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Cover Lettre International, Magali Lambert
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LI 123, Winter 2018

Die Erfindung der Musik

Der Kosmos aus Tönen und Klängen und die Kunst des Komponierens

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MUSIKALISCHER SINN

Musik besteht aus Schwingungen, die uns unsererseits in Schwingung versetzen, indem sie in unserem Gedächtnis Spuren des Vorübergehens unserer eigenen Zeit hinterlassen. Diese Schwingungen wirken auf unsere Sinne ein wie keine andere Kunst es vermöchte. Üblicherweise verbinden wir mit dem Hören von Musik Affekte und Gefühle. Nun sind diese aber oft Teil subjektiver, für jeden einzelnen ganz persönlicher Register. Es fällt mir also schwer, zu sagen, was dieses oder jenes musikalische Werk ausdrückt. Andererseits weiß ich, daß das von ihm Transportierte auf keinem anderen Wege transportiert werden kann, weder mittels bildender Kunst noch mittels Film, Video, Tanz, Mathematik, Philosophie, Dichtung, Roman, Theater oder Wissenschaft. Die vielfältigen Schwingungen der Musik stellen nur einen winzigen Teil all jener Schwingungen dar, die wir aus der Welt des Klangs empfangen; mag dieser Teil aber auch noch so klein sein, er ist insofern bemerkenswert, als er organisierte Formen bildet, die sich vom Chaos abheben und schließlich einen Sinn erhalten. Dieser Sinn, dieser musikalische Sinn, den ich zu definieren versuchen möchte, ist nicht unbedingt ein semantischer oder logischer Sinn, wie bei der verbalen Sprache, sondern stellt eine besondere Kontextur dar, die unser ganzes sinnliches und geistiges Sein anregt.

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Wo beginnt die Musik und wo endet sie? Das sind objektiv unlösbare Fragen, die gleichwohl seit Jahrhunderten in den Köpfen herumgeistern. Sobald in unserem Gehirn zwischen zwei Klängen – und seien es „Geräusche“ – eine besondere Beziehung hergestellt wird, stehen wir vielleicht schon an der Schwelle zur Musik. Im Jahre 1844 gab Hector Berlioz bereits eine Antwort auf diese Fragen, indem er mit prophetischer Weitsicht schrieb: „Jeder klangerzeugende Körper, welchen der Componist in Anwendung bringt, ist ein Musikinstrument.“ 4 Ich kann diesen Satz wie folgt paraphrasieren: „Komponieren heißt, dem Klanglichen einen Sinn einzuhauchen.“ Eine Zusammenstellung von Klängen, ja eine Abfolge zweier Klänge und im äußersten Falle sogar ein einzelner Klang kann von dem Moment an, da er mein Imaginationsvermögen anregt, einen Sinn annehmen. Diese klangliche Form, ich möchte das hier betonen, braucht keine Melodie zu sein, die mich heimsucht oder mir im Kopf herumgeht; sie kann viel weniger Profil aufweisen. Es kann sogar sein, daß sie nicht einmal der Welt der Musik angehört. Man erzählt, daß das Motiv des Englischhorns in Claude Debussys Nuages, der ersten der drei Nocturnes für Orchester (1897–1899), durch das Quietschen eines Rades angeregt wurde, das der Komponist auf der Straße vernommen hatte. Welche Gründe haben Debussy dazu gebracht, dieses Geräusch in ein melancholisches musikalisches Motiv zu verwandeln? Niemand weiß es, niemand wird es je wissen.

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VOM KLANG ZUR SCHRIFT

Bestimmte Kulturen, wie diejenigen Indiens, Afrikas oder Indonesiens, haben eine Meisterschaft in bezug auf die musikalische Zeit, den Rhythmus entwickelt, die das, was wir im Abendland vermochten, an Finesse und Komplexität bei weitem übertraf. Der wichtigste Beitrag des Abendlands zur Musik besteht hingegen in der Erfindung einer äußerst ausgefeilten (Noten-)Schrift. Die meisten der aus der abendländischen Tradition vom Mittelalter bis zur Gegenwart bekannten Formen konnten nur dank dieser Notenschrift existieren. Wie jede Form von Schrift ist die musikalische Schrift symbolischer Natur. Sie repräsentiert den Klang nicht in seiner Totalität, sondern nur bestimmte seiner Komponenten, vor allem diejenigen, die der Komponist handhaben und mittels derer der Interpret agieren wird: In der abendländischen Tradition sind das im wesentlichen die Tonhöhe, die Dauer und die Dynamik. Der Klang aber ist, wie wir gesehen haben, etwas viel Komplexeres, Mehrdimensionales, und wenn man all seine Aspekte repräsentieren sollte, würde man schnell bei jenem Paradox landen, das Jorge Luis Borges in einer seiner kurzen Parabeln schilderte, die den Titel Von der Strenge der Wissenschaft trägt: Im Idealfall müßte eine Landkarte dieselben Maße besitzen wie das Gebiet, das sie, wie man allgemein annimmt, darstellt; dann wäre sie jedoch nicht mehr als Karte verwendbar.8 Bedenkt man diese Art von Paradox im Hinblick auf die Musik, läßt sich Folgendes sagen: Je näher die Repräsentationssysteme der physikalischen Realität der Klänge kommen, desto geringer werden unsere Chancen, diese Klänge zu handhaben – anders ausgedrückt: zu komponieren. Komponieren wurde just ab dem Moment möglich, als ein relativ einfaches System symbolischer Repräsentation implementiert wurde. Wenn dieses Schriftsystem den Klang in seiner ganzen physikalischen Komplexität repräsentiert hätte, wäre es unmöglich gewesen, jene beeindruckenden formalen Konstruktionen hervorzubringen, die im Laufe der Jahrhunderte in großer Zahl entstanden. Polyphonie, Harmonie, Transpositionen, Umkehrungen, Rückläufe, Augmentationen und Diminutionen oder all die anderen Entwicklungen hätten ohne visuellen Träger niemals realisiert werden können. Es mag jemandem, der mit dieser Kompositionspraxis nicht vertraut ist, seltsam erscheinen, doch die Schrift ist der zentrale Gegenstand der musikalischen Erfindung, ihrer Speicherung, Übermittlung, Entwicklung sowie ihrer Erneuerung. Der Akt selbst des Komponierens setzt eine mentale Repräsentation des Geschriebenen voraus. Wenn Sie mich in dieser Hinsicht fragen, auf welche Weise mir beim Komponieren eine musikalische Idee in den Sinn kommt, werde ich Ihnen antworten, daß dies sehr oft in Form ihrer graphischen Notation geschieht. Der Klang und seine Repräsentation sind sozusagen unzertrennlich geworden; häufig entnehme ich der Repräsentation der Ausgangsidee die Prinzipien, die mir gestatten, sie weiterzuentwickeln und zu bereichern.
   Heute sehen sich immer mehr Komponisten, die sich elektronischer Klänge bedienen, mit einer neuen Situation konfrontiert, die darin besteht, daß für dieses musikalische Genre noch keine Schreibweise erfunden wurde. In dieser Hinsicht müssen wir feststellen, daß wir uns kaum auf der Höhe der Babylonier befinden, als diese 4 000 Jahre vor unserer Zeitrechnung das erste Schriftsystem auf Tontafeln erfanden, die sogenannte „Keilschrift“. Die Komplexität des Phänomens Klang, die durch die computergestützte Analyse erwiesen wurde, legt dem Willen zur symbolischen Vereinfachung jedoch Zügel an. Nichtsdestotrotz wäre zu wünschen, daß die Suche nach einer symbolischen Schrift für die elektronische Musik in den kommenden Jahren zu einer der fruchtbarsten Baustellen des musikalischen Schaffens wird. Aber ist so etwas überhaupt möglich? Nachdem wir die Frage gestellt haben, wollen wir versuchen, sie zu beantworten. Um diese dialektische Sichtweise des Klanglichen und seiner Repräsentation in der musikalischen Erfindung zu vervollständigen, muß ich einen Augenblick lang bei einem Aspekt verweilen, der im Zentrum all dessen steht: die Mündlichkeit.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.