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Titel Lettre International 97, Minoo Emami
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LI 97, Sommer 2012

Bourguibas Wiederkehr

Tunesiens Geschichte, die Tabus des Glaubens und der Kampf für Freiheit

Für das, was heute in Tunesien geschieht, ist nicht zuletzt Habib Bourguiba verantwortlich, eben derjenige, der einen Staat als „Lehrer des Volkes“ (Rousseau) gegründet hatte, um so dem Volk zu jenem Bildungsgrad zu verhelfen, der für eine demokratische Kultur notwendig ist, ohne welche eine entstehende Demokratie nur auf Abwege geraten kann (wie die derzeitigen Ereignisse zeigen). Denn in der Demokratie haben jeder Mann und jede Frau jeweils eine Stimme von gleichem Gewicht. Damit die Gemeinschaft vom Geist der Freiheit erfüllt ist, muß sich aber jeder Wähler bewußtgemacht haben, als Bürger aus eigenem freien Willen zu wählen, was er als Gemeinwohl erachtet, das er mit allen anderen teilt. Bourguiba hatte es in seinem pädagogischen Bemühen jedoch unterlassen, die einzelnen Etappen auch wirklich umzusetzen, die vom autoritären Staat – der den Menschen die Kultur der Freiheit nur eintrichtert – zum demokratischen Staat führen, der die tatsächliche Ausübung von Freiheit gewährleistet.

(…)

1957 zerschlug Bourguiba die Zitouna-Universität: Ich komme aus einem Milieu, das von der Zitouna geprägt wurde, daher weiß ich, welche Auswirkungen diese Zerschlagung hatte. Sie war von der Demütigung der höchsten religiösen Würdenträger und Gelehrten begleitet, die bis dahin in hohem Ansehen gestanden hatten. Jenen, die es nicht mehr wissen, sei in Erinnerung gerufen, daß die Zitouna eine Moschee mit angeschlossener Hochschule war, die auf eine über tausendjährige Tradition zurückblicken konnte.

Hätte so etwas wie die Zitouna im Rahmen der Republik fortbestanden, hätte es weiterhin eine Institution gegeben, in der die „oberste religiöse Instanz“ zwar der Autorität und Kontrolle des „Herrschers“ unterstanden hätte, gleichzeitig aber ihre regulierende Rolle als Stifter von Normen im Namen des Glaubens hätte spielen können − eine Vorstellung, die bei einem Großteil der Bürger noch immer tief verwurzelt ist.

(…)

Meine Bewunderung gilt weiterhin auch der Eindämmung des politischen Islam durch Bourguiba, der die Lage richtig analysiert hatte, als er in der ungezügelten Bezugnahme auf den Islam ein Hindernis für die Schaffung einer erneuerten, an die säkulare Welt des Jahrhunderts angepaßten nationalen Gemeinschaft erblickte. Drei Entscheidungen, die er sehr bald, nämlich schon 1956, getroffen hatte, machen ihn zu einem der hellsichtigsten Staatsmänner. Sie betrafen die Emanzipation der Frauen, den umfassenden Ausbau eines modernen, säkularen Bildungssystems und die Geburtenkontrolle. Die heutige Anthropologie bestätigt, daß diese drei Parameter entscheidend dafür sind, traditionelle Gesellschaften in die demokratische Moderne zu führen.

(…)

Diese lobenden Worte über Bourguiba sollten jedoch nicht als ein Widerspruch zu der Kritik aufgefaßt werden, die ich im Zusammenhang mit der Zerschlagung der Zitouna an ihm übe. Eine richtige und gerechte Lösung wäre es gewesen, der Zitouna ihre umfassende Hegemonie zu nehmen, gleichzeitig aber die Bedingungen dafür zu schaffen, daß sie auf dem Gebiet des Kultus, des Ritus, des Glaubens und der theologischen Überlieferung ihre regulierende Funktion hätte ausüben und somit Brücken hätte schlagen können, welche die unterschiedlichen Komponenten der Gesellschaft miteinander verbinden.

(…)

Zudem müssen wir in Bourguibas Persönlichkeit auch ihre höchst symbolische Dimension berücksichtigen, die auf die Kluft verweist, deren Erbe wir als Muslime sind − jene Kluft, die der Begegnung mit der Andersheit (sei es die der Frau oder die anderer Religionen) entgegensteht und die das Gesetz durch die Vorherrschaft einer Norm fesselt, die den Raum der Freiheit auf eine konsensuelle Enklave reduziert, die kaum Luft zum Atmen läßt. Der Bourguiba des Bourguibianers hat sich schließlich frei gemacht von der Figur des egotistischen Diktators, den der Bourguibist glühend verehrt. Im Bourguiba des Bourguibianers findet sich alles Positive verdichtet, das die drei Ahnen der reformistischen Genealogie hervorgebracht haben: die Etablierung des Rechtsstaats (Kheireddine), das freie Individuum (das Schabbi sich wünschte) und die Heilung vom Trauma, das die Andersheit der Frau darstellte (auf das Haddad hingewiesen hatte).

Wir müssen uns auch von Bourguibas Methodik und Rhetorik inspirieren lassen, mit deren Hilfe er das Volk zu überzeugen vermochte, indem er dessen Sprache sprach − die er jedoch mit den Lehren eines Condorcet, eines Rousseau, eines Victor Hugo und eines Averroes bereicherte. Und ist ihm nicht in der Tat gelungen, die Menschen dazu zu zwingen, frei zu sein (wie Jean-Jacques Rousseau es zu Beginn seines Gesellschaftsvertrags empfiehlt)?

Diese Rückkehr zu Bourguiba steht übrigens gerade auf der Tagesordnung. Es ist kein Zufall, daß sich im März diesen Jahres 52 politische Parteien und 500 Vereinigungen der Zivilgesellschaft just in Bourguibas Geburtsstadt Monastir versammelten, um eine Struktur zu schaffen, welche die Modernisierer wieder zusammenführen sollte. Als eine Art Konzentrat der spezifisch tunesischen Reformgenealogie könnte Bourguiba zum Symbol dieser Partei werden − der natürlich nur Bourguibianer und keine Bourguibisten angehören würden.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.