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Cover Lettre International 68, Ulay
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Inhaltsverzeichnis

LI 68, Frühjahr 2005

Bevor ich gehe...

Vom Wunder auf der Welt zu sein und vom Glück eines Künstlerlebens

Norman Manea: Beginnen wir mit dem Anfang. Ihre Kindheit – ist das ein verlorenes Paradies?

Saul Bellow: Sie war eins. Ich glaube schon, daß man das sagen kann. Ich selber denke zwar nie in solchen Begriffen davon, aber jetzt, wo Sie das sagen … ja, das paßt.

Die Erinnerung an diese Zeit ist bis heute lebendig und stimulierend für Sie?

Ja. Das ist etwas sehr Seltsames und etwas Außergewöhnliches. Ohne es zu merken, lebt man in dieser Welt.

Unter sprachlichem Gesichtspunkt betrachtet, diese Zeit in der Familie – wie war das? Ihre Eltern sind aus Rußland nach Kanada gekommen und hatten eine gute gesellschaftliche Stellung in Sankt Petersburg.

Sie sagten immer, sie hätten etwas dargestellt. Mit ihrer Ankunft in Kanada und später in Amerika, als arme Immigranten, war das vorbei; das verlieh der Vergangenheit Glanz. Es war sehr sonderbar. Meine Eltern sprachen untereinander Russisch. Mit den Kindern sprachen sie Jiddisch, und die Kinder mit ihnen auch. Gleichzeitig sprachen wir aber auch Englisch und Französisch, und da wir in einer franko-kanadischen Gegend lebten, sprachen wir Französisch auch auf der Straße. Mit vier Jahren wurde ich zum Hebräischlernen zu einem Rabbi geschickt, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Es war also ein richtiges Mischmasch aus Russisch, Französisch, Englisch, Jiddisch und Hebräisch.

War das sprachlich eine besondere Prägung?

Man gewöhnt sich an den Umgang mit vielen verschiedenen Sprachen. In Europa war das etwas Selbstverständliches, in den Vereinigten Staaten aber viel weniger. Da hatte jeder nur ein Ziel: Amerikaner werden, und das so schnell wie möglich, und Englisch sprechen. Wir sind alle mit einer Vielzahl gesprochener Sprachen aufgewachsen. Mein Vater hat sehr schnell Englisch gelernt. Meine Mutter konnte es nicht. Er war draußen in der Welt, verdiente unseren Lebensunterhalt, und sie war zu Hause und versorgte die Kinder. Wir lebten in einer jüdischen Enklave. Zuerst in Lachine, einem kleinen, aber sehr alten Dorf am Sankt-Lorenz-Strom. Danach in Montreal, was verwirrend genug war. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an den Tag des Waffenstillstands 1918. Ich, ein Dreijähriger, stand auf den Stufen unseres Hauses, und auf einmal fingen überall in den Fabriken und den Feuerwehren die Sirenen an zu heulen, und Leute schrien „Waffenstillstand!“ Ich wußte ja nichts über den Krieg. Sehr sonderbare Menschen in diesem Viertel, und die meisten sprachen Jiddisch.

Ähnelte es der Umgebung Ihrer Eltern in Rußland? Ich meine, das Jüdische. Oder war es in Kanada ganz anders? Diese speziell jüdische Mixtur, ein bißchen Ghetto, enger Raum und im Vergleich zu Rußland stark jüdisch geprägt.

Sie wohnten in ihren eigenen kleinen Vierteln, umgeben von Gojim [jiddisch für „Nichtjuden“]. Meine Eltern hatten in Sankt Petersburg gelebt, und darauf waren sie sehr stolz. Aber sie lebten da illegal, mit falschen Papieren und nur dank Bestechung, was wohl auch der Grund gewesen sein dürfte, warum sie so schnell das Land verlassen mußten. Sie waren erwischt worden. Sie konnten nur in Sankt Petersburg leben, wenn sie einer bestimmten Zunft angehörten. Man mußte zu einem der Berufsverbände gehören. Also hat man das natürlich gefälscht. Mein Vater war Importeur für Zwiebeln aus Ägypten.

Ein weiter Weg für Zwiebeln: von Ägypten bis Sankt Petersburg.

Das stimmt. Ägyptische Zwiebeln waren anscheinend eine Delikatesse, ich weiß es nicht. Ich hatte Onkel in Sankt Petersburg; einer von ihnen ist in seiner Jugend von zu Hause durchgebrannt, hat sich zu den Diamantenminen durchgeschlagen, kam mit sehr viel Geld aus Südafrika zurück und hat zwei seiner Schwestern verheiratet. Anscheinend ein sehr guter Junge, wenn man mal von dem Durchbrennen absieht. Ich habe hier in Boston einen Vetter, sein Vater war der Bruder meiner Mutter, die hatten Grundbesitz, Immobilien und führten eines der wenigen koscheren Restaurants, die es damals in Sankt Petersburg gab. Das war die ständige Rede in der Familie: In Petersburg, da war es so wunderbar gewesen. Aber das stimmte ja nicht.

Wie war Ihr Verhältnis zu Mutter und Vater?

Der Name meines Vaters war Abraham, der meiner Mutter Liza. Es war eine Schadchen-Ehe [jiddisch und hebräisch für „Kupplerehe“]. Sie sind 1913 hier eingewandert, und sie mußten Rußland verlassen, weil mein Vater seine Geschäfte mit gefälschten Papieren betrieben hatte. Es kam zu irgendeinem Prozeß. Mein Vater hat die Zeitungen alle aufgehoben, so geheimnisvoll mit dieser russischen Schrift, auf grünem Papier gedruckt. Er hatte sie immer in seinem Schreibtisch unter Verschluß. Für meine Mutter war das eine einmalige Zeit, sie war jung und frisch verheiratet, sie hatten viel Geld und wohnten in der Hauptstadt, gingen ins Cafe Chantant und so weiter. Sie war sehr glücklich dort. Dann kamen sie nach Kanada, und sie mußte alles von Hand waschen, in der Wanne, sie hatten ja damals keine Bediensteten bei sich zu Hause und auch kein Geld, welche zu bezahlen. Für eine gutaussehende junge Frau war das eine sehr schwierige Zeit. Natürlich erzählte meine Mutter ihren Kindern von ihrem Abstieg. Die Kinder waren ihre ganze Hoffnung; sie selber waren ja erwachsene Leute, konnten die Sprache des neuen Landes nicht mehr richtig erlernen. Ich habe mich oft gefragt, wie meine Mutter unter diesen Umständen gelebt hat, denn sie war wenige Blocks vom Haus entfernt ja schon verloren. Damals hatte jeder Drugstore auf seinem Ladenschild die Abbildung einer Reibschale mit Stößel, und wenn sie das aus der Straßenbahn sah, rief sie: „Wir sind da!“ – Nein, Mom, wir sind noch nicht zu Haus, das ist bloß ein anderer Drugstore. Und sie bekam ständig Briefe von zu Hause mit schlechten Nachrichten, daß Leute umkamen, vor allem während der Revolution, das war schlimm.

Ich habe eine Schwester. Wie man bei den Juden sagt: Sie war zu Hause die Prinzessin. Wir hatten nur wenig Geld für Kleidung, aber auf das kleine Budget, das da war, hatte sie als erste Zugriff. Wir trugen einer die Sachen des anderen auf. Sie wissen schon, man kann die Jacke anziehen, die der Bruder drei Jahre zuvor getragen hat, wenn man die Ärmel ein bißchen kürzt. Neue Kleidung bekamen wir nur sehr selten gekauft. Wenn Rosch Hashone [das Neujahrsfest] bevorstand, ging der Vater mit dir los und kaufte dir eine Hose oder so – eine saubere Hose, die du in der Shull [„Synagoge“] anhattest. So war das damals. Mein Vater arbeitete zu der Zeit in einer Bäckerei, auf einem Gebiet, für das er keinerlei Erfahrung mitbrachte. Aber einer seiner Vettern war der Besitzer der Bäckerei, die sich im polnischen Viertel von Chicago befand. Mein Vater arbeitete nachts und schlief tags, und wir mußten zu Hause ganz ruhig sein. Das ungefähr war die Lage.

Was war mit innerfamiliären Allianzen? In einer Familie bilden sich ja Verabredungen und Komplizenschaften. Jungs gab es mehrere, aber nur ein Mädchen; dazu Mutter und Vater. Wo lagen Ihre Bindungen?

Bei uns wurde eine Menge Liebesenergie verströmt; meine stärker amerikanisierten Brüder betrachteten diese innerfamiliäre Zuneigung als schlechten Einfluß, und sie wollten sie unbedingt sofort loswerden, weil sie sie dem Willen unseres Vaters unterwarf. Wir anderen genossen die Liebe und die Güte. Aber es gab auch so etwas wie eine innerfamiliäre Gegenkampagne. Für mich wurde das Teil des Prozesses der Amerikanisierung. Und das dauerte ziemlich lange. Ich war schon in den Vierzigern, als mein Vater starb, und als ich auf dem Begräbnis weinte, sagte mein älterer Bruder: „Führ dich nicht auf wie ein Immigrant“, weil auch Geschäftsfreunde von ihm da waren und er sich dieser offen gezeigten Gefühle schämte.

Sie haben sich das erhalten, es ist Ihr Material, aus dem Sie beim Schreiben schöpfen.

Das stimmt.

Was ist mit Büchern und Literatur? Wann spürten Sie, daß Sie die Ausnahme darstellen?

Mein Vater war ein Leser. Die jiddischen Zeitungen damals müssen sehr gut gewesen sein, sehr hilfreich für die jüdischen Einwanderer, die dort Dinge erklärt bekamen und mit der Geschichte oder dem Land Vereinigte Staaten vertraut gemacht wurden. Mein Vater hat mich von Zeit zu Zeit damit überrascht, daß er mir Fragen zur Gründung der Kolonien stellte, und dann kam immer heraus, daß er in den jiddischen Zeitungen darüber gelesen hatte. Forwerts [jiddisch für „Vorwärts“; die wichtigste amerikanische Tageszeitung auf Jiddisch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts] war ein starker, ein förderlicher Einfluß. Die jiddische Presse nahm diesen europäischen Juden gegenüber eine Bildungsaufgabe wahr und führte sie an die Verfassung heran, vermittelte Wissen über das gesellschaftliche Gefüge des Landes. Die Zeitungen waren voller interessanter historischer Begebenheiten; so lernten die Einwanderer eine ganze Menge.

Wie war es, als Ihre Familie spürte oder sogar entdeckte, daß Sie selber nicht bloß ebenfalls lasen, sondern vielleicht sogar einen Schritt weiter waren; daß Sie schreiben wollten oder bereits etwas geschrieben hatten. Jüdische Familien befürchteten immer, daß der Sohn ein „Luftmensch“ werden könnte. Wie war die Reaktion bei Ihnen zu Hause?

Meine Mutter erkrankte, sehr bald nachdem wir aus Kanada gekommen waren. Sie hatte Krebs. Sie bekam eine Brust abgenommen, und sie ist dann an Krebs gestorben. Das war die eigentliche Familientragödie. Mein Vater war verzweifelt; er hatte keine Zeit, die Kinder selbst großzuziehen, und hätte sowieso nicht gewußt, wie man das macht. Nach einigen Jahren in Chicago stellten wir also fest, daß wir eine sterbenskranke Mutter hatten. Aber sie war ja unsere unverzichtbare emotionale Stütze. Meine Familie war sehr mißtrauisch gegenüber den Leuten, mit denen ich außerhalb Kontakt hatte. Sie hielten sie für verrückt. Das waren sie ja auch, aber es waren verrückte High-School-Intellektuelle; so was gab es zu der Zeit: Kinder, die sich nicht bloß für Literatur interessierten, sondern auch für Politik, aber nicht bloß für Politik als solche, sondern für linke Politik. Meine Familie hat das beunruhigt, und sie hielten meine Schulfreunde für misshuggas [jiddisch für „Verrückte“]. Manche davon waren das auch, einige aber wurden später ziemlich wichtige Leute in der Stadt und in der Presse. Meine Familie fürchtete, dies alles seien Einflüsse, die mich ihnen entfremdeten. Meine Mutter war strenggläubig, mein Vater allerdings nicht. Mein Vater hatte schon als Jeshiva Bucher [jiddisch für „junger Talmudschüler“] eine Abneigung gegen das orthodoxe Judentum gefaßt, und später in Sankt Petersburg, war es einfach hinderlich, all die religiösen Bräuche zu befolgen. Er hat sich nicht komplett davon abgekehrt, hat sie aber auch seinen Kindern nicht ans Herz gelegt. Außerdem gab es da noch den Überlebenskampf, den sie zu bestehen hatten und der sehr schwer für sie war, und sie vertraten die Auffassung, die Kinder sollten so bald wie möglich selber Geld verdienen und nach Hause bringen, um der Familie zu helfen. Meine Schwester wurde in dieser Beziehung ausgenutzt, denn sie ging nur zur High-School und hörte dann auf. Meine Eltern konnten es sich nicht leisten, sie weiter zur Schule zu schicken, als sie schon selbst Geld verdienen und zum Familieneinkommen beitragen konnte. So wurde meine Schwester schon in frühem Alter eine der Ernährerinnen der Familie. Sie war Stenographin. Arbeitete in Büros. Meine Brüder waren ziemlich umtriebig. Sie verkauften Zeitungen auf der Straße, versuchten in den städtischen Verkehrsmitteln Schokolade an den Mann zu bringen, verkauften Zeitschriften; bis sie Jobs fanden, und das waren damals schlechtbezahlte Jobs. Ich weiß, mein Bruder Sam wollte Medizin studieren, aber es war vollkommen ausgeschlossen, daß wir uns das leisten konnten. Mein ältester Bruder studierte an einer billigen law-school in downtown Chicago und wurde schließlich auch Anwalt, aber es hat ihm nicht viel genützt, und abgesehen davon war er ja auch Geschäftsmann und ein Angeber. Er war insgesamt ein vielschichtiger, pittoresker Mensch. Er brachte mir die Schürzenjägerei, das Trinken, wilde Partys nahe. Ich fand daran keinen besonderen Gefallen. Meine Freunde, das waren meist die High-School-Intellektuellen, aber es war faszinierend zu sehen, wie vielgestaltig das Leben sein konnte. Ich hing an der Familie. Ich habe die instinktive Neigung, mich an Liebe und die Familie zu halten; meinen Brüdern ging diese Neigung jedoch ab. Da ich sie aber  respektierte, ließ ich mich von ihnen leiten. So wurde ich dem Einfluß der Familie schon früh entzogen, vor allem durch meinen ältesten Bruder, der bei uns der Vorreiter in Sachen Amerikanisierung war. Wir waren gerade mal zwei, drei Jahre da, da zog er sich schon schick an, kleidete sich auffällig, grelle Hemden und so weiter. Und hatte für den koshrut [jüdische Koscherregeln] und die Riten nur Verachtung übrig. Er war das feindselige, das antireligiöse Element in der Familie.

Wie ist Ihr Vater damit zurechtgekommen?

Mein Vater, der kaum Englisch konnte, der Geschäftsmann war, brauchte seine der Sprache mächtigen Söhne in der Firma, und das fing mit meinen Brüdern an, mit denen er oft Streit hatte, denn er war ungekhapteh [jiddisch für „aufbrausend“], voller Leidenschaften, zankte sich mit allen. Er war ein sehr draufgängerischer Mann, beneidenswert, wie ich finde, denn er war körperlich nicht besonders groß oder kräftig. Er war einfach bereit, sich jedem Kampf zu stellen. Mein zweitältester Bruder war ein sanftmütiger Mensch, klug und besonnen. Der Älteste, das war der Agitator, der sich schnell an die amerikanischen Verhältnisse anpaßte. Er kämpfte fast instinktiv gegen die orthodoxen Einflüsse an und zog uns mit sich mit, so gut er es vermochte. Nicht meinen Bruder Sam, der dann auf Abstand ging, aber mich. Ich war sehr glücklich darüber, wie ein Amerikaner zu sein; das zeigte sich damals an der Art und Weise, wie man sich kleidete, wie man sprach, wie man sich selbst sah, was man las und wie man sich die eigene Zukunft vorstellte, den Berufsweg. Was die Familie betraf, kam natürlich nur eine Zukunft und eine Laufbahn in Frage, und das war das Geschäftsleben, und man galt als aus unangenehm weichem Holz geschnitzt, wenn man das nicht anstrebte – man war kein Mensch, würde es nie zu etwas bringen. In meiner Familie glaubten alle, ich hätte keinen inneren Kern und wüßte nicht, wohin ich will und was ich tue, und in bestimmter Hinsicht hatten sie sogar recht. Und ich wußte es ja wirklich nicht.

Haben Sie es mal mit dem Geschäftsleben versucht?

Mein Vater betrieb verschiedene Geschäfte, immer sehr sonderbare Unternehmen. Beispielsweise verkaufte er an die jüdischen Bäckereien von Chicago Holz als Heizmaterial. Er hatte selber in einer Bäckerei gearbeitet und kannte dadurch alle jüdischen Bäcker in Chicago. Natürlich kauften sie lieber von ihm. Aber das machte es erforderlich, die Sägewerke in Michigan und Wisconsin abzuklappern, deren Holzabfälle aufzukaufen, den Ausschuß, und den nach Chicago zu transportieren und bei den Bäckereien abzusetzen. Das heißt, es gab Güterwagenlieferungen, und ich befand mich, ehe ich mich versah, im Bahnhofsviertel der Stadt, in dessen Nähe sonst nur wenige Kinder meiner Herkunft gelangten. Wir kannten alle jüdischen Bäckereien in Chicago. Das war für mich ein großes Privileg. Wir betraten einen Laden von der Rückseite, durch die Backstube. Als dann die Gasöfen in Bäckereibetrieben Einzug hielten, verlegte sich mein Vater auf Kohlenhandel. Das war wieder eine für einen Juden untypische Branche; es gab nur wenige Juden, die Kohlenplätze unterhielten, und das bedeutete, daß ich an den Wochenenden auf dem Hof stand und die Waage bediente. Wenn ein Lastwagen kam, war er leer. Man ermittelte sein Gewicht. Dann kam er beladen wieder raus, man wog noch einmal und schrieb dann eine Rechnung für die gekauften Kohlen. In diesen Jahren, während der Weltwirtschaftskrise, fuhren die Kohlenwagen durch die Straßen und verkauften Kohlen tütenweise an die Haushalte zum Kochen und zum Heizen. Und das führte mich so tief in die Slums hinein, wie ich es so bisher nicht kennengelernt hatte. Die Leute da waren knallhart, und Kämpfe, auch mit Waffen, waren an der Tagesordnung; die Gewerkschaften waren ebenfalls vertreten. Es war an sich und alles in allem ein rauhes Leben, und allein hätte das mein Vater nicht geschafft. Seine Söhne waren ihm von großem Nutzen, denn sie bestellten und kauften die Kohlen, kümmerten sich um die Bezahlung der Rechnungen, verkauften wieder und so weiter, sie organisierten die Lieferungen, suchten neue Abnehmer. Mein Vater betätigte sich auf einem Geschäftsfeld, an das er in seinen kühnsten Träumen nicht gedacht hatte, und daß er dort bestehen konnte, verdankte er auch seinen Söhnen. Die beiden älteren Söhne brachten es so zu großem Wohlstand, und ich selbst war natürlich auch eingespannt, aber das endete schon bald.

Was heißt das: „schon bald“?

Nun ja, zu der Zeit ging ich bereits aufs College und entfernte mich innerlich allmählich davon. Freilich konnte ich dadurch meine College-Ausbildung finanzieren, deshalb bediente ich die Waage. Es war ein Viertel, halb Slum, halb Industriegebiet, da gab es überall Leichtindustrie, Geflügelmärkte, Großhandel, da kamen Eisenbahner hin. Da habe ich im Grunde mehr gelernt als an der Universität.

Sie haben bereits am College gespürt, daß Sie einen anderen Weg einschlagen werden?

Ja. Am College tat ich so, als sei mein beruflicher Weg der eines Schriftstellers, und das leitete mich. Ich wollte nicht Lehrer werden oder eine andere Akademikerlaufbahn einschlagen, sondern Schriftsteller werden. Meine Familie schenkte meinem Schreiben natürlich kaum Beachtung und führte es auf jugendliche Torheit zurück, und das war es ja vielleicht auch.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.