LI 139, Winter 2022
Neugeboren
Mit dem Hundeschlitten allein durch die nächtliche ArktisElementardaten
Genre: Autobiographie, Reisebericht
Übersetzung: Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
Textauszug: 5.793 von 48.257 Zeichen
Textauszug
(…)
An diesem Abend breche ich auf. Die Hunde bellen aufgeregt und voller Freude. Endlich können sie frei auf der Piste laufen! Sie sind an einem großen Stein festgebunden, ziehen an ihren Einzelleinen und stoßen kurze Freudenlaute aus. Ich löse alle ihre Riemen. Diese sind aus dem Leder von Walrossen (Aaviq), Bartrobben (Ugjuk) oder großen Robben (Aataq). Und ich binde sie an den Schlitten. Endlich laufen! Viele Frauen sind gekommen und wollen mich zurückhalten. Eine jüngere hält einen Zipfel meiner Rentierjacke mit den verkrampften Fingern fest: „Bleib hier! Bleib hier! Geh nicht weg! Wir behalten dich in unserem Iglu! Alle sagen es: Du wirst sterben.“ Mit einem traurigen Lächeln beobachtet mich Sakaeunnguaq von weitem. Energisch wendet er den Kopf ab. Alle halten es für unsinnig, daß dieser hergelaufene, offenkundig unerfahrene junge Weiße in der schwarzen Nacht allein losfährt, auf einem dünnen, aus dem Herbst stammenden Eisfeld. – „Der ist wirklich ein eingebildeter Dummkopf!“ – Das stimmt: Ich bin gnadenlos abhängig von einem Gespann, mit dem ich keine Erfahrung habe und welches ich nicht beherrsche. Sie meinen, daß das dünne Eisfeld von Anfang November diesen Verrückten unterkriegen wird. Das wird sein Grab sein. Den sind wir los! Augenscheinlich fahre ich ohne Zelt los – und dabei kann ich noch kein Iglu aus Schnee bauen. Ich habe keinen Proviant und keine Erste-Hilfe-Ausrüstung. Kein Gewehr: Und die Eisbären, die sich dort herumtreiben? Ist dies Unfähigkeit oder Unbesonnenheit oder beides zusammen?
Klar ist, daß ich nicht nachgedacht habe. Ich will nicht nachdenken. Nun können mich die Umstände aber zwingen, ein Lager aufzuschlagen und einen oder zwei Tage zu warten – ohne Proviant! Ohne welchen für mich oder für die Hunde. Und auf wen warten? Ich gehorche einem inneren Auftrag. Ohne Kompaß – denn dieses Land unterliegt der Wirkung des Erdmagnetismus – und ohne Karte – sie ist noch nicht ausgearbeitet, und es bleibt mir vorbehalten, sie zu erstellen – muß ich unbekannte Berge überqueren. So etwas ist Wahnsinn, und als ich diese Notizen niederschreibe, mache ich mir darüber Gedanken. Woher kommt diese ganz unwiderstehliche inspirierende Kraft? Allein die Erfahrung wird mir den edlen Paß eines Forschers verleihen. Ich bin ruhig und sogar heiter; ich folge meiner Inspiration. Also abfahren. Aber in welche Richtung? Sie sagen mir: „Immer geradeaus. Aber du kommst nicht zurück. Du wirst sterben. Du bist ein Kind.“ Ich sehe sie mit entrückten Blicken an.
(…)
Auch meine Hunde – das ist der Gipfel! – stellen sich nun wirklich Fragen. Bevor sie das Biwak verlassen, legen sie sich hin und schnüffeln, wenn sie zu mir kommen. Sie erkunden mich: „Kina? Wer ist das?“ In diesen ersten Tagen gibt es zwischen ihnen und mir ein ständiges Nachspüren. Ich rieche entschieden nicht nach Inuit. Sehr bald haben sie sich meinen Geruch zu eigen gemacht, denn sie fressen meinen Kot. Wenn er sehr fest ist, behalte ich ihn Paapa vor. Im gesellschaftlichen Leben atmen sie die Gerüche der einen und der anderen ein, die des Anus und des Urins. Sie haben sehr bald begriffen, daß ich kein Inuit bin, eines von diesen Wesen, die sie zur Welt gebracht haben, denn sie wissen auch, daß sie die Erzeuger des Menschen sind. Ein Hund findet sich mit seinem Geruchssinn zurecht. Hunde beschnuppern eher die ihnen sehr nahen Objekte, als daß sie sie ansehen; wenn sie weniger als vierzig Zentimeter entfernt sind, sehen sie nur noch ein Durcheinander. Der Geruchssinn dient ihnen als Führer. Sie wollen, daß man sich erklärt. Ein tiefschwarzer, entschieden feindseliger Hund bleibt liegen. Er hat den Kopf unter den Schwanz gesteckt. Er hat aufgegeben. „Entscheide dich! Wohin laufen wir also?“ Dann gehe ich zu Paapa, nehme seinen Kopf in meine Hände, kratze mit den Fingernägeln an seiner Schädelhaut, versenke meinen Blick in den seinen, und dann spreche ich kurz zu ihm in einer erfundenen Hundesprache. – „Hilf mir.“ Da hat er mir die Hand geleckt. Er hat mich lange und nachdenklich angesehen; dieser eindringliche Blick kennzeichnet den Beginn einer tiefen Freundschaft. Paapa wird für mich ebenso wichtig wie mein bester Informant. Da ich in die Inuit-Philosophie eingeführt bin, behalte ich meine Finger liebevoll in seinen Rückenhaaren, streichle kurz die Hoden, die eine sehr feine, wenig behaarte Haut haben. Wieder kratze ich seine Schädelhaut. Damit ich den Unterschied deutlich hervorhebe, mißhandle ich den Nachzügler der Gruppe mit einem Fußtritt. Das Opfer dreht kläffend den Kopf: „So etwas tut man nicht!“ Ein dürrer Großer schlüpft zwischen meine Beine; er bewegt sich hin und her und reibt sich an ihnen. Und da allen bewußt ist, daß sie im Einsatz sind, stehen sie auf und laufen unwillig wieder los. Um wohin zu kommen? Wer weiß?
Paapa hat sich entschieden: Er läuft an der Spitze. Die sechs übrigen folgen ihm ohne Zögern, halten aber keine Ordnung ein. Ich orientiere mich nach Instinkt und Mutmaßungen, Süd/Südost. Ich blicke direkt zum Mond. Mein Kopf steckt unter der Kapuze, die stark nach Karibu riecht, und der Kinnriemen mit den weichen Weißfuchshaaren umspannt mein Kinn. Mein Rücken ist dem Wind zugekehrt, und den Kopf habe ich leicht hochgereckt, um zehn Meter der Piste im voraus wahrzunehmen. So will ich mich angestrengt orientieren. Der aufkommende Wind weht bald so heftig, daß er mein Gehirn lähmt. Mit der nutzlosen Peitsche in der Hand halte ich nun den Schlitten an. Ich muß wieder zu Atem kommen, mit dem Gespann zu einem Ganzen verschmelzen. Wir sind ein Paar, das sich gegenseitig entdeckt. Mit besorgter Miene suche ich aufmerksam nach der Spur meiner Vorgänger. Nein, nicht der kleinste rettende Abdruck. Überall Schnee. Aput! Mit der Stiefelspitze stochere ich im vereisten Schnee: Pukak. Der Blizzard hat alles ausgelöscht.
(…)