LI 35, Winter 1996
Der Holocaust
Zur Einzigartigkeit eines historischen GeschehensElementardaten
Genre: Historische Betrachtung
Übersetzung: Aus dem Englischen von Meino Büning
Textauszug
War der Holocaust historisch einzigartig? Die Frage läßt sich banalisieren. Einzigartig ist jedes Ereignis in dem Sinne, daß es mit keinem anderen Ereignis identisch ist. Dennoch ist weder die Frage banal noch die daraus herrührende Diskussion. Die Frage lautet, ob der Holocaust ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal besitzt, das ihn einzigartig macht. Wir glauben, daß die Antwort "ja" lautet. Wir glauben auch, daß viele an der Diskussion Beteiligte die Besonderheit des Holocaust in der menschlichen Erfahrung nicht wahrgenommen haben. Dies ist der Kern unserer Argumentation. Einzigartig kann mehrere Bedeutungen haben: unter anderem kann es unvergleichbar bedeuten oder auch beispiellos. Wer den Holocaust für unvergleichbar hält, geht davon aus, daß er sich weder mit vergangenen noch mit zukünftigen Ereignissen vergleichen läßt. Aus dieser Sichtweise, in der der Holocaust immer einzigartig sein wird, entwickelte sich eine Mystifizierung des Holocaust, eine Umwandlung des Holocaust zum Brennpunkt einer neuen weltlichen Religion. Einem jüdischen Bewußtsein auf der Suche nach einer metaphysischen Geschichtsinterpretation, einem nicht nur in der empirischen Geschichte verankerten Identitätsgefühl, dient der Holocaust als neues Unaussprechliches. Er ersetzt Gottes Entscheidung für sein auserwähltes Volk durch ein anderes überirdisches Phänomen in der Geschichte. Die Betrachtung des Holocaust als einzigartig aufgrund seiner Beispiellosigkeit hat dagegen eine andere Reaktion ausgelöst: Sie konzentriert sich auf den Vergleich der Brutalität an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten. Manche Deutsche sehen den Holocaust als eine statistische Abweichung in der graphischen Darstellung menschlicher Grausamkeit gewiß extrem, aber nicht beispiellos. Auch wenn man die Einzigartigkeit des Holocaust als Beispiellosigkeit interpretiert, könnten in der Zukunft doch neue Brutalitäten den Holocaust lediglich zum ersten Beispiel einer neuen Form des Sozialverhaltens zurückstufen. Wir widersprechen beiden Ansichten: einer Holocaust-zentrierten säkularen Theologie ebenso wie der Normalisierung, die aus einer vergleichenden Statistik der Grausamkeiten folgt. In diesem Essay werden wir die Einzigartigkeit des Holocaust als menschliche Erfahrung zu verstehen suchen, eine Einzigartigkeit, die sich theologischer oder statistischer Einordnung entzieht. Beide Interpretationen als unvergleichbar und als beispiellos konzentrieren sich auf das Ausmaß der Greueltaten und nicht auf die besondere Qualität der Erfahrung. Das Einzigartige am Holocaust ist seine besondere Vermischung von kollektiver Erniedrigung und Massenvernichtung. Bei der Liquidierung großer Menschengruppen herrscht eine Spannung zwischen Erniedrigung und Tod. Die Täter wollen entweder das eine oder das andere. Stalin wollte den Klassenfeind vernichten, Maos Kulturrevolution strebte seine Demütigung an. Aus ideologischen Gründen wollten die Nazis sowohl die Erniedrigung als auch den Tod des Rassenfeindes. Da die Nazis in ihrer besonderen Rassenvorstellung die Menschlichkeit ihres Feindes in Frage stellten, entwickelten sie zu seiner Vernichtung eine einzigartige Verbindung von Erniedrigung und Tod. Das Interesse am Holocaust ist in den letzten fünfzig Jahren stark angewachsen. Verschiedene Gruppen zeigten sich jedoch aus verschiedenen Gründen stärker am Holocaust interessiert. Juden setzten sich mit dem Holocaust auseinander, um mit ihrem Trauma fertig zu werden, in der zweifelhaften Hoffnung vielleicht, sie könnten zur Verhinderung künftiger Greueltaten beitragen, wenn sie die Erinnerung an den Holocaust wachhielten. Deutsche diskutierten über den Holocaust, um ihr Verhältnis zur Vergangenheit in Ordnung zu bringen. Anderen wiederum diente der Holocaust in erster Linie als Symbol für einen Grenzfall der conditio humana. Diese Erklärungen für das zunehmende Interesse am Holocaust haben ihren Ursprung in der Zeit nach 1945. Zwei Merkmale waren dabei von herausragender Bedeutung. Erstens galt 1945 der Holocaust im Vergleich zum Krieg selbst als vergleichsweise marginal. Die Verlagerung des Interesses vom Krieg auf den Holocaust scheint erst später eingetreten zu sein. Zweitens hat es seit dem Zweiten Weltkrieg viele Greueltaten gegeben, von denen aber keine die gleiche Betroffenheit auslöste. Obwohl sich die Bedeutung des Holocaust offensichtlich nicht nur aus seiner Wahrnehmung erklären läßt, gingen doch viele Analysen bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Holocaust von den Greueln der Nachkriegszeit aus. Wegen der starken Reaktion auf den Holocaust hoben manche diese Reaktion als einen wesentlichen Bestandteil seiner Einzigartigkeit hervor. Zur Zeit Jesu wurden auch viele andere gekreuzigt, aber die Reaktion auf seine Kreuzigung war definitiv einzigartig, ungeachtet der Frage, ob die Kreuzigung selbst einzigartig war. Tatsächlich erschien 1945 der Holocaust vielen Menschen als ein sehr trauriges, aber zweitrangiges Ereignis. In Nürnberg war der Holocaust nur ein Thema unter anderen. Die Anklage plante die Nürnberger Prozesse als Forum für eine Verurteilung der Deutschen, weil sie den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen hatten; erst im Verlauf der Prozesse begann das ungeheuerliche Ausmaß des Holocaust das Bewußtsein der im Gerichtssaal Anwesenden zu erschüttern. Den meisten Leuten erschien damals als größte Sünde der Deutschen, daß sie den Zweiten Weltkrieg begonnen hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten selbst viele Nichtdeutsche die deutsche Position geteilt, daß die Alliierten am Krieg ebenso viel Schuld trügen wie die Deutschen. Die Appeasement-Politik der dreißiger Jahre ließ sich zum Teil aus der bei den Alliierten weitverbreiteten Vorstellung erklären, Deutschland sei in Versailles ungerecht behandelt worden. Vielen Deutschen erschien jede ihrer im Zweiten Weltkrieg begangenen Ungerechtigkeiten lediglich als Ausgleich für die Ungerechtigkeit des Ersten Weltkrieges. Viele Deutsche sollten später argumentieren, das zunehmende Interesse am Holocaust sei nichts als ein zusätzlicher Knüppel, um die Deutschen niederzuhalten. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die meisten Menschen diesen Knüppel gar nicht benutzen, da sie den Zweiten noch im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg interpretierten. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren, als das Gespenst des Ersten Weltkriegs aus der Erinnerung zu schwinden begann, wurde der Holocaust zu einem zentralen Ereignis des Zweiten Weltkriegs. Diese erste Rezeption des Holocaust hatte ihn fest auf der anderen Seite des historischen Abgrunds von 1945 verankert; seine Neubestimmung im Rahmen zeitgenössischer Greuel entfernte ihn aus seiner Zeit und versetzte ihn in die Nachkriegswelt. In unserem Jahrhundert wie in der gesamten Geschichte hat es viele andere Greuel gegeben. Bei einigen kamen mehr Menschen ums Leben (Stalins erzwungene Kollektivierung). Andere waren nicht weniger brutal (Pol Pots Kambodscha). Und einige erfüllen sogar die Kriterien des Genozids, des Mordes an einem Volk (den Armeniern). Mehr noch: einige waren auch fast so erfolgreich wie der deutsche Mord an den Juden (Timor). Die Frage nach der historischen Einzigartigkeit des Holocaust hat zwei Aspekte. Erstens: Warum gilt der Holocaust als die größte Greueltat der menschlichen Geschichte? Zweitens: Ist diese Zuweisung historischer Einzigartigkeit die Konsequenz einer Besonderheit des Holocaust selbst? Vielleicht ist nicht der Holocaust einzigartig, sondern die Reaktion auf ihn; vielleicht ist diese Reaktion einzigartig, weil der Holocaust einzigartig ist, und vielleicht sind sowohl der Holocaust als auch die Reaktion auf ihn jeweils einzigartig. Viele Historiker gehen von der Einzigartigkeit des Holocaust als historisches Ereignis aus. So hat der deutsche Historiker Eberhard Jäckel den Holocaust als "historischen Ausnahmefall" bezeichnet, womit er vermutlich meint, daß ãGesetze" in der Geschichte wie in der Gravitationstheorie in Ausnahmefällen keine Geltung besitzen. Dann könnten Historiker, sobald es um den Holocaust geht, nicht auf ihre normalen Erklärungen zurückgreifen. Diese Anomalie, für sich genommen, enthebt die Historiker noch nicht der Verpflichtung, eine Erklärung für den Holocaust zu liefern. Es bedeutet vielmehr, daß eine solche Erklärung keine normale Erklärung sein kann. Sie fordert vielleicht sogar ein höheres Niveau der Wissenschaftlichkeit. Es besteht ein Unterschied zwischen der Behauptung, Einzigartigkeit lasse sich nicht auf normalem Wege erklären, und der Forderung nach einer Erklärung für Einzigartigkeit. Im Zusammenhang mit der Einzigartigkeit des Holocaust wurde weiter die These aufgestellt, der Holocaust stelle eine beispiellose Anwendung der Technologie auf den Tod dar. Im Holocaust habe eine Industrialisierung des Tötens stattgefunden. Es gibt zwei Hauptgründe, warum diese Metapher des industriellen Tötens als Erklärung für die Einzigartigkeit des Holocaust nicht ausreicht. Zunächst lenkt die Metapher vom industriellen Töten die Aufmerksamkeit von den Motiven für diese Handlung ab. Wir glauben dagegen, daß die nazistische Industrialisierung des Tötens deutlich macht, daß sich die Tötungsmethode nicht von den Motiven trennen läßt. Werden die Motive ignoriert, dann ist die Industrialisierung des Tötens lediglich eine wirksame Methode. Zweitens legt diese Betonung des Tötungsverfahrens nahe, daß der Holocaust nur im Verhältnis zur Vergangenheit einzigartig ist, nicht dagegen in Beziehung auf künftige Ereignisse. Aus der Zukunft betrachtet könnte der Holocaust als ganz normal erscheinen, weil dies dann die übliche Methode geworden sein könnte, mit unerwünschten Bevölkerungsgruppen umzugehen. Die Industrialisierung ist ebensowenig einzigartig wie die Anwendung industrieller Methoden auf den Vorgang des Tötens (Vieh). Höchstens die Anwendung des industriellen Tötens auf Menschen wäre vielleicht einzigartig. Aber schließlich beharrten die Deutschen darauf, die Juden seien gar keine menschlichen Wesen. Man hat vorgebracht, die Deutschen hätten nicht wirklich an ihre Ideologie geglaubt; im Grunde sei ihnen ihr Unrecht klar gewesen, und die Ideologie habe lediglich das Feigenblatt für Taten geliefert, die sie ohnehin hätten begehen wollen. Sicherlich zeigt eine flüchtige Auseinandersetzung mit den Biographien von Deutschen, die in Vernichtungslagern arbeiteten, daß viele von ihnen keine entschiedenen Antisemiten waren und daß die Motive für ihre freiwillige Meldung zu dieser Art Dienst manchmal so banal waren wie der Wunsch, nicht an die Front geschickt zu werden. Manche meldeten sich freiwillig zu einer Mordmaschinerie, um größerer Lebensgefahr zu entgehen. Andererseits erklärt dies weder die Begeisterung, mit der die Einsatzgruppen ihre Arbeit erledigten, noch die außergewöhnlichen Anstrengungen, mit denen überall deportierte Juden in die Vernichtungslager gebracht wurden, manchmal noch wenige Stunden vor dem Rückzug. Warum töteten sie die Juden mit solchem Eifer, wenn nicht aus ideologischer Überzeugung? Vielleicht sollte man diese Frage eher unter dem Aspekt untersuchen, was den Nazis als menschlich erschien, denn unter dem, was ihnen jüdisch bedeutete. Uns kommt es darauf an klarzulegen, daß die Nazis auch wenn sie nicht immer vollständig von der Rassentheorie überzeugt waren dennoch die menschliche Gemeinsamkeit der gesamten Mnnschheit leugneten. Man hat häufig, aber gar nicht häufig genug, hervorgehoben, daß die Nazis notwendig die Juden aus der Menschheit ausgrenzen mußten. Die Nazis versuchten buchstäblich die Juden aus der Menschheit auszugrenzen und nicht nur aus dem deutschen Volk. Die Nazis beharrten jedoch auch darauf, daß es gar keine menschliche Gattung gebe, d.h. daß die Menschheit keine Gattung sei. Die Nazis betrachteten die Juden unter den Voraussetzungen zweier verschiedener Rassentheorien. Die eine Form des Rassismus behauptet, bestimmte Varietäten (Rassen) seien minderwertig gegenüber anderen Rassen der gleichen Art. Diese Form des Rassismus leugnet nicht die Vorstellung einer gemeinsamen Menschheit, da sie alle Rassen als Angehörige der gleichen Art betrachtet, aber sie hält eine Menschenrasse für überlegen und relativiert so die ethischen Verpflichtungen gegenüber den Mitmenschen. Die andere Form des Rassismus leugnet die Vorstellung, daß die Menschen einer gemeinsamen Art angehören. Ihr zufolge gibt es verschiedene Rassen, genauso wie es verschiedene Tierarten gibt. Diese Form des Rassismus sieht in den Juden nicht bloß eine minderwertige Rasse, sondern eine ganz andere Art, und deshalb müßten sie ebenso behandelt werden wie andere Tierarten. Die Nazi-Biologie vermischte diese beiden Arten des Rassismus zu einer besonders virulenten Form, denn die Nazis hatten aus der Evolutionstheorie die Lehre abgeleitet, daß es für Gattung und Art keine festen Grenzen gebe, daß Menschen sich durchaus zu etwas anderem entwickeln könnten. Diese Möglichkeit, anders als menschlich zu werden, ist jedoch ambivalent: man kann etwas Besseres werden oder etwas Schlechteres. Die Nazis betrachteten die Juden als das paradigmatische Beispiel einer degenerativen Evolution, einer Evolution, die schließlich zum Aussterben der Rasse führen würde. Im Laufe der Zeit bewegte sich die Nazi-Ideologie von der ersten Form des Rassismus, der Annahme minderwertiger Rassen, zur zweiten Form des Rassismus, der Ausgrenzung aus der Menschheit. Die SS wandte sich dagegen, Juden mit besonderer Grausamkeit zu behandeln, weil sie die Juden als eine todgeweihte Spezies betrachtete. Je weniger menschlich die Juden waren, desto weniger Sinn lag in ihrer Entwürdigung. Aber trotz dieses Wunsches nach sauberer Vernichtung zeigen alle Belege für deutsches Verhalten beim Prozeß der Vernichtung, daß die Deutschen sich nicht von dem üblichen Vorgehen lösen konnten, die Juden zu erniedrigen. Der Grund dafür ist elementar: Man kann Menschen nicht töten , ohne Menschen zu töten. Mit dem Töten von Menschen geht immer in irgendeiner Form auch die Entwürdigung einher. Wenn sich aus dem Holocaust überhaupt eine positive Lehre ziehen läßt, dann lautet sie, daß die Nazi-Ideologie sich selbst widerlegte. Indem sie ihre Opfer erniedrigten, erkannten die Täter deren Menschlichkeit an, und in gewisser Weise ist das letzten Endes ein bitterer Sieg der Opfer. Der Widerspruch in der Nazi-Doktrin zwischen dem Wunsch, die Juden aus der Menschheit auszugrenzen, und der nackten Leugnung der Existenz dieser Kategorie zwang die Nazis dazu, zwei verschiedenen ãLogiken" zu folgen. Wenn der Nazismus seine ãpositive" Doktrin der rassischen Überlegenheit der Arier proklamierte, tat er dies in Begriffen von Rasse und Nation und leugnete jede Vorstellung einer allgemeinen Menschheit. Aber wenn er zeitgenössische Ideologien wie den Marxismus kritisierte, bediente er sich deren allgemeiner Begriffe. Ein Geheimnis der Anziehungskraft des Nazismus lag in dieser Verknüpfung eines vorgetäuschten Aufklärungsuniversalismus mit einer rassischen Selbstüberhebung. In ihrer Anwendung auf die Juden bedienten sich die Nazis dieser Dichotomie des Allgemeinen und Besonderen auf perverse Art. Sie behaupteten nämlich, die Vorstellung einer einzigen menschlichen Rasse sei eine jüdische Erfindung, Bestandteil der tückischen und korrumpierenden jüdischen Kampagne für Gleichheit. Erst nachdem man der Welt die falsche Idee einer universalen Menschheit eingeimpft habe, sei der Irrweg möglich geworden, die Gleichheit auch auf die Juden auszudehnen. Für diese jüdische Erfindung eines universalen Menschengeschlechts sollten die Juden bestraft werden. Und sie sollten nach ihrer eigenen Logik bestraft werden. Die Ideologie der Aufklärung des jüdischen Universalismus wird in extrem negativer Weise auf die Juden selbst angewandt, indem man sie aus etwas ausgrenzte, dem sie glaubten anzugehören. Ein einzigartiger Aspekt des Holocaust ist dann die Anwendung universalistischer Kategorien auf die Vernichtung einer Rasse durch Täter, die universalistischen Kategorien keinerlei Bedeutung beimessen. Man kann argumentieren, ein solch negativer Universalismus besitze eine Parallele in der marxistisch-leninistischen Anwendung universalistischer Kategorien zur Ausgrenzung von Klassenfeinden. Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied: Die Marxisten-Leninisten betrachteten die Klasse nicht als natürliches, sondern als ein historisches Phänomen, das verschwinden wird. Für sie gibt es eine universale Klasse, das Proletariat, mit einer historisch fortschrittlichen Aufgabe, und im Prinzip können sich andere dieser Klasse anschließen. Im Gegensatz dazu betonte die Nazi-Ideologie die Besonderheit einer jeden Rasse wie auch die Allgegenwart der Rassen. Es gibt keine Individuen, die keiner Rasse angehören. Eine universale Rasse gibt es jedoch nicht. Selbst die Deutschen konstituieren keine universale Rasse: jede Rasse ist besonders. Geschichte ist für die Nazis immer Rassengeschichte; daher ist die Rolle der Juden in der Geschichte antihistorisch; sie bilden eine Bedrohung der Möglichkeit einer zukünftigen Rassengeschichte, weil sie eine illusorische universale Rasse proklamierten. Mit ihrer universalistischen Ideologie korrumpieren sie die überlegene Rasse. Diese Erklärung für die Einzigartigkeit des Holocaust konzentriert sich eher auf die deutsche Einstellung zum Holocaust als auf den Prozeß der Vernichtung. Sie steht zu großen Teilen in Widerspruch zu dem deutschen Selbstverständnis nach dem Krieg, wonach die Vernichtungsmethode nicht normal war; die umstrittene deutsche Haltung der Apathie jedoch galt als ãnormal". Deutsche behaupteten, sie seien normale Menschen unter abnormen Bedingungen gewesen. Aber wenn ãnormale" Deutsche diese abnormen Bedingungen schufen, ob nun als Anstifter oder als begeisterte Mitläufer, dann müssen wir die hier verwendete Bedeutung von Normalität in Frage stellen. Die deutsche Gesellschaft war keine apathische Gesellschaft, die einem einschüchternden Terrorregime unterworfen war. Wir haben darüber gesprochen, warum die nazistische Theorie besonders war; außerdem wollen wir zeigen, daß auch die Art, wie diese Theorie in der Praxis funktionierte, Anzeichen dieser Anormalität aufwies. Hier wenden wir den Begriff der Erniedrigung an, wie ihn Avishai Margalit in The Decent Society entwickelt hat. In diesem Buch gilt als anständige Gesellschaft eine Gesellschaft, deren Institutionen nicht erniedrigen. Eine zivilisierte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, deren Angehörige weder einander noch die von ihnen Abhängigen erniedrigen. Die Nazi-Gesellschaft war offensichtlich weder eine anständige noch eine zivilisierte Gesellschaft. Die in diesem Buch definierte Empfindung der Erniedrigung ist ein sehr starkes Gefühl, nämlich das Gefühl der Ausstoßung aus der Gemeinschaft der Menschen. Menschen als Tiere, als Maschinen, als Zahlen, als Dämonen zu behandeln - das sind Mittel der Erniedrigung. Sie manifestieren sich weitgehend in symbolischen Gesten: in dem Zwang, einen gelben Stern zu tragen, in kahlgeschorenen Köpfen und in ihrer Reduktion auf Statistiken, wenn ihnen Zahlen auf die Arme tätowiert werden. Die symbolischen Gesten der Erniedrigung sind kulturabhängig, aber das Gefühl der Ausstoßung aus einer menschlichen Gemeinschaft ist universal. Sowohl der mit der Tötung einhergehenden Erniedrigung als auch jener Erniedrigung, die kurz vor der Eliminierung haltmacht, ist die Leugnung einer menschlichen Gemeinschaft gemeinsam; der Akt des Tötens, obwohl extremer, verschleiert jedoch die ihm innewohnende Erniedrigung, während die Erniedrigung ohne zu töten, indem sie ihre Opfer am Leben erhält, den Aspekt der Erniedrigung hervorhebt mittels des lebendigen Paradoxons, daß Angehörige einer menschlichen Gemeinschaft aus ihr ausgeschlossen sind. Es ist zu einem Klischee geworden, daß die Deutschen versucht hätten, die Juden vor ihrer Tötung zu entmenschlichen. Tatsächlich versuchten sie häufig die Juden zu dem Eingeständnis zu bewegen, sie hätten als menschenunähnliche Wesen den Tod verdient eine seltsame Analogie zu der Forderung der Inquisition, ihre Opfer sollten ihre Sünden bekennen, bevor sie den Scheiterhaufen bestiegen. Aber die Inquisition folterte ihre Opfer nicht, um sie zu erniedrigen. Im Gegenteil, die offizielle Ideologie der Inquisition lautete, sie wolle die Seelen der Verurteilten vor ihrem Tode retten. Das Motiv des erzwungenen Geständnisses war die Anerkennung der Menschlichkeit des Opfers durch den Folterer. Wenn die Nazis die Juden von ihrer eigenen Unmenschlichkeit zu überzeugen suchten, so wollten sie eher zusätzliche Beweise für die Wahrheit ihrer Behauptung von der jüdischen Unmenschlichkeit liefern als wie im christlichen Falle eine gemeinsame Menschlichkeit durch das Leid bekräftigen. Auf diese Weise versuchten sich die Deutschen vor sich selbst zu rechtfertigen, während die Inquisitoren danach strebten, daß ihre Opfer eine angebliche höhere Gerechtigkeit anerkannten. Der Nazi verfolgte die Juden ebenso wie der Inquisitor, aber die Bedeutung ihrer Verfolgung ist sehr unterschiedlich. Daß man stirbt, entwertet nicht die Frage, wie man stirbt; es ist wichtig, wie man stirbt. Wie man stirbt, ist nicht bloß eine Frage der Todesart, sondern auch der Verknüpfung der Haltungen von Tätern und Opfern. Erniedrigung verlangt die erzwungene Kollaboration zwischen Täter und Opfer. Das Opfer muß erkennen, daß sein Quäler ihn aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließt. Somit erfordert die ãnormale" Erniedrigung die andauernde Existenz eines Opfers als einer Person, die wahrzunehmen vermag, daß sie entwürdigt wird. Die Erniedrigung weist ein destruktives Element auf, aber es besteht eine Spannung zwischen Erniedrigung und Vernichtung, denn die Erniedrigung will nur einen Teil der erniedrigten Person vernichten, nicht aber sie selbst. Wenn das Opfer vernichtet wird, ist niemand mehr übrig, der sich selbst als erniedrigt wahrzunehmen vermag. Läßt man daher das Opfer der Erniedrigung am Leben, so bleiben die Möglichkeiten sadistischer Belustigung oder aber der Beendigung der Erniedrigung durch Buße oder Entschädigung. Die Vernichtung des erniedrigten Opfers schließt diese Möglichkeiten aus. Sie hebt die vorherige Erniedrigung des Opfers auf, aber nur durch die Auferlegung einer endgültigen Erniedrigung, die mit der Verhängung des Todes einhergeht. Aber das Motiv für die Tötung des Opfers liegt nicht in dem Bedürfnis, eine frühere Erniedrigung auszulöschen. Die Nazis versuchten sogar die Erniedrigung der Juden über ihre Vernichtung hinaus zu verlängern, indem sie Institutionen schufen, die eine Erinnerung an die Juden bewahren sollten. Aber der Widerspruch zwischen Erniedrigung durch Herabsetzung und Erniedrigung durch den Tod ist unüberwindlich; der Tod mag in der Erniedrigung angelegt sein, aber ohne Opfer kann die Erniedrigung nicht weitergehen. Dieser Widerspruch tritt sogar dann zutage, wenn die letzte Konsequenz nicht der Tod ist, wenn der Tod nur eine Möglichkeit bleibt, die im Akt der Erniedrigung angelegt ist. So gesehen ähnelt die Dialektik von Erniedrigung und Vernichtung der Dialektik von Herr und Knecht. Der Herr will die totale Kontrolle über den Knecht, aber er will auch die Anerkennung des Knechts, daß er der Herr ist. Totale Kontrolle zerstört jedoch den Knecht als möglichen Agenten der Anerkennung und macht ihn zu einem bloßen Werkzeug. In der Geschichte wurden viele Menschen vernichtet und viele Menschen erniedrigt aber es ist überaus selten und vielleicht einzigartig, daß eine Gruppe von Menschen sowohl systematisch erniedrigt als auch systematisch umgebracht wurde. Die Verbindung von Erniedrigung und Vernichtung hilft die perverse Faszination durch den Holocaust zu erklären, die teilweise der Faszination durch die Verbindung von Vergewaltigung und Mord ähnelt. Die Deutschen wollten die Juden deutsche Straßen scheuern lassen, bevor sie sie umbrachten. So versuchten sie den Unterschied hervorzuheben, durch den ihr jeweiliger kollektiver Tod sich von der normalen Identität abheben sollte, die der Tod uns allen auferlegt. Die Vorstellung, wir würden durch unsere Todeserwartung individuiert, stammt von Heidegger. Wird eine solche Einstellung angewandt auf die Interpretation einer kollektiven Existenz, dann produziert sie einen unterschiedlichen kollektiven Tod für verschiedene Gruppen, d.h. Hinopferung im Krieg gegenüber kollektiver Vergasung. Auf diese Weise ist die Einführung eines rassischen Unterschiedes eine Beraubung der Individualität. Dennoch impliziert die Demarkation eines rassischen Unterschieds auch die Absonderung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Kollektive Desindividualisierung enthält somit eine innere Spannung. Jede ausgesonderte Bevölkerungsgruppe erwirbt kraft ihrer Absonderung sowohl in ihren eigenen Augen wie auch in den ihrer Peiniger eine stärkere Individualität. Der Zweck der Verurteilung einer solchen Bevölkerungsgruppe zum kollektiven Tod ist dann die Vernichtung der Individualität, die zuvor durch Erniedrigung erworben wurde. Der Peiniger will die Spannung überwinden, die zwischen dem Identitätsverlust des Opfers durch Erniedrigung einerseits und dem Erwerb einer Identität als Opfer kraft eben jenes Akts der Erniedrigung andererseits besteht. Der Peiniger tötet das Opfer, um zu entdecken, daß durch diesen Mord eine Verbindung zwischen der neuen Identität des Opfers als Opfer und seiner oder ihrer früheren Identität als ein nicht erniedrigtes Individuum hergestellt wird. Traditionelle Kulturen schrieben dem Tod häufig Würde zu; Opfer konnten ihre Entwürdigung im Tod aufheben. Die Nazis versuchten ihre Opfer so zu töten, daß ihnen diese Würde des Todes vorenthalten wurde. Die Opfer jedoch erwarben sowohl in ihren eigenen Augen wie in denen der Nachkriegswelt ihre Würde durch ihren Tod zurück. Wenn die Opfer durch einen entwürdigenden Tod nicht weiter entwürdigt werden können, dann besitzt dieses Verlangen nach Herabwürdigung sogar das Potential, den Mörder zu beflecken. Die Opfer zum Eingeständnis ihrer eigenen Unmenschlichkeit zu bewegen, war außerdem ein Versuch, die Selbstbefleckung durch den Tötungsakt zu vermeiden; aber daß die Opfer dieses Eingeständnis ablegen mußten, war ein Zugeständnis an ihre Menschlichkeit. Es ist sehr wichtig festzuhalten, daß die Nazis sich der Möglichkeit der Selbstbefleckung durch ihre mörderischen Handlungen sehr bewußt waren. Der Makel der Erniedrigung des Opfers konnte den Täter erfassen. Wie ein Vergewaltiger, der vielleicht versucht, sein Opfer zu eliminieren, um sich nicht durch seine Vergewaltigung selbst zu beflecken, strebten die Nazis nach Eliminierung der Juden, um ihre eigene Selbstentwürdigung zu bannen. Die Erniedrigung war nicht bloß ein instrumenteller Akt, der das Schweigen der traditionell antisemitischen Massen angesichts der Todesmaschine der Nazis sichern sollte; sie war ein wesentlicher Bestandteil in der Konstruktion der Nazi-Identität. In einer christlichen Gesellschaft gilt die Selbsterniedrigung oder Selbstdemütigung häufig als positive Tugend. Es besteht ein großer Gegensatz zwischen der Erniedrigung anderer und der Selbsterniedrigung. Die Erniedrigung anderer soll zwischen einem selbst und dem anderen eine Kluft aufreißen, während die Selbsterniedrigung eine menschliche Gemeinsamkeit mit anderen herstellen soll. Die Nazis lösten das Problem der Selbsterniedrigung, indem sie die christliche Praxis der Demut absolut ausschlossen. Eine solche Furcht vor Selbsterniedrigung kann auch zu der Erklärung beitragen, warum für die Tötung der Juden einzigartige Methoden gewählt wurden. In Überwachen und Strafen beschrieb Foucault, wie die Strafe bis ins 18. Jahrhundert hinein offen und öffentlich verhängt wurde, danach aber abgeschlossen und isoliert. Die Deutschen töteten selten auf der Straße, sondern transportierten die Juden fort, bevor sie sie töteten. Sie folgten darin einer ãnormalen modernen Praxis" und waren in diesem Sinne nicht einzigartig. Aber ihre Praxis der Deportation war so extrem, daß der Akt der Deportation zu einer unserer grundlegenden Synekdochen für die Vorstellung des Holocaust wurde. Kriege waren schon immer von Greueln begleitet, die am Kampfplatz begangen wurden; belagerte Städte wußten, welches Schicksal sie erwartete, wenn die Belagerer siegten. Aber es geschah nicht häufig, daß Menschen fortgebracht wurden, um sie an anderem Ort zu töten. Über drei Jahre lang transportierten die Nazis Juden durch ganz Europa zum einzigen Zweck ihrer Ermordung. Raul Hilberg und Claude Lanzmann haben sich auf das Motiv der Eisenbahnzüge konzentriert. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß der Tötungsprozeß sowohl vom Lebensraum der Täter als auch von dem der Opfer gelöst werden sollte. Vielleicht hat dies den bereits erwähnten Grund in der Angst vor Selbsterniedrigung. Nicht daß die Wachen der Konzentrationslager solche Ängste gehegt hätten; sie hätten in der Gegenwart von Juden alles getan, einschließlich der Erledigung ihrer körperlichen Funktionen; denn Juden zählten nicht mehr. Aber der Gedanke der Deportation sollte gerade die normale Verbindung zwischen Tod und Raum zerschneiden, zwischen Täter und Opfer, und eben diese Trennung zwischen dem Mörder und dem Opfer springt so deutlich ins Auge. Sie springt ins Auge, weil es zunächst so scheinen könnte, daß dieser Gedanke der Trennung manifest in der relativ geringen Zahl der Deutschen, die in Vernichtungslagern arbeiteten dem Gedanken widerspricht, die Opfer zu erniedrigen. Wie kann man die Täter von ihren Opfern trennen und zur gleichen Zeit die Opfer erniedrigen? Diese Verfahrensweise soll für die Täter die Gefahr der Selbstbefleckung bannen: Die Opfer werden zunächst entwürdigt, erst dann sind die Täter vor der ãAnsteckung" durch ihre Opfer geschützt. Sobald die Täter gereinigt sind, muß man dafür sorgen, daß sie nicht aufs neue infiziert werden. Indem man Juden zu ãKapos" der Konzentrationslager machte und aus den zur Vernichtung Vorgesehenen die Angehörigen von Todeskommandos auswählte, wollte man sich gegen die Befleckung durch seine eigenen Handlungen sterilisieren. Die Sprache, deren wir uns bedienen, belegt die Einzigartigkeit der Diskussion über den Holocaust. Diese rhetorische Einzigartigkeit hat zwei Merkmale. Zunächst ist sie eine Konsequenz aus dem Biologismus der Nazis, einer Denkweise, die seit dem Sozialdarwinismus verbreitet war, aber nur im Holocaust mit solchem Eifer als Grundlage für Vernichtung diente. Erschreckend wirkt dieser Biologismus, weil er auf Menschen angewendet wird statt auf Tierarten. In der Konsequenz mußten die Nazis die Juden in eine andere Spezies verwandeln, d.h. sie entmenschlichen. Es war nicht einfach, die Juden zu entmenschlichen, weil die Juden sich in ihrem Erscheinungsbild von Deutschen weniger unterschieden als etwa von Afrikanern oder Orientalen. Die Juden verkörperten das Problem, daß Deutsche sich in ihnen wiedererkennen konnten. Diese Möglichkeit konnte nur durch Erniedrigung der Juden wirksam ausgeschaltet werden. Die Erniedrigung der Juden nahm die Form der Veränderung ihres Erscheinungsbildes an. Man schor ihnen die Köpfe und ließ sie hungern, bis sie, ausgemergelt, Deutschen oder "normalen" Menschen nicht mehr ähnelten. Zur Erniedrigung gehört seit jeher, daß der Täter in unmittelbaren Beziehung zu seinem Opfer steht. Die Nazis strebten danach, die Juden aus der Distanz zu entwürdigen. Dieses Bedürfnis der Distanz ergab sich sowohl aus ihrer Furcht vor Selbstbefleckung als auch aus ihrer Furcht vor Selbsterniedrigung. Vor Offizieren, die an der Vernichtung der Juden beteiligt waren, sprach Himmler davon, ihr großer Triumph sei es, "anständig" geblieben zu sein. Vermutlich meinte er damit, daß sie sich erfolgreich in bemerkenswert großer Distanz von ihren Handlungen zu halten vermochten und sich so vor Selbstbefleckung und Selbsterniedrigung bewahrt hatten. So schufen die Nazis eine neue Methode zur Entwürdigung von Menschen. Die Idee der Erniedrigung aus der Distanz steht in Beziehung zur Einstellung der Nazis zum Tode. Die Nazis waren überzeugt, der heroische Tod sei der einzige sinnvolle Tod. Heroischer Tod impliziert eine starke Beziehung von Ursache und Wirkung zwischen dem heroischen Akt und dem Tod des Handelnden. Der Nazi-Begriff des würdelosen Todes sollte die Beziehung zwischen Akt und Tod lösen: Anders als Opfer in traditionellen Kriegen wurden die Opfer der Nazis von ihnen nicht einmal als Opfer von Vergeltungsmaßnahmen angesehen. Selbst in Lidice, bei der Vergeltungsmaßnahme für den Mord an Reinhard Heydrich, bemühten sich die Nazis, die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung aufzulösen, indem sie ein Dorf auswählten, das zu Heydrichs Ermordung in keiner Beziehung stand. Die Deutschen benahmen sich, als hätten sie sich eine Art willkürlicher kosmischer Macht beigemessen; sie ließen ihre Handlungen als eine Art unerforschliche kosmische Zuteilung erscheinen. Die Nazis entzogen sich in ihrer Brutalität jeder Voraussage, und das machte sie um so furchtbarer. Hier begegnet uns erneut ein Widerspruch. Einerseits behaupten wir, im Verhalten der Nazis habe es ein starkes Element der Unvorhersagbarkeit gegeben, und andererseits ließ sich ihr Verhalten gegenüber Juden, sobald es einmal begonnen hatte, durchaus vorhersagen; die Tötung der Juden war eine logische Konsequenz der Nazi-Ideologie. Aufgrund der Spannung zwischen Erniedrigung und Vernichtung täuschten sich die Juden Europas regelmäßig über das Ausmaß der Absichten der Nazis. Die Juden (miß-)interpretierten die Handlungen der Nazis als extreme Formen der Erniedrigung, einschließlich eines gewissen Maßes an Massenmorden, aber nicht als vollständige Vernichtung. Die Nazis förderten dieses Mißverständnis. Gewöhnlich wird diese Verschleierung der Absichten der Nazis damit erklärt, sie habe ihre Arbeit erleichtert. Das ist sicherlich richtig, aber es gab auch andere Motive. Die Nazis strebten nach Unerforschlichkeit in ihrem eigenen, kosmisch allmächtigen Sinne. Indem sie sich als böse Götter gaben, suchten sie eine andere Zivilisation zu erschaffen, die in eine andere kosmische Ordnung eingebettet war. Die Juden waren nicht die einzigen Opfer der Nazis. Die Nazis hatten ihre Pläne auch für andere Völker und begannen ihr Programm auf die Polen anzuwenden, indem sie die polnischen Eliten liquidierten. Auch Zigeuner und Homosexuelle standen weit oben auf ihrer Liste. Und der gesamte Prozeß fand seinen Probelauf in der teilweisen Vernichtung der Geisteskranken. Dennoch beschäftigte sich das kollektive Nachkriegsbewußtsein am stärksten mit der Vernichtung der Juden und nicht mit den anderen Vernichtungen. Die Nazis dachten, wie ihre Ideologie zeigt, den Juden einen besonderen Ort zu. All diesen Gruppen war gemeinsam, daß die Nazis sie als ãlebensunwert" einschätzten. Die Geisteskranken, die in der Operation Euthanasie vernichtet wurden, wurden jedoch nicht erniedrigt. Auch die Zigeuner, deren Vernichtung ebenfalls vorgesehen war, wurden nicht der ausgefeilten Entwürdigung ausgesetzt, wie sie die Nazis für die Juden ausgearbeitet hatten. Homosexuelle wurden erniedrigt und in Lager gebracht, aber sie wurden nicht systematisch ermordet. Mit anderen Worten: Während die Nazis all diese Gruppen als biologisch mangelhaft und daher ãlebensunwert" betrachteten, waren die Juden mehr als nur ãlebensunwert". Das Selbstbild der Nazis geriet durch Zigeuner oder Geisteskranke nicht in Gefahr. Bedroht jedoch wurde es durch die Homosexuellen. Die Nazis wußten nur zu gut, daß es homosexuelle SS-Offiziere gab. Die Nazis betrachteten die Homosexuellen als ihrem Selbst näher und nicht so vollständig andersartig wie die Juden. Die Geisteskranken waren davon noch weiter entfernt. Auf der Kurve des ãLebensunwerts" besetzten die Juden genau den Ort, an dem sich Erniedrigung und Vernichtung überschnitten. Gegen Ende des Krieges gingen die Nazis dem Völkermord mit noch größerem Eifer nach und versuchten doch zugleich, ihre Morde vor der Nachwelt zu verbergen. Von ihrem Standpunkt aus hätte der Mord an den Juden als heroischer Akt von epischen Ausmaßen erscheinen müssen. Sie waren jedoch nicht überzeugt, daß ihr Heroismus auch bei zukünftigen Generationen Anklang fände: Sie mußten ihr heroisches Verbrechen verbergen heroisch, weil es die Juden mit Erfolg erniedrigte und vernichtete, während es die Deutschen makellos zurückließ. Nicht nur der Holocaust war einzigartig, sondern auch seine Rezeption. Die Nazis konnten nicht voraussehen, daß der Holocaust zu einem negativen Ursprungsmythos für die Nachkriegswelt werden würde. Ein Ursprungsmythos ist eine Geschichte, die ein Volk von seinem Ursprung und der Entstehung seiner Lebenssituation erzählt; er dient als allgemeiner Rahmen für die Interpretation der Welt. Eine solche Geschichte kann wahr sein (die Gründerväter), aber wir bezeichnen sie auch dann als Mythos, weil sie für die Gesellschaft eine mythische Funktion erfüllt. Ein Ursprungsmythos ist in der Regel positiv: Wie die Geschichte von Adam und Eva kann er sogar die menschliche Gemeinschaft aller Völker begründen. Man sollte betonen, daß diese mythische Funktion nicht fiktiv ist. Wenn wir den Holocaust als Mythos bezeichnen, so meinen wir damit nicht, er habe nicht stattgefunden oder sei anders abgelaufen, als uns bekannt wurde. Wenn wir die Funktion des Holocaust in der Nachkriegswelt als Ursprungsmythos bezeichnen, dann meinen wir, daß wir den Holocaust nicht nur als die Zäsur betrachten, die uns von der Vergangenheit vor dem Holocaust trennt, sondern auch als den Punkt in Zeit und Raum, an dem die Welt unserer Werte entstand. Man kann ohne großen Scharfsinn wahrnehmen, daß der Holocaust zu einem universellen Symbol unserer Kultur geworden ist, daß viele andere Ereignisse ständig mit ihm verglichen werden. Unter einem negativen Ursprungsmythos versteht man einen Mythos, der den Augenblick der Schöpfung als einen Augenblick des Chaos und der Zerstörung begreift und unsere Ordnung oder Unordnung in Gegensatz zu diesem ursprünglichen Augenblick des Chaos und der Zerstörung stellt statt zu einem planhaften Schöpfungsprozeß oder einer stabilisierenden Harmonie. Der Holocaust ist zu einem solchen Gründungsmoment geworden. Die derzeitige Vorstellung einer historischen Diskontinuität bezieht einen großen Teil ihrer emotionalen Anziehungskraft aus der Wahrnehmung des Holocaust als eines radikalen Bruchs. Der Zweite Weltkrieg insgesamt vermag die Überzeugung vom Primat der historischen Diskontinuität gegenüber der Kontinuität nicht so wirksam zu bekräftigen wie der Holocaust. Ein negativer Ursprungsmythos wie der Holocaust durchtränkt die gesamte Kultur mit einem gewissen Grad an Nihilismus, denn er vermittelt eine Ahnung davon, wie zerbrechlich und provisorisch unsere Kultur ist. Andere Kulturen hatten eine Empfindung von ihrer eigenen Vergänglichkeit, aber sie stellten ihrer Vergänglichkeit in der Zeit eine Vorstellung von einem dauerhaften Sein gegenüber. In der Moderne wurde die mangelnde Empfindung ewigen Seins kompensiert, indem man dem historischen Fortschritt einen Beigeschmack der Dauerhaftigkeit verlieh. Der Fortschritt gilt als Öffnung des Weges in die Zukunft. Unsere Kultur jedoch, hinsichtlich des historischen Fortschritts unsicher geworden, sieht ihre vorübergehenden Leistungen im Gegensatz zu der Alternative des Nichts. Ihr eignet eine grundlegend nihilistische Ahnung vom ewigen Nichts, einer Welt ohne menschliche Lebewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätte ein triumphierender Liberalismus gute Gründe für sich ins Feld führen können. Das Bewußtsein dessen jedoch, was im Holocaust geschah, hat die dem Liberalismus immanente Vorstellung des historischen Fortschritts untergraben. Die Nazis haben uns vor Augen geführt, daß der Gedanke einer allumfassenden Menschheit weder unzweifelhaft noch a priori gegeben ist. Die Erinnerung an den Holocaust konfrontiert uns also mit der Spannung zwischen unserer Verpflichtung, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu bekräftigen, und unserer Unsicherheit angesichts einer solchen Vorstellung. Wer die Einzigartigkeit des Holocaust betont, weil er den Juden widerfuhr, wird sicherlich den Holocaust nur unter Schwierigkeiten zur Bekräftigung unserer gemeinsamen Menschlichkeit heranziehen können. Hier haben wir einen anderen Weg eingeschlagen: Der Holocaust ist nicht einzigartig, weil er den Juden widerfuhr, sondern weil er eine einzigartige Weltsicht zum Ausdruck brachte. Viele Deutsche verstehen das sehr gut. Der Holocaust hat die deutsche Geschichte für die weitere Zukunft in eine einzigartige Paria-Situation geführt; hinsichtlich des Status der Juden erhob er ihre Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Menschheit zu einem unhinterfragbaren Axiom. Der Holocaust ist zum Brennpunkt für die gegenwärtige Diskussion über die Erinnerung geworden; wie man sich an die Vergangenheit erinnern, wie man ihrer gedenken sollte und in welchem Verhältnis Erinnerung und Geschichte stehen sollten. Wir wollen uns auf die Beziehung konzentrieren, die der Holocaust zwischen Erinnerung und Negation geschaffen hat, zwischen der Erinnerung und ihrem Fehlen, die er für unsere Kultur definiert. 1937 veranstalteten die Nazis eine Ausstellung sogenannter entarteter Kunst, in der sie hervorragende Beispiele moderner Kunst zusammentrugen. Die Ausstellung sollte über die grundlegende Dekadenz dieser Kunst aufklären. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurde sogar erwogen, neben den Werken Museumsdirektoren und Künstler zu plazieren, damit das Publikum sie anspucken könnte. Den Nazis war klar, daß das Museum ein zentrales Forum öffentlicher Ausstellung darstellt, und sie versuchten es zu öffentlicher Entwürdigung zu nutzen. Die Nazis sammelten jüdische ãMemorabilien". Sie planten ein Museum einer untergegangenen Rasse, wie sie es nannten, damit die Nachwelt sehen könnte, was die Juden gewesen waren. Sie sammelten auch jüdische Schädel und konservierten jüdische Leichen, damit der Nachweis der rassischen Minderwertigkeit der Juden ihre Vernichtung überdauern solle. Die Entwürdigung der Juden sollte ihre Vernichtung überleben. Auch hier erkennen wir die einzigartige Position der Juden in der Weltsicht der Nazis: Die anderen Vernichtungskampagnen waren nicht mit einem Plan gekoppelt, die Entwürdigung der Opfer in Museen und anthropologischen Sammlungen zu ãbewahren". Man sollte sich an die Juden und ihre Erniedrigung als ausgelöschte erinnern können. James Young beschreibt in The Texture of Memory ein deutsches Mahnmal zur Erinnerung an den Holocaust, das allmählich im Boden versinkt, um auf diese Weise an verschwundene Opfer der Nazis zu erinnern. Wenn wir diese beiden Vorstellungen vergleichen, wie sie im Nazi-Museum und dem deutschen Nachkriegsmahnmal zum Ausdruck kommen, dann sehen wir, daß das moderne Denkmal die Beziehungen zwischen Erinnern und Vergessen umgekehrt hat. Das versinkende Mahnmal erinnert an die verschwundenen Opfer mittels einer Leugnung der Möglichkeit, sie in einem Mahnmal oder einem Museum aufzunehmen, das die Vorstellung des Bewahrens voraussetzt, weil die Nazis perverserweise Bewahrung mit Vernichtung verknüpften. Seit dem Holocaust stand weniger der Inhalt des zerstörten Lebens im Brennpunkt der Erinnerung als vielmehr der Prozeß der Vernichtung. Die Betonung des Prozesses, wie Menschen zum Verschwinden gebracht werden, ist zu einem deutlichen Merkmal der Nachkriegskonzeptionen von Erinnerung geworden. Die Einzigartigkeit des Holocaust läßt sich auf dreierlei Art vertreten: man könnte argumentieren, die Deutschen seien einzigartig, die Juden seien einzigartig, oder der Prozeß sei einzigartig. In diesem Aufsatz haben wir vertreten, daß die Juden weit weniger einzigartig waren als die Deutschen, und daß sich die Einzigartigkeit des Vernichtungsprozesses aus der Einzigartigkeit sowohl der deutschen Einstellung gegenüber den Juden als auch aus der Art, wie sie sich ihrer entledigen wollten, ableitete. Die Deutschen waren einzigartig genug, weil sie so radikal wie sonst niemand seit Jahrtausenden die Vorstellung einer menschlichen Gemeinschaft theoretisch wie praktisch leugneten. Diese Leugnung einer menschlichen Gemeinschaft verkörperten sie in der Art und Weise, wie sie bei ihrem Versuch, die Welt von den Juden zu befreien, Ernied0rigung und Vernichtung miteinander verschmolzen. Diese einzigartigen Aspekte des Holocaust haben sich auf zweierlei Weise als zentral für die Nachkriegskultur erwiesen. Zunächst ist der Holocaust zur Geschichte eines konstitutiven Ereignisses geworden, zu einem Punkt historischen Beginns. Zweitens wird Geschichte seit dem Holocaust als radikal diskontinuierlich betrachtet. Die Erinnerung besitzt die deutliche und neue Rolle, das Gefühl von dieser Diskontinuität am Leben zu erhalten.