LI 143, Winter 2023
Europa
Der Mythos als MetapherElementardaten
Genre: Kulturgeschichte, Philosophischer Essay
Übersetzung: Aus dem Französischen von Dieter Hornig
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Textauszug
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Mythen sind nicht nur Spiegel, sondern auch Spiegelgalerien. Treten wir in sie ein, werden sie zu Denksystemen, die sich zur Außenwelt hin verzweigen, und zu unterirdisch lokalisierten Erhellungen, die im Unbewußten wurzeln. Wir schaffen sie, um uns vom Traum in den Wachzustand und von der Empfindung in die Erfahrung bewegen zu können, und würden wir beschließen, sie aufzugeben, stünden wir, im vollen Sinn des Wortes, ohne Erkenntnis da.
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Die pluralen Lesarten, die für bestimmte Mythen vorgeschlagen wurden, sind das Kriterium, auf dessen Grundlage man den Völkern Europas eine ebenso intuitive wie wandelbare Persona, eine gemeinsame Quelle und eine gemeinsame Sprache verlieh. Durch seine Transformationen, Übersetzungen und Migrationen bietet jeder Mythos verschiedenen Gesellschaften eine assoziative Rolle, die sich durch Zeit und Raum zieht. Ein Mythos mit alten Wurzeln kann sich in der Gegenwart entfalten, wenn etwas in seinem Wesen das Individuum oder die Gesellschaft anspricht, das oder die sich dann entschließt, mit ihm in einen Dialog zu treten.
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Der Fall der europäischen Identität ist ein besonderer. Europa ist ein instabiles Konzept, eine geographische, demographische und politische Konfiguration, deren Bestandteile ständig mutieren. Das Europa des kaiserlichen Roms war nicht das Europa Dantes; das Europa von Erasmus und Descartes war nicht das Europa von Goethe. Glaubt man Voltaire, so soll Ludwig XIV., als sein Enkel den spanischen Thron bestieg, in dem Bewußtsein, daß die Geographie ein imaginäres Konstrukt ist, ausgerufen haben: „Es gibt keine Pyrenäen mehr!“ Heutzutage wird die europäische Identität durch mindestens zwei Fragen auf die Probe gestellt: Ist die Türkei als ein europäischer Staat zu betrachten, und sollte man Großbritannien erlauben, diese Identität abzulegen?
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„Jeder europäische Schriftsteller ist ‘Sklave seiner Taufe’ …“, sagte Julio Cortázar und paraphrasierte damit Rimbaud, „ob er will oder nicht, mit seiner Entscheidung zu schreiben nimmt er eine ungeheure und geradezu entsetzliche Tradition auf sich; mag er sie akzeptieren oder gegen sie kämpfen, diese Tradition lebt in ihm, sie ist seine Vertraute oder sein Inkubus.“
Heute steht diese Tradition dem Mythos Europa in einem kulturellen Kontext gegenüber, der eine Reihe von Fakten anerkannt (aber sicherlich nicht beseitigt) hat, wie die von den Kolonialherren im Lichte des Postkolonialismus zu begleichende Schuld, das Wissen um den Einsatz von Vergewaltigung als Kriegswaffe und die weitreichende Frage der Flüchtlinge und der Wirtschaftsmigranten. Speziell der Status Europas als Identität wird durch neue Wahrnehmungen ständig in Frage gestellt. Und doch ist sie in gewisser Weise größtenteils bewahrt worden. Bereits 1871 warnte der portugiesische Dichter Antero de Quental vor einer sklavischen Unterwerfung unter die Tradition aus dem Wunsch heraus, Teil dessen zu werden, was er das „gebildete Europa“ nannte: „Respektieren wir das Andenken unserer Vorfahren und rufen wir uns andächtig ihre Taten in Erinnerung, aber ahmen wir sie nicht nach. Seien wir im Licht des 19. Jahrhunderts keine Gespenster, die aus einem Leben hervorgegangen sind, das dem 16. Jahrhundert entlehnt wurde. Setzen wir diesem sterblichen Geist offen den Geist von heute entgegen.“
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Eine Frage drängt sich auf: Was ist vor dem Hintergrund des antiken Mythos von Europa und ihrem verliebten Stier dieser „Geist von heute“? Wo stehen wir heute, im 21. Jahrhundert, mit unserer Lektüre des Mythos und seiner Verwendung als Metapher? Umberto Eco vertrat bekanntlich die Ansicht, daß die Sprache Europas die Übersetzung sei. Aber die Übersetzung von was und in welche Sprache?
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