LI 96, Frühjahr 2012
Rosinen aus Berlin
Eine fliegende Hypothese über die Nachkriegszeit und die Flucht aus BerlinElementardaten
Textauszug
Kein Begriff des Kalten Krieges hat die Zeiten so unbeschadet überstanden wie das Wort Luftbrücke. Nichts konnte der gleißenden Mythe und ihrer Schattenschwester, der Blockade, etwas anhaben. Eine Brücke aus Luft, das klingt wie ein Romantitel von André Breton: Un pont fait d’air. Wie auf einem Bild von Magritte schwebt sie als politisches und technisches Bauwerk ohne Fundament und Silhouette am Himmel der Propaganda – unantastbar bis heute. Ihre Erfinder waren wirkliche Surrealisten. Denn die Luftbrücke gab schlagfertig die Antwort auf eine Frage, die so nie gestellt worden war. Im Gegenlicht funkelt die Aluminiumhaut der Flugzeuge. Ins Gegenlicht blinzeln die Kinderaugen, recken sich dünne Ärmchen zum Winken. Das Dröhnen der Motoren, vermischt mit dem Geläut der Freiheitsglocke und der sich überschlagenden Stimme „Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika“ mit dem berühmten Kieckser nach dem ö und dem beschwörenden „Schaut auf diese Stadt!“ – sie waren der soundtrack zur Geburt Westberlins. Die Erinnerung verblaßt, gerahmt in eine Legende. Auf dem alten Bild sind nach über 60 Jahren kaum noch die Konturen erkennbar.
Die ehemaligen Schutzmächte führen gemeinsam mit ihren Schützlingen alle zehn Jahre in Berlin die Reprise eines politischen Kindertheaters auf, das Passionsspielen ähnelt. Ein Märchen, in dem die böse Schwester der anderen das Brot vom Munde stiehlt, in dem die gute Schokolade vom Himmel regnen läßt, im Blumengarten Mohrrüben anbaut und der bösen eine Nase dreht. Goldmarie im Sommerkleid zeigt ihre neuen Geldscheine und steckt sich lässig eine Amizigarette in den Mundwinkel, während Pechmarie, die Trümmerfrau, trocken Brot kaut und neidisch auf die Stadthälfte von Goldmarie schielt. Zuletzt fährt unter Glockengeläut und Konfettiregen ein Lastwagen auf die Bühne, girlandengeschmückt, mit einem Schild: „Hurra, wir leben noch.“ Beifall von allen Seiten. Oberammergau an der Spree.
Wie wurde die Bevölkerung einer Großstadt, die 1925 die größte Industriemetropole des europäischen Kontinents war, ein Pflegefall? Berlin wurde nur zwanzig Jahre später zum Kostgänger der Sieger des Zweiten Weltkrieges, denen es trotz aller militärischen Überlegenheit nicht gelungen war, mehr als 25 Prozent dieses enormen Potentials an wirtschaftlicher Leistungskraft zu zerstören. Bei Kriegsende begann eine Entindustrialisierung Berlins, die mit Demontagen, Kapitalflucht, Stillegungen und Verlagerungen so lange fortgesetzt wurde, bis sich die Stadt von einer prosperierenden Industrielandschaft in eine subventionierte Provinz verwandelt hatte. Bis heute besteht eine Abhängigkeit von Zuwendungen, die sich in der Mentalität der Bewohner mit nahezu naturgesetzlicher Selbstverständlichkeit eingerichtet hat. Gab es politische und wirtschaftliche Alternativen zur Flucht aus Berlin? Warum und wohin ging die Wirtschaftskraft der Stadt? Wie konnte es gelingen, sie ihrer wirtschaftlichen Elite und der materiellen Basis der Beschäftigung zu beheben und zugleich den Rest der Bevölkerung über Jahrzehnte in sozialer Sicherheit zu erhalten?
War die Berlin-Krise von 1948 eine Ursache oder das Ergebnis wirtschaftlicher Entscheidungen, die sich so nachhaltig auf die Geschichte der Stadt ausgewirkt haben, daß sie bis heute spürbar sind?
Warum erlebte Berlin eine Wirtschaftskrise ausgerechnet in jenem Jahr, in dem die Wirtschaft der Westzonen ihren ersten Nachkriegsaufschwung hatte? Bis heute muß man Antworten darauf in einer Vielzahl von Einzeldarstellungen suchen, da es an einer umfassenden Wirtschaftsgeschichte Berlins mangelt.
Einige Fragen sind bis heute nie befriedigend beantwortet worden. Unter ihnen ist meine, die einfach klingt: Was war in den Rosinenbombern, wenn sie die Stadt verließen?
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Blockade für wen?
„Es gibt keine Blockade in Berlin“, erklärte Marschall Sokolowski am 2. Oktober 1948 vor der Presse. So absurd diese Erklärung den angereisten Journalisten vorgekommen sein mag, so verständlich war sie. Das einem Russen das Wort Blockade – oder gar Hungerblockade, – nicht über die Lippen kam, hatte mehr als nur politische Gründe. Bei einer anderen Blockade, von der wenige Jahre zuvor für mehr als 900 Tage die Stadt Leningrad betroffen war, verhungerten über eine Million Menschen. 900 000 russische Soldaten fielen bei der Verteidigung des heutigen St. Petersburg gegen die deutsche Wehrmacht. Das Wort Blockade hatte in den Ohren sowjetischer Politiker und Militärs also einen anderen Klang; und der Vorwurf, sie würden den Westteil Berlins aushungern wollen, stieß auf vollständiges Unverständnis. Die Wahl dieses Begriffs erschien insofern obszön. Man vergleiche Schostakowitschs siebte, die Leningrader Sinfonie mit dem arglosen Geträller der Insulaner, die auf den Radiowellen des Rundfunks im amerikanischen Sektor RIAS den Durchhaltewillen der eingeschlossenen Westberliner stärken wollten.
Im wörtlichen Sinne war die Stadt nicht einen Tag lang blockiert. Wenn auch die Autobahn zwischen den westlichen Zonen und Berlin, die Eisenbahnstrecken und die Wasserwege als Verbindung für den Güter- und Personenverkehr unterbrochen waren, konnte eine vollständige Einschließung der Stadt schon aus technischen Gründen nicht durchgeführt werden. Zudem war sie aus politischen Gründen auch nicht gewollt. Die Blockierung sollte die Westalliierten treffen, auf die Wirtschaft und die abtrünnige Verwaltung der Halbstadt Druck ausüben und die schrittweise Entkernung der Wirtschaftskraft der Stadt unterbinden. An eine Einschließung der Bevölkerung war nicht gedacht. Straßenverbindungen zwischen Ost- und Westberlin wurden nur auf den Hauptstraßen kontrolliert. Es gab wenige Straßensperren, die S-Bahnen fuhren zwischen den Sektoren der Stadt fahrplanmäßig hin und her, Fußgänger und Radfahrer gingen und fuhren, wohin sie wollten. Schon längst kontrollierte man willkürlich den Personenverkehr an den Grenzen, was vor allem die Hamsterer und Schieber traf. Doch schon der Mangel an Polizisten verhinderte schwerwiegende Beeinträchtigungen des Alltags. Das Bild von der eingesperrten Stadt Westberlin war ein Propagandagemälde. Mit ihm sollte Angst in beherrschbarer Dosis erzeugt werden, und mit der Angst Sympathie und Abhängigkeit gegenüber den nunmehr als Schutzmacht auftretenden Besatzern. Eine Untersuchung der amerikanischen Militärregierung vom Juli 1948, durchgeführt als laufende Umfrage, ergab, daß 82 Prozent der Westberliner mit einem neuen Krieg innerhalb der kommenden zehn Jahre rechneten. Die Berliner hatten bei der Bewältigung ihres Alltags zu viele praktische Sorgen, um sich der tieferen Bedeutung dieser ersten Schlacht des Kalten Krieges ausführlich zu widmen. Der Mangel an Lebensmitteln, die Erschwernisse beim Reisen innerhalb der Zonen und Sektoren, beim Zusammenführen oder Zusammenhalten der Familien, das Elend der Flüchtlinge und die displaced persons, das Durcheinander der Geldscheine seit der Währungsreform – all das war viel lebenswichtiger. General Lucius D. Clay und seine Stabsoffiziere schienen nur auf das russische Stichwort gewartet zu haben, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Nachdem ihm ein militärischer Einsatz untersagt worden war, schaltete Clay um auf die medienwirksame Darstellung technischer Überlegenheit. Er bestellte in Frankfurt am Main ein Flugzeug, das umgehend mit Kohlen beladen in Tempelhof landen sollte. Und er orderte Berliner Fotografen und Journalisten, die von der Landung der Maschine berichten sollten. Die Fotografen waren die einfachere Bestellung, ein Flugzeug voller Kohlen war nicht so leicht zu beschaffen. Die US Air Force rief also am 23. Juni 1948 bei der AOA (American Overseas Airlines) in Frankfurt am Main an und bat, aus der einzigen dort stehenden DC-4 die Sitzreihen auszubauen, um „noch heute abend“ Kohlen nach Berlin zu bringen. Man lehnte dieses Ansinnen kategorisch ab, denn das Flugzeug war eine Passagiermaschine mit einer gut gepolsterten Kabine, die auf keinen Fall schmutzig werden durfte. Clay änderte seine Bestellung um in Kartoffeln, die pünktlich vor dem Andruck der Zeitungen um 22.10 Uhr in Westberlin eintrafen und wirkungsvoll im Scheinwerferlicht entladen wurden. Am nächsten Morgen war zu lesen, Westberlin werde sich nicht beugen. Mit diesem Medienauftritt einiger Kartoffelsäcke war die Luftbrücke für die Westberliner Bevölkerung geboren.
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Verlagern oder Verlieren
Sechs Wochen nach Beginn der Luftbrücke fand im Kreml eine Unterredung zwischen Stalin und dem Moskauer US-Botschafter Walter Bedell Smith statt. Dieser hatte um das Gespräch in Anwesenheit seiner englischen und französischen Kollegen gebeten, um die „äußerste Besorgnis“ über die „von den sowjetischen Behörden unternommenen Handlungen, die die Verbindung zwischen Berlin und den Westzonen unterbrochen hätten“, auszudrücken. Die Maßnahmen zur Beschränkung der Verkehrsverbindungen zwischen den Westzonen und Westsektoren Berlins könne man nach Ansicht der Diplomaten nicht mit der Währungsreform rechtfertigen. Die Botschafter vermieden das Wort Blockade und versuchten, Stalin eine diplomatische Brücke zu bauen: Die drei Regierungen seien der Ansicht, daß, wenn diese Maßnahmen durch technische Ursachen hervorgerufen würden, diese leicht ausgeräumt werden könnten.
Die Herren führten eine standesgemäße diplomatische Pavane auf. Auf dem polierten Parkett des Kremls schritten sie anmutig um einander, wobei man den äußerlich etwas schwerfällig wirkenden Stalin als durchaus geschmeidigen Tänzer erleben konnte. Nach einigem Hin und Her griff Stalin die Formulierung von den technischen Ursachen geschickt auf und erklärte, es habe sich herausgestellt, daß in großem Umfang Industrieausrüstungen aus Berlin in den Westen verbracht worden seien, was nicht rechtmäßig wäre. „Wir wollten diese Transporte von Ausrüstungen in den Westen stoppen.“
Auf diese Absetzbewegung aus den Westsektoren der Stadt gingen die Gesprächspartner Stalins wiederum aus naheliegenden Gründen nicht ein. Alle Beteiligten wußten, daß Verlagerungen gegen die Verordnungen der Militärregierungen der Sektoren verstießen. Das einzige Mittel, um die Entkernung Westberlins tatsächlich zu verhindern, lag aus russischer Sicht in der Blockierung jener Transportwege, auf denen sie durchgeführt wurde. Die Wirtschaft Berlins begann mit ihrer Emigration bereits im Jahr 1944. Noch vor dem Kriegsende hatten drei große Aktiengesellschaften die Stadt verlassen. Dies mußte unter dem Deckmantel der zeitweiligen Evakuierung aufgrund des Bombenkrieges geschehen und durfte nicht nach Fahnenflucht aussehen.
Während und nach den massiven Demontagen des Jahres 1945 ging diese Absetzbewegung weiter. Im folgenden Jahr waren es bereits 18 Unternehmen, darunter Mannesmann Stahlblechbau AG, Deutsche Mühlenvereinigung AG, Salzdetfurth und Vereinigte Kaliwerke Salzdetfurth AG. Im Jahr 1947 verließen 37 Aktiengesellschaften Berlin, unter ihnen stolze Namen wie Singer Nähmaschinen AG und Karstadt, die Knorr-Bremse und Kodak.
Der Höhepunkt der Abwanderungswelle wurde im Blockadejahr 1948 erreicht: 48 Aktiengesellschaften verließen die Stadt. Die Bergbaugesellschaft Teutonia AG verschwand am 9. Juli aus Niederschöneweide im Ostsektor und tauchte in Hannover wieder auf. Der Radiohersteller C. Lorenz AG verließ am selben Tag Berlin-Tempelhof in Richtung Stuttgart. Sarotti verlagerte am 3. September von Tempelhof nach Hattersheim, die Vereinigte Krankenversicherung AG ging mit einem zweiten Sitz am 12. Oktober nach München, die Frankonia Rück- und Mitversicherungs AG folgte am 29. November und gründete einen Firmensitz in Heidelberg. Die Liste ist lang und illuster, sie umfaßt für die Zeit vom Mai 1948 bis zum offiziellen Ende der Luftbrücke im September 1949 die Namen von 64 Aktiengesellschaften. Darunter waren 17 Versicherungsunternehmen, drei Kalikonzerne, der Quandt-Konzern, Unilever und die größten deutschen Elektrokonzerne. Berliner Firmen verteilten sich über die Westzonen, von Hamburg über Essen und Nürnberg bis nach München. Den finanzstarken großen Firmen und Kapitalgesellschaften folgte eine weit größere Zahl kleinerer Unternehmen.
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Pressespiegel
Die erste Schlacht des Kalten Krieges wurde aus der Luft geführt. Die Transportflugzeuge der Luftbrücke brachten neben Treibstoffen und Kartoffeln als drittgrößten Einzelposten Zeitungspapier in die Stadt. Die Bevölkerung der Stadt sollte moralisch aufgerüstet werden, Informationspolitik war dringend notwendig und wurde hoch subventioniert. Beide Seiten lieferten sich einen medialen Feldzug, in dem nicht an Druckerschwärze gespart wurde. Noch gab es alle Zeitungen überall in Berlin zu kaufen, und so las der Berliner täglich, was seine Herren beschlossen hatten und was er zu denken und zu glauben hatte. Bald wurde im Zuge von Blockade und Gegenblockade der Pressevertrieb durch Boykottmaßnahmen erschwert. Aber Zeitungen und Radiosendungen fanden immer ihren Weg. Die Besatzungsmächte unterhielten in ihren Sektoren eigene Tageszeitungen und kontrollierten die von ihnen lizenzierten deutschen Presseorgane streng. Während es der Westberliner Presse darum ging, die Folgen der Blockade als dramatisch und lebensbedrohlich für die Bevölkerung und die Luftbrücke als einzige Rettung vor dem Verhungern darzustellen, prangerten die Zeitungen des Ostsektors die verheerenden Folgen der Politik der Westmächte an und stellten die Luftbrücke als ein Reklameunternehmen dar, welches auf Kosten der Bevölkerung und zum Nachteil der Stadt durchgeführt wurde.
Im Frühjahr und Sommer 1948 konnte man immer wieder Meldungen wie diese lesen: „Vor etwa fünf Monaten wurde die Fa. Buhr, Feinmechanische Fabrik aus Köpenick illegal nach Lichtenrade im amerikanischen Sektor verlagert. Die Firma wurde unverzüglich wieder in Betrieb genommen und hat von den Amerikanern die Anweisung erhalten, sofort sämtliche feinmechanischen Geräte und Maschinen nach und nach unauffällig zum Flugplatz Tempelhof zu schaffen, damit der Abtransport nach dem Westen erfolgen kann.“ Unter der Überschrift stand: „Luftbrücke funktioniert – Ausplünderung Westberlins geht planmäßig weiter“, die „Evakuierung der Westberliner Großbetriebe wird mit fieberhafter Eile auf dem Luftwege vorangetrieben“. Mehr als 500 Tonnen der wertvollsten Industriegüter würden täglich auf den Flugplätzen Tempelhof und Gatow in amerikanische und britische Transportmaschinen verladen und nach dem Westen ausgeflogen. Es sollte sich dabei nicht nur um Fertigprodukte, sondern auch um abmontierte Ausrüstungsgegenstände handeln. „So erhielt beispielsweise die AEG von einem Vertreter der britischen Militärverwaltung die Anordnung, 40 Elektromotoren abzumontieren und zum Versand in die britische Zone bereit zu stellen. Am Donnerstag wurden die Motoren aus Berlin abtransportiert. Gleichzeitig ist nochmals ausdrücklich eine totale Rohstoffeinfuhrsperre von den amerikanischen und britischen Behörden bestätigt worden.“
Die Militärregierung des US-Sektors erließ im Juli 1948 einen Befehl an die Verwaltung, in dem die „Einstellung des Betriebes aller Lebensmittel verarbeitenden Unternehmen“ angeordnet wurde. ies wurde mit dem Mangel an Elektroenergie begründet, der trotz der umfangreichen Kohlelieferungen über die Luftbrücke nicht behoben werden konnte. Sogar Westberliner Zigarettenfabriken wurden geschlossen, während Millionen von amerikanischen Zigaretten auf dem Luftweg in die Stadt gebracht wurden. Es kam zu flächendeckenden Stromsperren. Die Straßenbahnen und die Untergrundbahn fuhren eingeschränkt, selbst in Kliniken wurde der Strom abgeschaltet. Eine mit großer Lautstärke von russischer Seite angebotene Lieferung von Briketts aus der Ostzone wurde vom Westen ebenso plakativ abgelehnt. Auf die Blockierung der Zufahrtswege wurde mit einer Gegenblockade reagiert, die den wirtschaftlichen Austausch mit dem Umland unterbinden sollte. Innerhalb von fünf Monaten wurden 1948 deshalb 13 682 Tonnen Fertigwaren und Industriegüter nach Westberlin eingeflogen, während Produktionsstandorte in der Stadt wegen Rohstoffmangel stillgelegt werden mußten. Auf diese Weise erhöhten sich die Abhängigkeit der Verbraucher und gleichzeitig die Arbeitslosigkeit in der Stadt. In Frankfurt am Main fand im Juni 1948 eine Direktoratssitzung des bizonalen Verwaltungsrates statt: „Dabei wurde auch die Frage berührt, wie hochwertige Fertigprodukte, von denen bereits eine Menge im Wert von 50 Millionen Reichsmark versandfertig in Berlin warte, zu nutzen seien“, um im Gegenzug Warenlieferungen nach Westberlin zu finanzieren. Oberdirektor Pünder otierte am folgenden Tag für seine Vorgesetzten: „Namens des Verwaltungsrats richte ich an die Herren Generäle die dringende Bitte, die Einrichtung eines Flugdienstes von praktischer Wirksamkeit für die Ausfuhr von Gütern aus Berlin beschleunigt vorzusehen. Die Erfüllung dieser Bitte wird vielleicht dadurch erleichtert, daß die für die Versorgung der alliierten Truppen in Berlin eingesetzten Flugzeuge auf dem Rückflug zur Beförderung von Gütern aus Berlin in die Westzonen ausgenutzt werden.“ Anlaß zu diesem Vorschlag war die Bemerkung der Herren Generäle, daß man „möglichst wenig in der Öffentlichkeit von diesen Möglichkeiten der Verwendung des Leerraums der alliierten Flugzeuge auf ihren Flügen zum Transport hochwertiger Berliner Fertigwaren sprechen solle“. Dieser Rat wurde bis heute so gründlich befolgt, daß man über die tatsächliche Verwendung des während der Luftbrücke stetig steigenden Aufkommens von Lufttransportraum aus Berlin so gut wie keine öffentlichen Aussagen findet.
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Eine der Absonderlichkeiten der Luftbrücke bestand darin, daß der Umzug in die Westzonen für die große Mehrheit privater Berliner Haushalte nahezu unmöglich gemacht wurde, während der Wegzug ganzer Firmen einschließlich ihrer Aktenbestände und des nötigen Personals durch alliierte Büros und Dienststellen der Westberliner Stadtverwaltung erleichtert wurden. Die Engländer brachten Zivilpersonen mit vier Flügen täglich nach Bückeburg. Von dort ging es mit dem Bus weiter nach Hannover, Herford oder Minden. Die American Overseas Airlines (AOA) flog nach Frankfurt am Main, aber nur gegen Vorlage einer Dringlichkeitsbestätigung. Dieses Papier beantragte man bei der Amerikanischen Militärregierung. Hier wurde geprüft, ob der Flug im Interesse der amerikanischen Behörden lag. Im Büro von Mr. Katz, Zimmer 224, erhielt man erst seine Flugkarte, wenn der Flug genehmigt worden war. Der einfache Flug kostete 94 DM, mit Rückflug (was nur selten der Fall war) 168 DM. Das Interesse der alliierten Militärverwaltungen war nicht in jedem Fall so einfach nachzuweisen wie bei der Firma Frigidaire. Dieses Unternehmen war eine Tochter der Adam Opel AG, die seit 1931 zu General Motors gehörte. „Nach Zerstörung der Werke in Berlin beginnt der Wiederaufbau in Rüsselsheim, das Werk in Berlin wird aufgegeben. Die Haushaltskühlschränke laufen wieder vom Band … Der erste Abnehmer war die Besatzungsmacht, seit 1948 wurde auch der zivile Sektor von Rüsselsheim aus mit Frigidaire-Kühlschränken beliefert.“
Man kann davon ausgehen, daß lange bestehende Beziehungen zwischen deutschen, amerikanischen und britischen Unternehmen, die vielfach bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten, mehrere Krisen und gerade einen Zweiten Weltkrieg überdauert hatten, bei derartigen Firmenverlagerungen aus Berlin hinter den Kulissen eine Rolle gespielt haben. Neben den Industrie- und Handelskammern, die ihre Tätigkeit im vereinigten Wirtschaftsgebiet überwiegend unter der Leitung ihres Vorkriegspersonals wieder aufnahmen, boten sich weitere Vereinigungen als Vermittler zwischen den deutschen Industrieinteressen und den Besatzungsmächten an. Eine davon war die 1947 in Frankfurt am Main gegründete Wirtschaftspolitische Gesellschaft. Sie wurde ins Leben gerufen, um bei der „notwendigen Neuordnung“ der Verhältnisse gestaltend mitzuwirken. Hier kamen Wirtschaftsführer, Senatoren, Bankiers, Industrieverbandsvorsitzende zusammen, die sich der „Pflege des geistigen Austauschs mit allen dazu bereiten, an Wirtschaft und Politik interessierten Kreisen des In- und Auslands“ und der „Pflege des persönlichen Kontakts zwischen Deutschen und Ausländern“ verschrieben hatten. In diesen Kreisen wurde und wird nicht Protokoll geführt, und auch bei der Frage, ob die Besatzungsmächte an der Evakuierung Berliner Wirtschaftsgüter zugunsten der Wirtschaft ihrer Zonen beteiligt waren, helfen keine Dokumente weiter. Ein Mitglied dieser Wirtschaftspolitischen Gesellschaft war Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister ab 1949, der spätere Vater des Wirtschaftswunders. Er gehörte der 1947 in Vevey gegründeten Mont-Pelerin-Gesellschaft an, die den während der Kriegszeiten unangebrachten Wirtschaftsliberalismus wiederbeleben wollte. Eine der ersten Empfehlungen dieser Gesellschaft an die deutsche Politik war die einer Währungsreform bei gleichzeitiger Freigabe der Preise als Grundbedingung für den wirtschaftlichen Aufschwung.