LI 92, Frühjahr 2011
Planet Wikipedia
Eine digitale Enzyklopädie oder ein Spiel um vernetztes WissenElementardaten
Textauszug
Im Februar 2009 erlag Gordon Brown, der ehemalige britische Premierminister, einer lyrischen Stimmung, als er versuchte, im Unterhaus das Wesen der Finanzkrise zu erklären: „Mir fällt die Geschichte Tizians ein, jenes großen Malers, der, als er im Alter von neunzig Jahren das letzte seiner prachtvollen hundert Gemälde vollendete, gesagt hat: ‘Endlich lerne ich malen.’ An demselben Punkt befinden wir uns alle.“
In der folgenden Woche entgegnete David Cameron, damals der Führer der konservativen Opposition: „Der Premierminister kommt nie mit den Tatsachen zurecht: Er sagte, er sei wie der neunzigjährige Tizian. Aber Tizian ist mit 86 Jahren gestorben.“ Allgemeine Unruhe. Man hört Gelächter. Der Speaker verlangt Ruhe. Dann wendet man sich einem anderen Thema zu. Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende. Vier Minuten vor dem Ende der Kontrollsitzung wurde der Eintrag für „Tizian“ in der angelsächsischen Wikipedia der Erklärung des Tory-Führers entsprechend verändert: Wenn vorher 1485 als Geburtsdatum und 1576 als Todesdatum dastand, erschienen nun 1490 bzw. 1572. Schockierend! Der Wikipedia-Scanner, konzipiert für solche Erfordernisse, spürte die Herkunft der Veränderung auf. Es handelte es sich um eine IP-Adresse – das heißt eine Registrierung als Internet-Einzelnutzer – im Sitz der Konservativen Partei im Südwesten Londons. Ein Sprecher der Labour Party erklärte daraufhin öffentlich, ein Mitglied des Büros habe sich zu einer übereifrigen Tat hinreißen lassen. Also gut – aber wann ist -Tizian nun gestorben? Tatsächlich gibt es hierzu keine einheitliche Meinung: Man hatte allgemein angenommen, etwa 1577; jetzt glaubt man, nach 1580. Das New Yorker Metropolitan Museum entschied sich für 1576. Genauso wie dies Wikipedia vor der eigennützigen Änderung angeführt hatte.
Es fällt schwer, von Wikipedia zu sprechen, ohne sich der Feigheit des Beispiels zu bedienen – wie Pessoa es nannte. Während der letzten Jahre haben wir von ähnlichen Episoden gehört. Niemand scheint sich freilich zu fragen, welche Schlußfolgerung wir daraus ziehen müssen: Diese Enzyklopädie wird gleichermaßen verteidigt, angegriffen und ignoriert. Offensichtlich aber ist, daß der unbekannte konservative Apparatschik sie in der Annahme veränderte, die Briten würden sie konsultieren, um festzustellen, wer bei dem Streit über das Todesdatum Tizians recht hatte – der Premierminister oder der Oppositionsführer.
Seit ihrer Entstehung im Januar 2001 ist Wikipedia schwindelerregend schnell gewachsen, bis sie zehn Jahre später einen Umfang von 19 Millionen Artikeln in 270 unterschiedlichen Sprachversionen erreicht hat; ihre angelsächsische Ausgabe enthält mehr als 3,5 Millionen Einträge, und weitere 24 Ausgaben weisen jeweils mindestens hunderttausend auf. Die Seite für Michael Jackson wurde nach seinem Tod 30 Millionen Mal besucht. Obwohl Wikipedia nicht in allen Ländern denselben Stellenwert besitzt, hat sie bereits eine überragende Bedeutung als Informationsquelle und – Ruhm verpflichtet – Auslöser von Kontroversen erlangt. Ein derartiger Erfolg hat zu Nachahmungen geführt und ein ideologisches Gegenstück in Gang gesetzt – die Conservapedia –, das die progressive Ausrichtung Wikipedias bekämpfen sollte. Zudem hat er eine beträchtliche Panik bei den traditionellen Enzyklopädien hervorgerufen. Das ist nicht wenig.
Die Gründer und Kommentatoren von Wikipedia bekennen sich jedoch zu ehrgeizigeren Zielen. Jimmy Wales, ein Mitbegründer und der führende Manager der Enzyklopädie, erklärt: „Stellen wir uns eine Welt vor, in der jeder Mensch auf der Erde freien Zugang zur Summe allen menschlichen Wissens hat. Und das ist es, was wir tun.“? Wikipedia wäre also, zusammen mit Initiativen wie Google Books, die Vorhut eines technologischen Wandels, der einen Kulturwandel mit sich bringt. So begrüßte Robert Darnton in The New York Review of Books den freien Zugang zu einer wachsenden Zahl von Plattformen mit digitalisierten Artikeln: „Die Demokratisierung des Wissens scheint in Reichweite zu sein. Wir können das Ideal der Aufklärung verwirklichen: eine Digitale Bildungsrepublik.“? In dieser Sicht wäre das alte Problem des Informationszugangs ein für allemal gelöst; die Verbreitungsgeschwindigkeit von Information wird exponentiell zunehmen, die Menschheit wird somit ihr Bestes geben. Borges meets Asimov.
Als jedoch Jimmy Wales etwa 2001 vom ganzen menschlichen Wissen sprach, ahnte er vielleicht nicht, daß seine Worte im buchstäblichen Sinne gelten könnten: Wikipedia enthält die Biographien von 500 Personen aus Pokémon, dem beliebten aus Japan stammenden Videospiel. In der deutschen Ausgabe nimmt Franz Beckenbauer mehr Raum ein als Peter Sloterdijk. Und so weiter. Gleichzeitig wurde die Zuverlässigkeit ihrer Inhalte von mehreren Untersuchungen in Frage gestellt, so etwa in dem unterhaltsamen Buch La révolution Wikipédia. Stacy Schiff fragt sich im New Yorker: „Was läßt sich über eine Enzyklopädie sagen, die manchmal richtig ist, manchmal falsch und manchmal analphabetisch?“ Darüber läßt sich vieles sagen.
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