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Cover Lettre International 136
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Inhaltsverzeichnis

LI 136, Frühjahr 2022

Orwell und der Wal

Über die Farben des Lebens und die Freiheit der Kunst

(...)

Die Differenzen zwischen Miller und Orwell repräsentieren Nord und Süd, die äußersten Enden auf einer Orientierungsskala, mit der sich jeder Schriftsteller, jede Schriftstellerin konfrontiert sieht, in unseren schwierigen Zeiten ebenso wie 1936 oder, insbesondere, 1940. Es ist eine Skala, auf der sich Schriftsteller je nach ihren Bedürfnissen womöglich ihr ganzes Berufsleben lang auf oder ab bewegen, vermeiden aber kann man sie nicht – beziehungsweise bedeutet das Recht, sie zu vermeiden, ebenjene Freiheit, die Orwell mit seinem Essay gewähren will. Angesichts seiner eigenen Position als einer der politischsten und engagiertesten Schriftsteller unserer Zeit ist Im Innern des Wals ein Geschenk – ein weiteres Geschenk – schriftstellerischer Großzügigkeit.
     „Man ist dort“, schrieb Orwell, „in einem dunklen, ausgepolsterten Raum, der genau paßt, mit einer dicken Speckschicht zwischen sich und der Außenwelt. So hat man die Möglichkeit, sich mit absoluter Gleichgültigkeit gegenüber allem, was immer draußen vorgeht, zu verhalten. Ein Sturm, der jedes Kriegsschiff der Welt zum Sinken brächte, würde einen nur von weitem, kaum als ein Säuseln, erreichen … Es ist fast schon der Tod, ein Zustand endgültiger, unüberbietbarer Verantwortungslosigkeit … Miller befindet sich selbst im Innern des Wals, kein Zweifel … durchsichtig. Er fühlt sich jedoch nicht im Geringsten bewogen, was mit ihm geschieht zu ändern oder zu kontrollieren.“
     Man könnte nun mit einigem Grund annehmen, daß der Autor von Der Weg nach Wigan Pier und Mein Katalonien, der später Farm der Tiere und 1984 schreiben sollte, derlei unverantwortlichen Quietismus mißbilligte. Großmut allein trifft es nicht ganz. Mit Im Innern des Wals begegnen wir ihm im Augenblick einer tiefgreifenden Enttäuschung, die Auden so unübertroffen auf den Punkt brachte: „Da die klugen Hoffnungen vergehn / eines niedren unehrlichen Jahrzehnts.“ [Eigene Übersetzung]      Orwells Pessimismus und Desillusionierung nach dem Sieg der Faschisten in Spanien gingen weit über Millers sorglose Bemerkungen hinaus und beruhten auf weit besserer Sachkenntnis. Und Orwell hatte im eigenen Lager die Grausamkeit und den Zynismus der Stalinisten erlebt. Gegen Ende der dreißiger Jahre hatten sich die meisten Menschen resigniert damit abgefunden, daß es zu einem weiteren großen Krieg kommen würde – so bald schon nach dem letzten. Um 1940 rechnete Orwell mit einem Einmarsch Deutschlands in Großbritannien.
     Politisches Engagement bedeutete damals bei linken Schriftstellern – also den meisten Schriftstellern –, am sowjetischen Traum festzuhalten, und dies trotz des ersten Fünf-Jahres-Planes, der Hungersnot in der Ukraine, der Säuberungen und Schauprozesse und jüngst erst des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von 1939. Für Orwell war diese Art von politischem Engagement wie ein überhitzter, erstickender Raum voller Lügen. In einer Besprechung von Malcolm Muggeridges zeitnah verfaßtem, historischem Überblick The Thirties schrieb er: „Alle positiven Ansätze erwiesen sich als Fehlschlag. Glaubensbekenntnisse, Parteien, Programme jeglicher Art sind schlicht gescheitert.“ Am Ende von Im Innern des Wals ergänzt er: „Es ist so gut wie sicher, daß wir uns auf eine Zeit totalitärer Diktaturen zubewegen – eine Zeit, in der die Gedankenfreiheit erst für eine Todsünde und später für eine bedeutungslose Abstraktion gehalten werden wird.“
     Ein wesentliches Thema, die Umformung erst einzelner Gedanken, dann des Denkens selbst, kommt hier mehrere Jahre vor seiner differenzierteren Ausführung in 1984 zur Sprache. Als Kunstform sei der Roman pluralistisch, integrativ, tolerant und instinktiv liberal, doch sei diese liberale Tendenz, so Orwell, vom Aussterben bedroht. Der Schriftsteller sitze auf einem „schmelzenden Eisberg“. Deshalb schlägt Orwell vor, allerdings nicht sonderlich glaubhaft, man solle aufhören zu kämpfen, aber auch, so zu tun, als ändere oder kontrolliere man das Weltgeschehen: „Akzeptiert es, ertragt es, berichtet darüber.“
     In einer umfassenden Reaktion auf das Eindringen des Ideologischen, des „korrekten“ Denkens, in private Gedanken und den öffentlichen Diskurs, voller Verachtung für das, was er „Gesinnungsschnüffelei“ nennt, aber auch entsetzt über die totalitären Staaten Deutschland, Rußland und Italien, sah sich Orwell Ende der dreißiger Jahre in einem zivilisatorischen Kampf begriffen. Seit über 400 Jahren beruhen die großen Literaturen Europas – trotz der langjährigen Vorherrschaft des Christentums – auf dem autonomen Individuum, auf intellektueller Ehrlichkeit. Daher das vielzitierte: „Zuvorderst verlangen wir von einem Schriftsteller, daß er keine Lügen erzählt, daß er uns sagt, was er wirklich denkt, was er wirklich fühlt.“ [Literature and Totalitarianism, London 1941, Listener]

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Als ich vor einem Jahr an einem vage politischen Roman schrieb, sandte mir ein Schriftstellerkollege Camus’ Essay Der Künstler und seine Zeit, den er 1957, wenige Tage, nachdem ihm der Nobelpreis verliehen worden war, in Schweden als Vortrag gehalten hatte. Großartig, wie Camus den Wunsch des Schriftstellers beschreibt, seine Meinung zu sagen, aber auch die ästhetischen Kompromisse oder gar den Schaden, den politisches Bewußtsein bei einem Roman anrichten kann. Geschrieben zwölf Jahre nach Kriegsende, wußten Camus wie Orwell nur zu genau um das Scheitern des großen sowjetischen Experiments. 1953 war der Aufstand in Ostdeutschland gewaltsam niedergeschlagen, 1956 die ungarische Revolution von den sowjetischen Truppen mörderisch unterdrückt worden. Mitte der fünfziger Jahre wurde der Schrecken des Holocausts in seinem ganzen Ausmaß erkennbar. Der Nazi-Staat war ein Alptraum gewesen, der noch die schlimmsten Phantasien übertraf. Es war es wert gewesen, diesen Krieg zu gewinnen, der nicht, oder nicht nur, ein imperialistischer Krieg gewesen war, wie viele Sozialisten, Orwell eingeschlossen, in den dreißiger Jahren behauptet hatten. Vor allem in Frankreich jedoch wurde nach wie vor von einem jeden Künstler weiterhin erwartet, die russische Version des totalitären Staates zu unterstützen. Es war wichtig, auf Linie zu bleiben.
     Camus schätzte, was er die „göttliche Freiheit“ nannte, und Mozart war der Künstler, der sie in seinen Augen auf schönste Weise repräsentierte. Ebendiese Freiheit aber konnte angesichts „ständiger Verpflichtung“ verlorengehen. Der Konflikt zwischen politischem Engagement und ästhetischer Integrität, räumte Camus ein, sei nicht leicht zu lösen: „Wie wir wissen, ist es auf dem Achterdeck von Sklavengaleeren zu jeder Zeit und an jedem Platz möglich, die Sterne zu besingen, während die Sträflinge sich über die Ruder beugen und verausgaben; und es ist immer möglich, gesellige Gespräche auf den Bänken des Amphitheaters festzuhalten, während zugleich der Löwe sein Opfer zermalmt.“
     Letztlich aber meidet es Camus umständlich, sich Orwells Schlußfolgerungen zur Verteidigung des Sterneguckers und der Klatschbasen auf den Bänken des Amphitheaters anzuschließen. Widerstrebend plädiert er fürs Engagement. Laut Camus ist es besser, „der Zeit zu geben, was sie so energisch verlangt, und sich gefaßt einzugestehen, daß die Zeit des verehrten Meisters, des Künstlers mit der Kamelie im Knopfloch, des Genies im Sessel vorbei ist“. Trotzdem litt er darunter, denn gerade die Freiheit der großen Kunst fordere den autokratischen Staat heraus. Er schrieb: „Tyrannen wissen, daß Kunstwerke eine emanzipatorische Kraft bergen.“ Und dann: „Jedes große Kunstwerk macht das menschliche Gesicht tiefgründiger und bewundernswerter …“
     Zum Schluß seines Essays hebt Camus einen Punkt hervor, der bei allen Bewunderern von Orwells klarem Prosastil Widerhall finden dürfte. Camus zitiert André Gide: „Kunst erblüht unter Zwang und stirbt in Freiheit.“ Der Zwang, auf den Gide sich hier bezieht, kommt nicht von außen, von beamteten Zensoren oder allzu willfährigen Verlegern. Die Möglichkeiten der Kunst in turbulenten, gefährlichen Zeiten, schreibt Camus, ergeben sich aus „unserem Mut und unserer Bereitschaft, klar und unmißverständlich zu sein“. Je chaotischer und bedrohlicher die Welt, je diffuser das Material, beharrt Camus, desto stärker verlangt die Kunst nach Ordnung – „desto strikter werden seine (des Künstlers) Regeln sein und desto stärker wird er seine Freiheit behaupten“. Ein Schriftsteller kann in den Absichten radikal, in den Mitteln aber konservativ sein. Allein auf die Klarheit kommt es an.
     Als Camus den Künstler mit der Kamelie im Knopfloch heraufbeschwor, das Genie im Sessel, mußte ich gleich an Henry James denken. Der Meister war nicht gerade bekannt dafür, daß ihm die Spannung zwischen politischem Engagement und künstlerischer Freiheit zu schaffen machte. Dennoch vermute ich, daß Orwell wie Camus jene Version göttlicher Freiheit spontan sympathisch gewesen wäre, die James in Die Kunst der Dichtung formulierte, seinem großen Essay aus dem Jahre 1884. Darin gibt er aber auch einige praktische Ratschläge, die unseren beiden Romanciers der Mitte des 20. Jahrhunderts wohl sauer aufgestoßen wären.
     „Man denke nicht zu viel an Optimismus und Pessimismus“, drängte James. „Vielmehr versuche man, die Farbe des Lebens selbst einzufangen.“ Andererseits gibt es Passagen, die auch von Orwell stammen könnten: „Eine Kunst, die es unternimmt, das Leben so unmittelbar nachzuschaffen, kann sich nur entfalten, wenn sie vollkommen frei ist. Sie lebt davon, ausgeübt zu werden, und Freiheit ist die Grundvoraussetzung einer jeden Ausübung dieser Kunst.“ Manche Passagen in Orwells Essay The Prevention of Literature klingen fast wie ein Echo: „Sofern nicht früher oder später Spontaneität einsetzt, ist literarisches Schaffen unmöglich.“ Und an anderer Stelle: „Gegenwärtig wissen wir nur, daß die Phantasie wie gewisse wilde Tiere in Gefangenschaft nicht gedeiht.“
     Und in einem besonders feinfühligen Abschnitt in James’ Essay hätte Orwell wohl die eigene widersprüchliche Haltung wiedererkannt, das Problem, daß politisches Engagement beziehungsweise der Wunsch, dem Leser zu sagen, was er denken soll, nur allzuleicht das zarte Gewebe eines Romans zerreißen kann. James schrieb: „Erfahrung ist nie begrenzt und nie abgeschlossen; sie gleicht einer ungeheuren Sensibilität, einer Art von riesigem, aus feinsten Seidenfäden gewebtem Spinnennetz, das in der Kammer unseres Geistes hängt und mit seinen Fäden jedes in der Luft schwebende Partikel einfängt. Erfahrung ist die Atmosphäre unseres Geistes selbst, und wenn dieser Geist der Phantasie freien Lauf läßt … nimmt er noch die leisesten Andeutungen von Leben auf und verwandelt selbst das Pulsieren der Luft in Offenbarungen.“

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Orwell, seit Mitte der Dreißiger politisch überaus engagiert, stellte in den Vierzigern immer und immer wieder klar, wie wichtig es ist, daß Romanciers ihren Lesern nicht vorschreiben, was sie denken sollen. Die Phantasie muß frei bleiben. Und doch war er es, der den maßgeblichen politischen Roman seiner, und auch unserer, Zeit schrieb. Als Kellyanne Conway, Präsident Trumps Beraterin, von „alternativen Fakten“ sprach, stürmten die Leute in die Buchläden, um sich eine Ausgabe von 1984 zu besorgen. Der Roman hat unsere Sprache und unsere Gedanken mit solch nützlichen Wortschöpfungen wie „Gedankenpolizei“ oder „Doppeldenk“ geprägt. Die Literatur florierte außerhalb des Wals. Zu Zeiten des Kalten Krieges war 1984 der verbotene Roman, den so viele Russen, Tschechen oder Polen unbedingt lesen wollten. Er ist bis in unsere Alltagssprache vorgedrungen und hat sie verändert.
     Wie hat Orwell das geschafft, ohne das zarte Netz der Fiktion mit seinen politischen Gewißheiten zu zerreißen? Ich würde sagen, weil es ihm gelang, intakt zu lassen, was Henry James das „gefühlte Leben“ – den Dreck, das Banale, den Kohlgeruch – eines Romans nannte. Er überließ sich rückhaltlos seinem allumfassenden Pessimismus und fühlte sich dadurch so vollkommen frei, daß sich das für ihn so wichtige Alltagsleben entfalten konnte.

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Beide, Novelle wie Roman, sind mahnende, hell leuchtende „Warnschilder“ in den unendlichen Weiten düsterer Prophezeiungen. Sie bieten den Leserinnen und Lesern keinen Ausweg. Ist man auf der Suche nach Optimismus, findet man ihn im Falle von 1984 außerhalb des Romans, wenn man etwa an den sterbenden Mann denkt, der dem literarischen London entfloh, um in einem Wal, besser bekannt als Insel Jura, gegen eine Kräfte zehrende Krankheit anzukämpfen und uns seine Warnung vor dem totalitären Staat zu überbringen. Es gibt noch eine weitere optimistische Botschaft, eine einfachere: Wie groß auch die Gefahr, der gute oder effektive politische Roman ist möglich.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.