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Cover Lettre International 89, Leiko Ikemura
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Inhaltsverzeichnis

LI 89, Sommer 2010

Der Ursprung der Welt

Das Wüten des Sinns zwischen Orient und Okzident

Man sucht die Tatsache zu verbergen, daß es von Beginn des Prozesses der Verwestlichung im 19.Jahrhundert an moderne Muslime gab (darunter sehr aktive bis hin zu Exaltierten). Die Verwestlichung des Islam hat sich auf bewußte, methodische Weise vollzogen, in einem schrittweisen Prozeß, der ausgelöst wurde, sobald einzelne politische, theologische oder schlichtweg gebildete Geister – in sich selbst jeweils Individuen – begriffen haben, daß die Zivilisation vom Gebiet des Islam aufs gegenüberliegende Ufer des Mittelmeers hinübergewechselt war, um in Europa ihre letztgültige Ausgestaltung zu erfahren. Zahlreiche Muslime haben also ohne irgendwelche Komplexe oder Kümmernisse beschlossen, sich diesem neuen Weltzeitalter anzuschließen und die Prinzipien und Verhaltensweisen zu übernehmen, die eine materielle Zivilisation hervorbrachten, welche das Verhältnis von Raum und Zeit verändert, das Ferne nahe rückt und alle Arten von Bewegung und Ortsveränderung im interkontinentalen Maßstab beschleunigt und erleichtert. In der osmanischen Türkei hatte dieses Phänomen ein beachtliches Ausmaß erreicht – wobei wir uns fragen müssen, warum es scheiterte; doch darum kann es nicht gehen. Es ist aber angebracht, an dieses Phänomen zu erinnern, um seine Auswirkungen auf den Lauf der Geschichte ermessen zu können.

 

Ich werde mich damit begnügen, die Gestalt eines türkischen Edelmanns in Erinnerung zu rufen: die des im osmanischen Ägypten geborenen Khalil Bey. Dieser Mann spielte in der Welt der Malerei eine gewisse Rolle, als er in Paris zum Auftraggeber eines berühmten Gemäldes von Gustave Courbet wurde zu einem Thema, das er selbst vorschlug. Es handelt sich, man ahnt es, um den Ursprung der Welt. Genauer gesagt, um den Ursprung des Menschen: Dieser wird hier durch die realistische Ansicht jenes Organs, dem das Menschenwesen entschlüpft, um in einem ersten Schock das Licht der Welt zu erblicken, auf die Materialität der organischen, biologischen Geburt zurückverwiesen. In Großaufnahme wird auf der Leinwand das Geschlecht einer Frau zur Schau gestellt, der locus des Lebens, aber auch der Lust. Es ist der Ort des Genießens und Ausgangspunkt der Nachkommenschaft, die die Welt bevölkern wird, mit all ihrer Sanftheit, ihrer Gewalt, ihrer Güte, ihrem Elend, ihren Stunden des Ruhms oder der Niederlage, unterschiedlichste Menschlichkeiten beziehungsweise Arten, Mensch zu sein, denen weder Grausamkeit noch Boshaftigkeit fremd sind, was aber keineswegs ausschließt, gemeinsam um gute Werke zu wetteifern – wenn auch in allzu seltenen Fällen.

 

Ein Muslim steht also am Ursprung eines Gemäldes der modernen abendländischen Malerei, die mit der Revolution des Subjekts einherging. Mit diesem Bild übernimmt der muslimische Auftraggeber die Tradition des Nackten, wie sie in der Geschichte der bildenden Kunst Europas in Erscheinung trat und mit den Mythen der heidnischen griechisch-römischen Antike oder den biblischen Berichten verbunden ist. Die Frage des Nackten, die sich heute, da der Louvre eine Dependance in einem islamischen Land eröffnet, in all ihrer Schärfe neu stellt, war für unseren Muslim des 19.Jahrhunderts keine Gewissensfrage.

 

In besagtem Werk wird die Tradition des Nackten von ihrem heidnischen oder biblischen Hintergrund wie auch aus dem Genre des Portraits gelöst, um scheinbar auf den manifestesten Materialismus zurückgeführt zu werden. Der Ursprung der Welt ruft weder die Geschichte von Adam und Eva noch die von Bathseba mehr auf. Dieses Gemälde ist auch völlig anders als solche, die Diana oder Venus in Szene setzen. Und es tritt in keinen Wettstreit mehr mit dem wunderbar verwirrenden Portrait, das Goya von seiner Maja desnuda (1800) schuf. Vom Nackten scheint Der Ursprung der Welt ausschließlich die Physiologie des Organs zurückzubehalten, das in seiner rohen Materialität jenseits aller Feier des Begehrens und der Lust das letzte Kettenglied der Evolutionstheorie bildet, die damals in der Luft lag und gerade systematisch formuliert wurde. Diese biologische Wahrheit wird jedoch gewissermaßen eine Verbindung mit dem Geist eingehen. Und zwar schon deshalb, weil ein solches Bild durch seine absolute Neuheit im Bereich der Malerei große Strahlkraft besitzt. Im vorliegenden Fall stellt es eine symbolische und imaginäre Verdichtung dar, indem es die Referenz „Phallus“ aufruft sowie dessen Verbindung mit seinem Anderen namens „Vagina“, die hier als eine Ikone neuen Typs verherrlicht wird. In diesem Zusammenhang kommt eine erste Ahnung auf, die uns dazu führen wird, die Sphäre der Bedeutung zu erweitern.

 

Diese Ahnung wird durch die Tatsache bestätigt, daß Khalil Bey dieses Bild auf seine Art wie ein Heiligtum behandelt hat, indem er es hinter einem grünen Vorhang verbarg. Damit behandelt er es in genau derselben Weise, in der seine Glaubensgenossen, insbesondere die Osmanen, mit dem Koran umgingen. Das heilige Buch wurde in den Häusern im Schutz eines Möbelstücks aufbewahrt, das mit einem grünen Tuch verhüllt war, wie es Antoine Galland für das 17. Jahrhundert in Istanbul bezeugt. Nachzulesen ist dies in einem Buch, mit dem der künftige Wiederentdecker oder Neuerfinder der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zum Plutarch der islamischen Völker werden wollte, und zwar in einer Anmerkung zu seiner Anthologie der Weisheit der Orientalen. Khalil Bey mußte also den Vorhang, der in der Farbe des Islam gehalten war, beiseiteschieben, wenn er ausgewählten Gästen dieses Werk zeigen wollte, das nicht im Salon hing, sondern im Flur, der zum Badezimmer führte.

 

Ist das zum Heiligtum erhobene Organ nur Teil einer mondänen Zeremonie, der sich der an die Pariser Libertinage vollkommen akklimatisierte Khalil Bey als Muslim hingab, der nicht aus den Augen verloren hat, daß man in seiner Religion die körperliche Liebe im Namen des Herrn vollzieht? Im Islam stellt der Geschlechtsakt an sich ein Gebet dar. Zehn Jahre nach 1866, dem Entstehungsjahr von Der Ursprung der Welt, tauchte im selben Pariser Milieu zudem die Übersetzung des Duftenden Gartens auf. Diese Übersetzung soll übrigens von Guy de Maupassant überarbeitet worden sein – eine Hypothese, die einige Plausibilität besitzt, da der Stil sehr flüssig ist. Diese Abhandlung der Liebeskunst, die im 16. Jahrhundert von einem aus Südtunesien stammenden Imam, Scheich Nafzawi, verfaßt wurde, beginnt mit einer Rede, deren Rhetorik bei der Predigt Anleihen nimmt, indem sie die geschlechtliche Liebe mit der Anrufung Gottes verbindet. In den dekadent-mondänen Kreisen der Pariser Dandys und Bohemiens des Fin de siècle wurde dieses Buch bei seinem Erscheinen begeistert aufgenommen. In ihm wird auch das weibliche Geschlecht gepriesen, in der wahren Lust, die es verschafft, wie in der Vielfalt seiner Formen, die ein ganzes Repertoire an Namen und Metaphern hervorgebracht hat, die es in all diesen Verschiedenheiten rühmen und ehren. Aus der Nomenklatur der Namen, die das weibliche Geschlechtsteil bezeichnen, können wir jenen herausgreifen, der dem von Courbet gemalten Bild entspricht, einem Bild, das an der Oberfläche bleibt, das sich auf den Schamhügel konzentriert, wenngleich wir auch die Schamlippen und, in der Spalte verborgen, die Klitoris erkennen können. Daher kann Courbets Bild jener Vulva entsprechen, die Nafzawi abou djebaha nennt, „die mit einer Stirn …, mit einem hervorragenden Schamhügel, der eine Art entwickelte, fleischige breite Stirn bildet.“

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.