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Cover Lettre International 56, Pedro Cabrita Reis
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Inhaltsverzeichnis

LI 56, Frühjahr 2002

Glanz und Elend des Islam

Aristokratie und Vulgarität, Esoterik und Fundamentalismus

Wenn ich hier die Frage des Niedergangs aufgreife, dann um zu einem besseren Verständnis der Kluft zwischen dem alten und dem heutigen Islam zu gelangen und um zu erfassen, was vom einstigen Glanz zum heutigen Elend geführt hat. Bekanntlich stellt al-Biruni, der große islamische Gelehrte des 11. Jahrhundets, die Elite und das gemeine Volk einander gegenüber, das heißt, eine sehr kleine Zahl und die große Masse. Bezüglich der Gottesverehrung sieht er den Unterschied darin, daß die einen nach größerer Abstraktion streben, während die anderen sich mit der sinnlichen Wahrnehmung begnügen. Es handelt sich um die Dichotomie zwischen khaca und ’ama, zwischen der Elite und dem Volk, die dem Islam in seiner großen Zeit eine Struktur gab. Diese Kategorien waren in allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens wirksam.

Elite und Volk

Schriftsteller, Denker und Dichter bildeten eine Hierarchie, deren Abstufungen im Lichte dieser Gegenüberstellung bestimmt wurden. Dies wirkt sich bis zu Averroes aus, wenn er die wörtliche Bedeutung des Korantextes betrachtet: Der Elite fällt die Aufgabe zu, die Argumente zu entwickeln, die nur mit den Methoden des Beweises zugänglich werden, die Masse hingegen hält sich an den wörtlichen Sinn.

Die Unterscheidung ist im Islam auch für den Sufismus und für die spirituellen Wege der Erfahrung gültig. Sie wird von Ibn Arabi in seiner gesamten Bildtheorie angewandt. Selbst die Lehrmeister des Sufismus, die Wissenschaft ablehnen und ihr Unwissen behaupten, unterscheiden zwischen Angehörigen der Elite und dem Volk. Dies gilt auch für al-Bistami (778 – 849), nur wird die Inspiration bei ihm durch die Abstufung der Erwähltheit bestimmt, und er stellt aus diesem Grund den Erleuchteten (ârf) nicht mit dem Gemeinen auf eine Stufe.

Ein anderes Beispiel ist Schams od-Din aus Täbris (13. Jahrhundert), ein vagabundierender Fremdling auf unaufhaltsamer Irrfahrt, dessen Ankunft und rätselhaftes Verschwinden den Lehrmeister Dlalal od-Din Rumi (1207 – 1273) ungeheuer erschütterte und leidenschaftlich inspirierte. Da er den Lehrmeister von Konya bekehrte, war Schams zum Lehrmeister der Lehrmeister geworden; er gehörte dem obersten Rang an, den die Sufis khacat-al-khaca nennen, die Elite der Elite. Seine Meisterschaft beruhte auf seiner Fähigkeit, den unsichtbaren Gott sichtbar zu machen. Diese Macht geht nicht mit gewöhnlicher Gelehrsamkeit einher. Als Lehrmeister der Lehrmeister erweckt er eine Liebe bis zum Wahnsinn.

Er veranlaßte Rumi, nachdem dieser sein Schüler geworden war, auf die Stellung als Gelehrter zu verzichten und mit ihm in seiner Einsiedlerzelle zu leben. Nach dem unerklärlichen Verschwinden seines Initiators verfaßt der untröstliche Rumi Gedichte voll des brennenden Schmerzes der Sehnsucht. Schams hat in Rumi den Gelehrten unterdrückt, um den Dichter um so lebendiger werden zu lassen. „Als Lehrmeister der Lehrmeister ist er der mächtigste Mann und der schwächste in einem, da seine Meisterschaft zugleich unendliche Unsicherheit birgt, gezeichnet durch Abwesenheit, wo sich im Rätsel das göttliche Verströmen durch sein Gegenteil offenbart."

Diese verschiedenen Fälle zeigen, daß die Unterscheidung zwischen Elite und Volk eher technisch war als sozial oder ökonomisch. Was dies bedeutet, wird offenkundig, wenn Erleuchtete die Strukturen der Macht und des Wissens zu erschüttern vermögen und damit subversiv werden. Das gilt für al-Bistami wie für den Unbekannten von Täbris, dessen Auftreten Rumis Leben völlig veränderte: Der Lehrmeister des Wissens geriet vor dem Lehrmeister der wissenden Ignoranz ins Wanken.

Die Angehörigen der spirituellen Elite sind bis in unsere Tage vorhanden. Als Reisender kann man sie in den islamischen Gesellschaften antreffen, die sich noch große Teile der Tradition bewahrt haben, wie etwa in Marokko. Einen von ihnen habe ich eines Abends im Gewand eines Bettlers in Tamesloht entdeckt, auf halbem Weg zwischen Marrakesch und dem Atlas, einem kleinen Ort, der für seine Heiligkeit berühmt ist, unter der Arkade des Torbogens vor der Kasbah der Chorfas. Die Luft war von dem strengen Geruch des Öls aus den Ölmühlen geschwängert.

Es war Pflückzeit, ein ganzer Wald von Olivenbäumen, der die Ansiedlung umschließt, gab reiche Ernte. Mit seinem schönen Bart und dem hohen Wuchs schien der Bettler, der auf mich zukam, Caravaggios Tod der Jungfrau entsprungen. Er war ebenso demütig und ebenso kräftig wie eine der Figuren, die den Leichnam der verstorbenen Heiligen umgeben, ich habe das Bild kürzlich im Louvre wiedergesehen. Als er mich erreichte, suchte er im Halbdunkel meinen Blick und reihte dann auf einfache und zugleich feierliche Weise zwei Gesten aneinander, die seine Haltung, seine Bestimmung, seinen Lebensweg zusammenfaßten. Mit der Linken zeigte er mir die Erde und die Verachtung, die er für sie empfand. Dann erhob er die Rechte zum Himmel in einer Geste, die seine Zustimmung ausdrückte: Mit geballter Energie reckte sich plötzlich sein ganzer Körper und schien bereit zum Aufstieg in den Himmel.

Mit seinem Gebärdenspiel wollte er mir offenbar sagen: Hier unten ist das Nichts, dort oben ist das Sein. Solcherart ist die stumme Beredsamkeit des aristokratischen Bettlers, den die Unkenntnis auszeichnet und der zur Elite der Elite gehört, die vom Nichtwissen erleuchtet ist, ein Bruder und Nacheiferer des Lehrmeisters von Bistam wie auch des Mannes aus Täbris. Einige von ihnen haben noch in jenen Ländern überlebt, die von den Petrodollars und dem Wahhabitismus verschont geblieben sind.

Diese Unterscheidung zwischen Elite und Volk wurde unter dem Druck der Demokratisierung ohne Demokratie aufgerieben, die mit ihrem Populismus Bildung verbreitete, ohne an die Qualität zu denken und ohne das hierarchische Prinzip auf die Schaffung einer republikanischen oder demokratischen Elite zu übertragen. So kam es zum Triumph des breiten Volkes, das, wenn es sich eine Technik aneignet, gleich vom Analphabetismus zum Spezialistentum übergeht, ohne sich am Althergebrachten zu üben, was man zu anderen Zeiten Geisteswissenschaften nannte und was heute dem Unnützen gleichgesetzt wird. In der Art und Weise, mit der man einer amnestischen oder noch unberührten Seele ein Spezialistentum eintrichtert, sehe ich übrigens ein Anzeichen für die Amerikanisierung der Welt.

Auch mit der Beherrschung einer spezialisierten Technik wurde der aus dem Volk Stammende nicht zu einer aristokratischen Figur, aus dem einfachen Grund, weil seine Ausbildung ohne Kultur stattgefunden hatte. Gerade die kulturlosen Gebildeten beschädigen das Humane am allermeisten. Ohne Zögern ziehe ich ihnen die hochkultivierten Analphabeten vor wie den Bettler von Tamesloht.

Ein Versagen der Demokratie hat die Osmose zwischen der Elite und der Masse aufgeschoben, doch eben sie bewahrt den aristokratischen Geist. Dieser hat sich zurückgezogen und seinen Platz dem vom Ressentiment zernagten Mann überlassen, der so zum Anwärter für den terroristischen und aufrührerischen Fundamentalismus wird. Auf diese Weise hat eine große Kultur, die während eines langen Niedergangs noch ihre stattliche Erscheinung gewahrt hatte, die letzten Schranken eingebüßt. Unter diesen Bedingungen wurde die Propaganda der Fundamentalisten attraktiv.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.