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Cover Lettre International 77, Francesco Clemente
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LI 77, Sommer 2007

Serbisches Requiem

Der Ministerpräsident und seine Mörder - ein politischer Kriminalfall

An diesem Mittwochmorgen fiel der Frau des serbischen Ministerpräsidenten auf, daß ihr Mann sich besonders elegant gekleidet hatte, und sie fragte, warum. Mit gutem Grund, lautete die Antwort; am Mittag stehe die Begegnung mit der schwedischen Außenministerin bevor. So wichtig die Gespräche politisch auch seien, bei einer Begegnung mit der schönen Frau Lindt spielten auch ästhetische Aspekte eine Rolle.

Zur gleichen Zeit suchte der stellvertretende Kommandant der Spezialeinheit JSO (Jedinica za Specijalne Operacije, früher die Roten -Barette), Zvezdan Jovanovic, eine Wohnung in dem weitgehend leerstehenden Gebäude in der Admiral-Geprat-Straße gegenüber dem Regierungssitz aus, von der aus er freien Blick auf Hinterhof und Seiteneingang des Gebäudes hatte. Er legte sich auf die Lauer. Drei Tage lang. Komplizen standen Schmiere, gingen ein und aus in der leerstehenden Wohnung einer früheren Rechtsanwaltskanzlei im zweiten Stock, warteten in einem Passat mit verdunkelten Scheiben und falschem Kennzeichen in der Straße mit dem Namen eines Soldaten der Roten Armee. Andere kreisten auf den Belgrader Zubringerstraßen. Dusan Spasojevic, Chef des berüchtigten Zemun-Clans, koordinierte diese -Aktion mit Hilfe manipulierter Mobiltelefone. Aufgabe von Miladin Suvajdzic war es, nach „drei BMWs mit einem schwarzen in der Mitte“ Ausschau zu halten. Neben ihm saß Misa Simovic. Simovic war der operative Koordinator. Er besaß vier Spezialhandys: Mit einem rief er Suvajdzic und Spasojevic an; das zweite war für den „Kontaktmann“ Bezarevic reserviert, das dritte diente für „die Akteure, die direkten Beteiligten, also Menschen, die töten sollten“ und das vierte für die Kommunikation mit dem zweiten Chef des Clans, Mile Lukovic (auch „Kum“ genannt). Man wartete mit Spannung auf die Nachricht aus der Zentrale des Sicherheitsdienstes, der für den Schutz des Ministerpräsidenten zuständig war. Dort hatte Spasojevic „seinen“ Kontaktmann, Branislav Bezarevic. Bezarevics Aufgabe war es, Bescheid zu geben, sobald sich die Wagen von der Wohnung des Ministerpräsidenten auf den Weg zum Amtssitz machen würden.

Der Ministerpräsident verließ sein Haus jedoch nicht wie erwartet. Er war drei Wochen vorher an der Achillessehne operiert worden und mußte sich schonen. Zwei Tage lang hatten die Vorbereitungen nicht gefruchtet. Sobald die drei Wagen in Sichtweite der Posten von Simovic und Suvajdzic kommen würden, sollte Misa (das heißt Simovic) den „Akteuren“ in der Kanzlei in der Admiral-Geprat-Straße Bescheid geben, „damit sie rechtzeitig das Gewehr bereitstellen, um es nicht die ganze Zeit an der Fensterbank angelehnt lassen zu müssen; sie haben ausgerechnet, daß für die Strecke von dort bis zum Regierungsgebäude etwa drei Minuten nötig sind, also genug Zeit, um das Gewehr in Anschlag zu bringen“. Bei Zvezdan Jovanovic traf die erwartete Nachricht gegen Mittag des 12. März ein, und schon wurde der Ministerpräsident mit Gefolge in etwa 130 Meter Luftlinie entfernt sichtbar. Mit seinem Gipsbein stieg der Regierungschef langsam aus dem Wagen, mühte sich an Stöcken zur Eingangstür, drehte sich mit dem Rücken zur Tür (um sie nach innen schubsen zu können) und stand vor dem Visier des Scharfschützen wie auf einem Tablett. Jovanovic, der beste Heckenschütze der Einheit für Spezialoperationen, gab aus einem Gewehr der Marke Heckler & Koch zwei Schüsse ab. Der erste traf mitten ins Herz, Zoran Djindjic war auf der Stelle tot. Der zweite traf seinen Leibwächter, Milan Veruovic, in die Hüfte, trat auf der anderen Seite wieder heraus und prallte gegen den Steinvorsprung des Eingangs.
 
Frau Djindjic war unterwegs, um die Kinder von der Schule abzuholen, als man sie benachrichtigte. Die schwedische Diplomatin wartete. Man hatte vergessen, sie zu benachrichtigen.

Nach dem Sturz Milosevics am 5. Oktober 2000 betrieb Zoran Djindjic – die treibende Kraft der Bewegung und Hauptmanager des Machtwechsels – nach allgemeiner Überzeugung eine Politik der „Diskontinuität“ mit der Ära Milosevic. Sein Mitstreiter Vojislav Kostunica bevorzugte eher kosmetische Änderungen. Die schon anfangs zu beobachtende Unvereinbarkeit dieser politischen Ausrichtungen führte bald zu tiefen Zerwürfnissen.

In der Milosevic-Ära wurden alte kommunistische Gesetze nur geändert, wenn es galt, sie den Bedürfnissen seines Machterhalts anzupassen. Nachdem Zoran Djindjic am 25. Januar 2001 im serbischen Parlament zum Ministerpräsident gewählt worden war, standen für seine Regierung die Reform des Gesetzeswerkes der Republik sowie die Modernisierung der Justiz an oberster Stelle. Zwei Vorhaben enthielten besondere Sprengkraft: das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und die dazu gehörende Kronzeugenregelung einerseits, andererseits das Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY, International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia), das die legale Basis für die Auslieferung serbischer Staatsbürger gemäß dem Abkommen von Dayton (zur Beendigung des Krieges in Bosnien-Herzegowina, Herbst 1995) beziehungsweise der Resolution des UN-Sicherheitsrates (Nummer 827, von 1993) schaffen sollte. Diese Vorhaben stießen auf den Widerstand nicht nur der Kräfte des alten Regimes, sondern auch von einigen Koalitionären, die zuvor als geeinigte Opposition (DOS, Demokratische Opposition Serbiens) für die Ablösung des Milosevic-Regimes gekämpft hatten. Insbesondere stellte sich Milosevics Nachfolger im Präsidentenamt der damals noch existierenden Bundesrepublik Jugoslawien (bestehend aus Serbien und Montenegro und gegründet 1992 von Milosevic), Vojislav Kostunica, gegen den Reformkurs. Gegen die Gesetzesvorhaben waren Obstruktionen jeder Art und aller Ebenen – vom Parlament bis in oberste Staatsämter – im Gange.
 
Ein „Antimafiagesetz“ war dringend erforderlich, und es wäre zu erwarten gewesen, daß alle politischen Kräfte und die zivile Öffentlichkeit sich darüber völlig einig gewesen wären. Wie ein Vampir lebte die Leiche Jugoslawien in Serbien weiter. Die bösartige Kraft dieser Leiche hatte in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina Kriege hervorgebracht, und sie ermöglichte es Milosevic sogar, noch nach verlorenen Kriegen zu herrschen und einen Feldzug gegen das Kosovo zu entfachen; sie verpestete auch nach seiner Absetzung noch die Möglichkeit einer Normalisierung in den beiden Teilrepubliken Serbien und Montenegro. Bis Juni 2006, als Montenegro unabhängig wurde, war Serbien kein normaler Staat. Es bestand aus vielfachen staatlichen Strukturen, faulen Überresten des einstigen Bundesstaates, in denen sich neue Machtansprüche einnisten konnten.

Eine Justizreform ist nach Jahrzehnten der Diktatur überall ein schwieriges Unterfangen; in Serbien war dies wegen der konkurrierenden Zuständigkeiten der Bundes- und Republikebene noch weitaus schwieriger. Eine der Hinterlassenschaften aus föderalen (sozialistischen) Zeiten bestand darin, daß die Reform des Strafrechts dem serbischen und die des Verfahrensrechts dem Bundesgesetzgeber oblag. Statt sich zu einigen und ein Gesetzespaket vorzubereiten, das in beiden Häusern hätte verabschiedet werden können, entdeckte Milosevics Nachfolger hier eine Möglichkeit, Reformen zu verschleppen und seine Macht auszubauen. Präsident Kostunica hatte niemanden aus den Reihen der vereinigten Opposition (DOS), die seinen Sieg gegen Milosevic ermöglicht hatte, zum Kabinettsmitglied gemacht. Im Bundesparlament stimmte seine Partei meist mit den Abgeordneten der montenegrinischen Sozialistischen Partei, unverbrüchlichen Anhängern Milosevics. Kostunicas Demokratische Partei Serbiens (DSS) war vor jener Wahl eine unbedeutende Gruppierung gewesen. Nach seinem Sieg stieg Kostunicas Popularität schlagartig, was einen Massenansturm neuer Mitglieder zur Folge hatte, viele aus den Reihen der Sozialistischen Partei (SPS). Damals schrieb der Korrespondent der NZZ: „Seit Kostunicas kometenhaftem Aufstieg hat die ursprünglich aus gemäßigten Nationalisten zusammengesetzte Partei gewaltigen Zulauf erhalten; auch von Figuren, die direkt aus Milosevics Dunstkreis ins Lager des neuen starken Mannes gewechselt hatten.“ (20. August 2001) Kostunica, der sich zunehmend von der DOS distanzierte, gewann so eine ausreichende Machtbasis, um die Initiativen der serbischen Regierung zu blockieren.

Im Juli 2002 legte die serbische Regierung dem Abgeordnetenhaus (Skupstina) einen Gesetzesentwurf über Sonderzuständigkeiten bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption nach westlichem Vorbild zur schnellen Verabschiedung vor. Das Gesetz sah die Schaffung einer Sonderabteilung beim Bezirksgericht sowie eines Sonderstaatsanwalts vor. Die Kronzeugenregelung erforderte Gesetzesänderungen auch auf Bundesebene. An diesem Hebel saß der „jugoslawische“ Präsident mit seinen alt-neuen Mehrheiten im Bundesparlament, und alle zusammen sperrten sich gegen das Vorhaben. Auch in der Öffentlichkeit gab es Widerstände gegen die Gesetzesreform, sogar nachdem das Gesetz im serbischen Parlament im Juli 2002 verabschiedet worden war. Kosta Nikolic, Koautor einer Dokumentation über Kostunica, schreibt: „Es entstand eine paradoxe Situation: Das wichtigste Segment des Gesetzes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität sollte durch das Bundesparlament gebilligt werden, die Verantwortung für den Kampf gegen die Kriminalität mußte aber die Regierung der Republik übernehmen.“

Es dauerte fünf Monate, bis das Komplementärstück des Gesetzes im Bundesparlament verabschiedet wurde. So wurde wertvolle Zeit vergeudet.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.