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Cover Lettre International 57, Peter Zimmermann
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LI 57, Sommer 2002

Die Legende des Saint Arto

Die Odyssee des Antonin Artaud durch die Psychiatrie seiner Zeit

(...)

Ville-Évrard, Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet, war auf etwa 600 Patienten ausgelegt. Privatpatienten genossen dort das Privileg, Pensionäre genannt und der Annehmlichkeiten eines Sanatoriums zuteil zu werden, während die Zwangsinternierten unter gefängnisgleichen Bedingungen verwahrt und observiert wurden. Die Mauern der Anstalt hatten in den zwanziger Jahren die Bildhauerin Camille Claudel, den armenischen Komponisten Komitas, dann den schriftstellernden ehemaligen Priester Ernest Gengenbach beherbergt.

Artaud muß die obligatorische Dusche, das Kahlscheren des Kopfes, sodann die medizinischen Untersuchungen über sich ergehen lassen, wird Insasse Nr. 262 602, der wie alle Mittellosen die marineblaue Anstaltskleidung trägt. Seine persönliche Habe, bestehend aus Reisepaß, Papiermesser und Nagelfeile, ist er abzugeben genötigt. Ihn erwartet ein Schlafsaal mit 16 Betten, ein Raum, in dem ab September, nachdem große Teile des Pflegepersonals eingezogen worden waren, 24 oder gar 34 Patienten kampieren. Die erste Diagnose eines der behandelnden Psychiater lautet: „Chronischer systematisierter Wahn …"

Vierzehn Tage später heißt es: „Ehemaliger Drogensüchtiger, weist einen Zustand psychischer Erregung auf, der reichlich gemischt ist mit einem gewaltigen Überschäumen der Phantasie, was schwere Persönlichkeitsstörungen bewirkt hat. Dabehalten."

Umgehend wird der Neuzugang von der Abteilung der unruhigen Geisteskranken, der strengsten Überwachungsform, in die Krankenabteilung überstellt. In dem Gespräch mit Artaud vom 1. März, das die diensthabende Assistenzärztin Mlle. Hélène Barat protokolliert, ist dagegen von einem voll orientierten Gegenüber die Rede, das allerdings gegen seine willkürliche Einweisung heftigst protestiert. „Erzählt aus freien Stücken, um diese Willkür zu unterstreichen, seine Geschichte, während er uns gleichzeitig vor ihrer Überspanntheit, ihrer Unwahrscheinlichkeit warnt, Eigenschaften, die ihn offensichtlich als verrückt hinstellen könnten." Die Reflektiertheit des Insassen verblüfft die Arztin, und nachdem die Sprache auf die Aggressionen seitens der Schiffsbesatzung während der Überfahrt von Irland gekommen ist, notiert sie: „Seine Überzeugung besteht darin, daß jene Leute von Initiierten gedungen waren, ebenso wie die Leute, die ihn eingewiesen haben und die Arzte der diversen Anstalten.

Warum verfolgen Sie die Initiierten so?

‘Ich mache offenbar den Eindruck eines Kranken, der unter Verfolgungswahn leidet. Aber ich versichere Ihnen, daß alle Fakten stimmen. Was soll man da machen, ich werde ganz offensichtlich verfolgt.’ (...) Zur Zeit möchte Monsieur Artaud nicht mehr an diese verdammte Prophetie glauben, die ihn ‘zu sehr hat leiden lassen’. ‘Ich glaube nicht mehr daran’, sagt er, als ob er sich von der Macht der Initiierten befreien könnte. Indem er nicht mehr an sie glaubt, haben sie keinen Grund mehr, ihn zu verfolgen. Aber man hat sehr wohl den Eindruck, daß diese ganze Geschichte des Sankt Patrick mehr für ihn ist als ins Leben projiziertes Theater und daß er bei dem Gedanken, nicht aus eigenem Willen auf das verzichten zu können, was er für sein Schicksal hält und was ihm bisher nur Enttäuschungen eingebracht hat, Angst hat.

‘Ich frage mich, ob es die Prophetie gibt, und sogar, ob es die Taten des heiligen Artaud gibt. Und ob wir nicht alle Opfer einer monströsen Halluzination gewesen sind. Und ich frage mich übrigens auch, ob es die sogenannten kollektiven Halluzinationen gibt und ob sie nicht die bequeme Erklärung nicht-initiierter Psychologen sind.’"

Es wirkt so, als könne Artaud sich selbst exorzisieren, als könne er das Gespensterheer, das ihm zusetzt, beherrschen. Ganz deutlich wirft er der Arztin Inkompetenz vor, sie vermag ihm nicht zu folgen, spürt er. In Afrika hätte man Artaud mühelos verstanden, vielleicht sogar zum Heiler erklärt. Selbst wenn er fast täglich gegen die Behexungen der Eingeweihten ankämpft, indem er auch gestisch – mit seinen Händen, durch Atemübungen und durch kräftiges Ausspucken – sich ihrer erwehrt. In Senegal beispielsweise hätte die Heilerin die Dämonen, von denen sich Artaud besessen glaubt, rituell auf ein Opfertier zu übertragen versucht.

Aber wir befinden uns in Frankreich, wo niemand an dergleichen glaubt und der Dichter im Mai erneut Behexungen, sorts, anfertigt. Auratische Objekte, denen der Urheber magische Kräfte zuschreibt. Oft beschließen sie einen Brief: Es handelt sich um aus einem karierten Schulheft herausgelöste Blätter, die Artaud mit kryptischen Zeichen, gekritzelt mit Tinten- und Farbstiften, sowie mit Gouache bedeckt. Regelmäßig sind etwa die Blattränder versengt, wenn das Papier nicht zusätzlich oder ausschließlich Brandlöcher aufweist, die er aufs Geratewohl mit einer Zigarette oder einem Streichholz realisiert. Die partielle Textzerstörung scheint für ihn vernachlässigbar zu sein, als würden die Brandlöcher das Ganze erst mit der erwünschten magischen Wirksamkeit aufladen.

Solche Bannflüche adressiert er unter anderem an Grillot de Givry (1874–1929), der über Okkultismus geschrieben hatte und dem Rosenkreuzerorden angehörte; Roger Blin und Sonia Mossé: eine mit Cécile Schramme befreundete Malerin und Schauspielerin, die tragischerweise in einem Konzentrationslager ums Leben kommen sollte. Eine Ausnahme vom symbolischen Schadenzauber stellt die Behexung mit beschützender Funktion dar, wie er sie seinem behandelnden Arzt in Ville-Évrard, Dr. Léon Fouks, übergibt.

Der Mediziner sollte darüber hinaus eine an die „Massen und die Initiierten" gerichtete Proklamation vor der Verwaltungszentrale der Anstalt verlesen, ferner einen „Aufruf an die Massen" vor dem Pariser Café Coupole: „Ich bin euer unversöhnlicher Feind. Ich habe im Laufe der letzten fünf Wochen eine Million Siebenhunderttausend Tote in Paris gemacht (...). Und ich habe beschlossen, euch nicht mehr leben zu lassen, bis ihr mir hier die Initiierten ausgeliefert habt, deren Liste folgt. Ihr habt mich zu der Zeit, als ich ein freier Mann war, Sankt Antonin genannt, aber ich bin schlimmer geworden, seitdem die Initiierten und ihre Gespenster mich in den französischen Irrenanstalten gefangenhalten, nachdem sie versucht haben, mich im Gefängnis von Dublin lebendig zu begraben und in der Zelle von Le Havre erdrosseln zu lassen, als man mich dort in der Zwangsjacke festhielt."

Der Aufschrei des Weggeschlossenen bleibt so folgenlos wie das Briefpamphlet an den Polizeipräfekten Langeron vom 7. August, der letzten Endes seine Internierung gebilligt hat. Artauds Briefe landen, wenn es ihm nicht gelingt, Besucher als Kuriere einzusetzen, in seiner Krankenakte. Aus den Mauern von Ville-Évrard gelangt wenig in die Außenwelt. Immerhin veröffentlicht die Buchhändlerin Adrienne Monnier, die als erste Joyces Ulysses druckte, in der Gazette des amis des livres vom April einen Brief Artauds, der sie am 4. März erreicht hatte. Ein exemplarischer Wahnsinnsbrief à la Nietzsche, à la Panizza, möchte man meinen, denn sein Verfasser behauptet, der Reichsaußenminister von Ribbentrop sei in Paris ermordet und durch einen Doppelgänger ersetzt worden, während er Shakespeare und Bach des Betrugs bezichtigt. (Ob Monnier, deren Buchhandlung Shakespeare & Co. hieß, die Ironie Artauds aufging, ist eine andere Frage.)

Jedenfalls ist die Welt des „heiligen Artaud" mehr denn je zweigeteilt in Initiierte und Sekten auf der einen, Zigeuner und Sympathisanten auf der anderen Seite. Er kann jedes der Doubles, die ihn überfallen und ihm manchmal seine Briefe diktieren, namentlich benennen – aber es wäre absurd, seine private Mythologie ausloten zu wollen. Jacqueline Breton erklärt er: „Ich bin ein Fanatiker, ich bin kein Verrückter. Ich will nichts mehr von der modernen Ordnung wissen, die einen bloß ins Chaos treibt. Ich habe mich freiwillig von einem Geist, den Sie nicht mehr verstehen werden, gefangennehmen lassen, um in aller Aufrichtigkeit und Bewußtheit die unmöglichen Prüfungen der Prophetie des Sankt Patrick zu erfüllen."

Denselben Ton schlägt er an, wenn er am 26. Juni gegenüber Dr. Fouks bekundet: „Ich bin nicht von dieser Welt und ich verabscheue alles, was sich darauf abspielt …"

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.