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Cover Lettre International 85, Daniel Richter
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LI 85, Sommer 2009

Schmutziges Geld

Zehn-Euro-Scheine für neun Euro gibt es nicht. Es versteht sich von selbst, daß es sie nicht gibt. Es versteht sich von selbst, daß man für neun Euro vieles haben kann, aber eben keine zehn Euro.

Es versteht sich für uns von selbst. Doch der Euro ist nur eine Währung von vielen. Zehn-Rupien-Scheine in Indien werden sehr wohl auch zu neun Rupien, Zehn-Naira-Scheine in Nigeria sehr wohl auch zu elf oder zwölf Naira gehandelt. Nicht überall auf der Welt sind Geldscheine so austauschbar wie bei uns, nicht überall kann man sich darauf verlassen, daß ein Schein so gut ist wie der andere.

Nicht überall sind die Scheine so sauber wie bei uns. Geldscheinhandel ist eine Folgeerscheinung von Geldscheinverschleiß. In Indien und in Nigeria bleibt auch altes und abgenutztes Papiergeld noch lange im Umlauf. Es wäre Aufgabe der Banken, es früher aus dem Verkehr zu ziehen, doch es sind nicht genug Banken da. Es sind auch nicht genug neue Scheine da. Es wäre Aufgabe der Zentralbanken, neues Geld zu drucken und es an die Banken auszuliefern, doch die Zentralbanken haben das Problem zu lange unterschätzt.

Geldscheinhandel ist Straßenhandel. Er findet nicht am Bankschalter statt. In Nigeria gehen fliegende Händlerinnen über die Busbahnhöfe und bieten als Ware frische, saubere Geldscheine an. In Indien haben die Händler kleine Stände am Straßenrand und kaufen besonders schmutzige und zerfledderte Scheine auf. Neue Geldscheine sind rar, alte gibt es im Überfluß. Hunderte von Millionen von Scheinen in Indien und Nigeria sind schmutzig und zerfleddert. Man kann niemandem zwingen, einen verdreckten Schein anzunehmen; wer es sich leisten kann, der weist ihn zurück. Je älter das Geld, desto schlechter läßt sich damit bezahlen. Irgendwann ist der einzige Ort, an dem ein alter Zehn-Rupien- oder Zehn-Naira-Schein noch zehn Rupien oder Naira wert ist, die Schalterhalle einer Bank. Nur eine Bank ist verpflichtet, auch den ältesten und verschlissensten Schein noch anzuerkennen und umzutauschen. Doch die nächste Bank ist meist weit, die Schlange vor dem Umtauschschalter lang und der Schein, den man schließlich als Ersatz bekommt, oft auch nicht viel besser.

Geldscheinhandel ist eine Notlösung. Man erspart sich den Weg zur Bank und gibt den Schein für weniger her. Man überläßt es dem Geldscheinhändler, am Umtauschschalter Schlange zu stehen. Man überläßt es ihm, sich mit der Bank herumzuärgern. Der Bank ist das Umtauschen alter Scheine lästig; sie kann nicht mehr neue verteilen, als ihr von der Zentralbank nun einmal geliefert werden. Sie versucht, einen abzuwimmeln. Sie versucht es mit Ausflüchten und Vorwänden und Schwindeleien. Größere Summen etwa zahlt sie einem nur gebündelt aus, in Bündeln, die aber manipuliert sind: Die Banderole ist neu, die Scheine oben und unten sind es auch, doch die Scheine dazwischen sind genauso alt wie die, die man gerade gebracht hat. Ein Geldscheinhändler weiß sich dagegen zu wehren, ein Laie weiß es nicht.

Der Geldscheinhändler hat Erfahrung und Geduld und Beziehungen. Er weicht nicht eher wieder vom Umtauschschalter, als bis die Bank ihm auch den letzten Schein ersetzt hat. Er kennt seine Rechte. Er läßt es sich nicht gefallen, daß man ihm alte Scheine unterschiebt. Alte Scheine kann er draußen auf der Straße billiger bekommen; eben darauf beruht ja sein Geschäftsmodell. Die Bank muß altes Geld eins zu eins gegen neues umtauschen, auf der Straße aber ist der Kurs Verhandlungssache. Der Geldscheinhändler ist hartnäckig, weil er weiß, daß seine Hartnäckigkeit sich bezahlt machen wird. Das druckfrische Geld, das er am Ende mit nach draußen nimmt, ist dort mehr wert als die alten und abgegriffenen Scheine, die er gebracht hat.
110 bis 120 Naira in alten Scheinen nimmt ein Händler in Nigeria für einhundert Naira in neuen, achtzig bis neunzig Rupien in neuen Scheinen gibt ein Händler in Indien für einhundert Rupien in alten. Eine Zahl ist nicht einfach eine Zahl. Eine Zehn auf einem alten Zehn-Rupien- oder Zehn-Naira-Schein ist etwas anderes als eine Zehn auf einem neuen. Der Geldscheinverschleiß hat Folgen, auf die die Geldscheinhersteller nicht vorbereitet waren. Für die Hersteller – die indische und die nigerianische Zentralbank – ist die Zehn eine amtliche Wertangabe, für den Geldscheinhändler und seine Kunden nur eine unverbindliche Preisempfehlung.

Für die Hersteller geht es um ihr Ansehen und ihre Autorität. Die Zentralbanken geben ihr Wort, aber ihr Wort genügt nicht. Die Zentralbanken verbürgen sich dafür, daß ihre Scheine das wert sind, was draufsteht, aber sie können es nicht beweisen. Keine Zentralbank der Welt könnte es. Es gibt keinen Beweis. Doch eigentlich ist eine Zentralbank solch einen Beweis auch niemandem schuldig. Es gibt im Umgang mit Geldscheinen gewisse Regeln, und eine Zentralbank hat ein Recht darauf, daß diese Regeln eingehalten werden. Nach einigem Zögern haben die indische und die nigerianische Zentralbank sich darauf auch besonnen. Sie haben beschlossen, ihrem Wort wieder Geltung zu verschaffen. Wenn sie gewollt hätten, daß es Neun-Rupien-Scheine gibt oder Elf-Naira-Scheine, dann hätten sie die schon selbst gedruckt.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.