschaften sind offenkundig. Trotzdem müssen uns die Entfernungen und die historische Geographie zu äußerster Vorsicht nötigen … Sind wir, wie es Claude Lévi-Strauss nahelegt, dem unentrinnbaren Dilemma ausgeliefert, das uns dazu verurteilt, entweder die Geschichte leugnen oder diesen Ähnlichkeiten gegenüber, die so oft festgestellt worden sind, blind bleiben zu müssen?"

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.