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Cover LI 141
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LI 141, Sommer 2023

In Venedig

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Die Venezianer

Die Venezianer wissen das, und die Tatsache, das Hauptziel der geographischen Träume der Menschheit zu sein, hat ihren Charakter und ihr Bild von sich selbst im Verhältnis zur Welt geprägt. So überrascht es nicht, daß sich die Venezianer auch heute noch als Mittelpunkt der Welt ansehen, die sich zu ihnen begibt oder auch schleppt, wenn nötig. Immer noch hört man aus dem Mund der Hochmütigsten, daß alles Land ist, was sich jenseits des Ponte della Libertà befindet, der einzigen Verbindung (außer der Eisenbahnbrücke, 1841 bis 1846 erbaut) zwischen dem Festland und der Inselgruppe, die die Stadt ausmacht. Dieses Bauwerk von Mussolini, Vittorio Cini und dem Grafen Volpi di Misurata, das sie mit seinen dreieinhalb Kilometern Länge seit über fünfzig Jahren an die Halbinsel bindet und die Autos vor die Tore verbannt, als würden sie dort von modernen Drachen belagert, sehen sie als lästige Nabelschnur, die man wohl oder übel dulden mußte. Für die Venezianer ist Venedig die Stadt par excellence. Die restliche Welt ist Land. Eine besonders martialische und radikale Spielart dieser Auffassung kann man in einem Ausspruch rassistischen Zuschnitts hören: „Jenseits des Ponte della Libertà sind alle schwarz.“

Aber diese Bewohner – dem eigenen Urteil nach die einzigen Weißen, die einzigen Zivilisierten der Menschheit, die im Vergleich zu ihnen stets barbarisch ist – bekommt man nicht leicht zu Gesicht. Heimgesucht, bedrängt, ausgeplündert, ausgestoßen, nach und nach ihrer weißen Bräuche und städtischen Traditionen beraubt, werden diejenigen immer weniger, die sich weigern, noch mehr Terrain abzutreten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gab es eine allmähliche, doch stetig wachsende Emigration nach Mestre, früher das Arbeiterviertel wenige Kilometer von der Stadt entfernt, das die schwächlichsten, weichlichsten, verräterischsten Venezianer heute heimlich beneiden: Dort gibt es Diskotheken, Kinos, junge Leute, Kaufhäuser, Supermärkte, Geschäftigkeit und Leben. Zu Zeiten der Republik hatte Venedig fast an die 300 000 Einwohner. Heute sind nur noch 70 000 Widerständige übrig, und die Fahnenflucht nimmt kein Ende. 

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Keine Stadt der Welt wird mehr geschützt, beobachtet, bewacht und abgehorcht als Venedig. Es gibt nicht nur den kollektiven Wunsch, sie zu bewahren, man will sie bewahren, wie sie ist. Im Grunde weiß man, daß sie nicht zu existieren aufhören, nicht verlorengehen darf. Nicht einmal ein Weltkrieg würde das zulassen. Diese umwerfende Gewißheit, daß etwas vor unseren Augen immer dort sein, ja immer gleich bleiben wird, ohne das nötige Quentchen Unruhe oder Unsicherheit, das zwangsläufig allen menschlichen Unterfangen und Gemeinschaften eigen ist, ohne die Möglichkeit eines neuen Lebens oder eines ungeahnten Erblühens, ohne Wachstum oder Entwicklung, kurzum ohne die Möglichkeit der Überraschung oder des Wandels, führt dazu, daß die Venezianer „den Standpunkt der Ewigkeit“ einnehmen. So hat es Mario Perez ausgedrückt, der trotz seines Namens (ohne Akzent) zu den wenigen Menschen gehört, die in Venedig geboren, aufgewachsen und immer noch ansässig sind und den ich näher kennenlernen durfte. Der Standpunkt der Ewigkeit! Der Ausdruck ließ mir das Blut gefrieren, während wir gemeinsam zu Abend aßen: ich Seezunge, er Lachs. Kann es einen unheimlicheren, unerträglicheren, unmenschlicheren Standpunkt geben? 

(…)

Venedig ist die Stadt an sich. Vielleicht haben die besonders eingebildeten Venezianer letztlich doch ein wenig recht, wenn sie alles übrige als Land bezeichnen. Hier gibt es keine Vororte, hier ist alles Stein, alles Bauwerk, die Gärten, die man oben vom Campanile ausmacht, findet man nicht, wenn man anschließend durch die Stadt wandert: Sie sind privat, geschlossen, gehören nicht dem Spaziergänger, nicht der Öffentlichkeit. Die Beziehung zu diesem Ort aus Stein muß jedoch keineswegs künstlich sein, wie die Touristen annehmen, die in diesem Irrtum voll Erschöpfung, Hast und mit rein kulturellem Anliegen hierherkommen. Mit der Stadt an sich, der Überstadt, meine ich vor allem, daß sie auf ebenso notwendige wie natürliche Weise ist, wie sie ist, das heißt, so gewollt und geplant, vielleicht gar nicht so kultiviert, wie man annehmen mag, sondern intuitiver, aber keineswegs zufallsbedingt. Eine solche Stadt kann natürlich wirken, sich aber nie dem Zufall verdanken. Vielleicht kann man es auch auf andere Art verstehen und ausdrücken: „Venedig ist ein Innenraum.“ So formuliert es Daniella Pittarello, aus Padua gebürtig, die seit zehn Jahren hier lebt. Und eben darum, fügt sie hinzu, weil es niemals ein Außen gibt und die Stadt in sich vollendet ist, erweist sich als so schwierig, was manchmal nicht zu vermeiden ist: sie zu verlassen, wie man auch sein Haus immer schwerer verläßt, wenn man es allzu lange nicht getan hat. Henry James hat es ähnlich gesehen: „... wo die Stimmen wie im Flur eines Hauses klingen, wo der menschliche Schritt Möbel zu umrunden scheint und die Schuhe sich niemals abnutzen ...“ Venedig als Innenraum, diese Formulierung umfaßt womöglich alles, was ich bisher notiert habe. Es bedeutet, daß es sich selbst genügt, daß es nichts von außerhalb braucht und daß genau dieser Mangel an Bedürfnis seine ideelle und grenzenlose Zergliederung bedingt: die Dehnung des Engen, die Ferne des Nahen, die Unendlichkeit des Begrenzten, die Verschiedenheit des Identischen, das Verstreichen des Zeitlosen. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.