LI 81, Sommer 2008
Zorn der Erde
Kultur und Natur der arktischen Völker müssen gerettet werdenElementardaten
Genre: Autobiographie, Bericht / Report, Curriculum Vitae, Erinnerung, Aufruf
Übersetzung: Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Textauszug
Wir sind Nachtwächter, die einer wilden Globalisierung, einer völlig ungeordneten Entwicklung gegenüberstehen; und wenn wir nicht aufpassen, wird es eine vernichtende Entwicklung sein. Die Erde leidet. Unsere Mutter Erde leidet schwer. Sie wird sich rächen. Die Zeichen kündigen sich bereits an.
29. Mai 1951, am geomagnetischen Pol! Zwei in Tierfelle gekleidete Männer mühen sich ab, mit ihren Hundeschlittengespannen auf dem großen Gletscher Nordgrönlands voranzukommen. Der eine der beiden ist Inuk, der andere bin ich. Ohne es zu wissen und ohne es gewollt zu haben, sind sie die ersten, die diesen geheimen Mittelpunkt der Welt erreicht haben, den der geomagnetische Nordpol darstellt: 78 Grad 29 Minuten Nord 68 Grad 54 Minuten West.
Um uns herum Gletscherspalten, die in dieser Spätwinterzeit bedrohlich waren; oft verhinderte Nebel oder ein Blizzard, daß wir uns am Himmel orientieren konnten; das Himmelsgewölbe, die Sterne und selbst die Sonne waren nur schwer auszumachen. In dieser Region mit sehr starkem Magnetismus stand uns kein Kompaß zur Verfügung, da die Nadel in diesen Breiten verrückt spielt. Kein GPS: damals noch völlig unbekannt. Auch keine präzise Karte: Ich zeichnete sie. Wir navigierten auf Sicht, entlang der Eiskanäle, durch die das Schmelzwasser des vergangenen Sommers geströmt war. Damit wir nicht über die nach gerüchteweiser Auskunft der Inuit zehn Meter hohe und auf ungefähr 600 Meter Höhe befindliche Randklippe des Inlandeises oder großen Gletschers stürzten und uns dabei das Kreuz brachen, verfolgte ich die Veränderungen meines Höhenmessers äußerst aufmerksam, wobei die für meine Route gewählte Höhe rettende 1.100 bis 1.200 Meter betrug, und so zeichnete ich die ersten Höhenlinien meiner Karte. Bei allen Gefahren, denen ich begegnete, war ich doch von einer Vorahnung an diesen berühmten, aber noch unbekannten Ort geführt worden.
Heute, das heißt ein halbes Jahrhundert später, sind die Gletscherspalten der Arktis so breit, daß im Juli 2007 ein Brite einen Kilometer weit am geographischen Nordpol kraulte, der zu jener Zeit, im Sommer, im offenen Meer lag. Im offenen Meer! Im Sommer 2007 war die in Grönland beobachtete Gletscherschmelze noch unerwarteter und noch besorgniserregender als bereits gewohnt. Professor Correll vom Heinz Center in Washington denkt, daß die vorsichtigen Schätzungen, wonach der Meeresspiegel in der nächsten Zeit um zwanzig bis sechzig Zentimeter steigen werde, überholt seien. Einige pessimistische Analytiker sprechen von einem allgemeinen Anstieg um zwei Meter! Millionen Menschen, in Bangladesch und anderswo, sind davon bedroht. In der Umgebung von Ilulissat in der Diskobucht – ich kenne sie gut, da meine französischen Kameraden und ich 1948 die ersten gewesen waren, die auf diesem Eis mit Hilfe von Kettenfahrzeugen vorankamen – wurden beträchtliche Wasserlöcher beobachtet. Sie werden „Gletschertöpfe“ genannt. Ungewöhnlich eng nebeneinander und mit Öffnungen von zehn bis zwölf Metern Durchmesser speisen sie einen unsichtbaren unterirdischen Süßwassersee, der 500 Meter tief ist. Nach Professor Correll wirkt dieser völlig neue See gleichsam als Schmiermittel, auf dem der Gletscher in Richtung Meer gleitet, und beschleunigt dessen Vordringen im Rhythmus von 15 Kilometern pro Jahr. Wenn Eisblöcke, die seit Tausenden von Jahren am bedrock oder Sockelfelsen hafteten, abbrechen, ruft dies seismische Erschütterungen hervor, die einen Wert von eins bis drei auf der Richterskala erreichen, was in Grönland sonst äußerst selten vorkommt. Hält man sich an die Plattentektonik Wegeners, können sie große Umwälzungen auf der Erdoberfläche ankündigen. Angesichts dieses Bruchs in der Ordnung der Natur wird der Nebel in unseren Köpfen immer dichter.
Für all dies ist die beschleunigte Erderwärmung verantwortlich; wir jedoch verhalten uns demgegenüber rein abwartend. Die Erderwärmung hat zweifellos geophysikalische und menschliche, natürliche und kulturelle Ursachen. Aber der Nebel in unseren Köpfen verhindert, daß wir den Sinn einer konsequenten ökologischen Politik erfassen. Die Krise reicht tief. Je mehr wir über Ökologie oder Umweltschutz sprechen, desto teilnahmsloser werden diese Überlegungen. Man spricht darüber, alles wird angeregt diskutiert, dann ist der Sommer vorbei, Weihnachten kommt, und alles ist vergessen. In dreißig oder fünfzig Jahren wird die Arktis vermutlich eisfrei sein; und wir in den gemäßigten Breiten werden gemeinsam mit den Menschen sämtlicher anderer Breiten eine Klimarevolution erleben, mit überaus schwierigen politischen und ökonomischen Anpassungsaufgaben. Was haben wir von den Mischungen aus kalten und warmen Wassern zu erwarten, die aufgrund der Erwärmung der Luft zu veränderten ozeanischen Strömungen führen werden? Schwankungen des Meeresspiegels sind abzusehen und Tsunamis ebenso vorgezeichnet wie Tornados, denen wiederum lange Dürre- oder Regenperioden vorausgehen oder folgen werden. Das bereits so fragile Gleichgewicht des Planeten ist in Gefahr. Für die autochthonen Bevölkerungen der hohen Breiten, die seit Jahrtausenden dort leben, wird dies eine radikale Umwälzung bedeuten; es wird die Dinge auf den Kopf stellen; ein Kulturschock, wie ihn erst wenige Zivilisationen erleben mußten. Die Folgen für uns sind unvorhersehbar. Denn unser Nichtwissen bezüglich zahlreicher Parameter, die für diese großen Probleme verantwortlich sind, müßte die Experten ganz demütig machen. Ja, wir stochern im Nebel herum.
In Wahrheit spüren wir das auch: Es ist eine Aufgabe von höchster Dringlichkeit, endlich umfassend zu ermessen, was es bedeutet, in die Geschichte dieser lange vernachlässigten, weil unzugänglichen arktischen und antarktischen Räume einzudringen. Mit Bedauern stellen wir jedoch fest, daß in zahlreichen der Programme des -Internationalen Polarjahres der Mensch nicht im Zentrum der Fragestellung steht. Denn wir leben heute in einer derart technisierten Zivilisation, die von den harten Wissenschaften mit ihren bemerkenswerten, aber kaum beherrschten Fortschritten auf eine Weise dominiert wird, daß wir Menschen in Kürze digitalisiert sein werden, während es uns an spirituellen und kulturellen Richtpunkten fehlt.
Vom 8. bis 10. Mai 2007 fand im Musée national d’Histoire naturelle in Paris ein Kongreß statt, der das Internationale Polarjahr eröffnete. Der Kongreß verabschiedete eine Erklärung, deren Sinn sich so zusammenfassen läßt: Wir hoffen von ganzem Herzen, daß sich vor den Augen der Welt ein hoher Norden durchsetzt, der unseren gewagtesten Utopien entspricht. Ein geschützter ökologischer Raum. Ein Raum des Friedens am nördlichsten Punkt der Erde im Gegensatz und Gegenzug zu den Atom-U-Booten, die dort stumm unter dem Eis patrouillieren. Ein Raum, der die ursprüngliche Biodiversität respektiert, und ein Raum der Freiheit für unsere Mutter Erde, die überall sonst, an allen Enden der Welt, geknechtet wird. Diese Erklärung versammelte neben den Franzosen Experten aus Deutschland, Kanada, Dänemark, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Grönland, Italien, Rußland und dem fernen Sibirien. Die Erklärung soll aber nur die Vorbereitung zu einem „Vertrag über die Arktis“ darstellen, auf den wir, die Wissenschaftler guten Willens, schon lange warten; denn für die Antarktis ist ein solcher Vertrag, wenn auch mit Schwierigkeiten, bereits unterzeichnet worden; nun darf die Unterzeichnung für die Arktis, wo die Probleme bedeutender sind und immer komplexer werden, nicht länger auf sich warten lassen.
Ebenso muß dafür gesorgt werden, daß sämtliche Staaten die UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Erbes annehmen. Von den siebzig Staaten, die sie bereits ratifiziert haben, sind jedoch nur drei Anrainer der Eisregion: Island, Norwegen und Schweden. Wir hoffen, daß es uns mit Hilfe meiner Freunde unter den Inuit, den Bewohnern Sibiriens, den Indianern Amerikas und den Samen gelingt, auch den übrigen Schutzmächten – -Washington, Ottawa, Kopenhagen, Helsinki, Moskau – klarzumachen, daß es höchste Zeit ist, das Land der Hyperboreer vor den Bedrohungen durch Moderne und Globalisierung zu schützen. Daß man denen, die dieses Land bevölkern, helfen muß, ihre bisher verleugneten oder mißachteten Rechte zu verteidigen und ihre Zukunft zu bewahren.
Geologie, Ozeanographie, Klimatologie – die Zukunft? Das ist Bildung und Erziehung für alle. Doch zunächst gilt es, die Bildungsvermittler zu bilden und die Erzieher zu erziehen. 1990, vor nunmehr 17 Jahren, habe ich auf Bitten der Regierung unter Michail Gorbatschow eine Expedition ins sowjetische Sibirien, auf die geheimnisvolle Tschuktschenhalbinsel, unternommen, gemeinsam mit 15 Partnern, die vor allem aus der Sowjetunion kamen, darunter acht sowjetische Wissenschaftler, unter ihnen wiederum die Soziologin Azurget Tarbajewna Schaukenbajewa. Heute leitet sie die Staatliche Polarakademie, eine Ausbildungsstätte für Führungskräfte aus den Völkern Nordsibiriens, die wir 1991 gemeinsam in Leningrad gegründet hatten, nachdem wir die Allee der Wale entdeckt hatten – nach Sergei Arutjunow, dem herausragenden russischen Archäologen, der diesen mythischen Ort als erster identifiziert hatte. Die Akademie bildet die Autochthonen zu Führungskräften aus, damit sie aus eigener Kraft vorankommen und Schriftsteller, Ärzte, Raumfahrtingenieure und, wer weiß, Nobelpreisträger werden. In diesem Sinne gedenken wir diese Politik gemeinsam mit dem Quai d’Orsay auch auf Grönland auszuweiten (mit dem Polarinstitut von Umanak unter Leitung Anne Andreasens und des bereits berühmten Grönländers Ole Jørgen Hammeken) sowie anschließend auf Kanada und Alaska, um eine ganze Politik von Patenschaften zugunsten dieser Populationen zu entwickeln. Sie sollen weiterhin in ihren angestammten Gebieten existieren, ihre Sitten und Gebräuche, ihr Ethos, ihre Identität und ihr Wesen bewahren können, indem sie das Beste unseres technischen Fortschritts übernehmen und es sich langsam aneignen, während sie uns ein Echo zurückgeben und auch ihrerseits erfinderisch sind.
Kulturelle Identitäten, ethnische Identitäten: Indem wir ihnen helfen, ihre Sprachen und ihre Kulturen zu schützen, indem wir in Föderationen wie Rußland oder einer Konföderation wie Kanada – die nicht nur leere Hülsen, sondern multikulturelle Wirklichkeiten sein sollen – mit ihnen koexistieren, helfen und schützen wir uns selbst. Denn ihr ursprüngliches Wissen um die Zukunft und ihre natürliche Unschuld sind das Wertvollste, das uns selbst mittlerweile am meisten fehlt.
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