LI 89, Sommer 2010
Chinas Träume
Zwischen den Idealen des Ostens und dem Modell des WestensElementardaten
Genre: Essay, Landesporträt
Übersetzung: Aus dem Englischen von Herwig Engelmann
Textauszug
Im Oktober 2009, kurz nach dem sechzigsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China, reiste Ministerpräsident Wen Jiabao nach Nordkorea. Es war der erste Staatsbesuch eines chinesischen Regierungschefs im Nachbarland seit 16 Jahren. In Pjöngjang besuchte Wen Jiabao die Gedenkstätte für die Märtyrer jener chinesischen „Freiwilligenarmee“, die gemeinsam mit sowjetischen und koreanischen Verbänden den USA im Koreakrieg 1951 ein militärisches Patt abrang. Fast eine halbe Million Chinesen starben im Koreakrieg. Für die junge Volksrepublik war dies eine blutige Initiation in den Kalten Krieg.
Nachdem er am Grab von Mao Anying – Mao Tse-tungs liebstem, im Koreakrieg gefallenen Sohn – einen Kranz niedergelegt hatte, wandte sich Wen Jiabao unvermittelt an die steinerne Statue des toten Soldaten: „Genosse Anying, ich komme aus dem Mutterland und besuche dich im Auftrag des Volkes. Unser Land ist jetzt stark, und unserem Volk geht es gut. Du kannst in Frieden ruhen.“ Einen Monat später besiegelte ein auffallend devoter Barack Obama endgültig die neue Stellung Chinas in der Welt.
„Unser Land ist jetzt stark.“ Diese schlichteÜberzeugung, immer wieder in abgewandelten Formulierungen zum Ausdruck gebracht, gab bei den Feiern zum sechzigjährigen Jubiläum der Volksrepublik den Ton an. Aus manchem Blickwinkel schien selbst der große Steuermann zufrieden mit dem Lauf der Dinge, als er von seinem Porträt vom Tor des Himmlischen Friedens aus den Tiananmenplatz überblickte. Ich mußte in den Tagen vor dem großen Fest immer wieder an die berühmte Rede denken, die Mao Tse-tung 1949 vor seiner siegreichen Kommunistischen Partei Chinas gehalten hatte. Der patriotische Jubel verfolgte einen im Vorfeld der Feierlichkeiten überall – im Fernsehen, auf Plakatwänden und an den Zeitungsständen. Vor dem neuen Imperativ gab es kein Entrinnen.
„Die Chinesen“, sagte Mao 1949, „waren schon immer eine große, mutige und strebsame Nation. Erst in neueren Zeiten sind sie zurückgefallen. Das lag an nichts anderem als der Unterdrückung und Ausbeutung durch ausländische Imperialisten und durch einheimische, reaktionäre Regierungen. (…) Das chinesische Volk“, so schloß Mao, „macht ein Viertel der Menschheit aus. Jetzt hat es sich erhoben.“
Nach einigem Stolpern und Straucheln hat dieses Volk nun tatsächlich die Bühne der Weltgeschichte betreten – so jedenfalls die allgemeine Überzeugung, die mir in meinen Gesprächen mit Angehörigen der städtischen Mittelschicht im vergangenen Herbst häufig begegnete. China sei mit den Jahren „friedfertig aufgestiegen“ und habe nun gestärkt den Gipfel der Weltmächte erreicht, während der Westen die Trümmer seines desaströsen Krieges gegen den Terror und seiner „innovativen“ Geldgeschäfte aufsammle.
Dasselbe Bild eines vollständig erwachten Riesen im Osten wird auch in westlichen Medien gezeichnet – dort allerdings mit einigem Unbehagen und in Verbindung mit düsteren Prognosen, manchmal auch ungehemmter Paranoia. Lange Zeit wurde China als militärische Bedrohung wahrgenommen. Nun erscheint es plötzlich als wirtschaftlicher Hegemon und dazu noch als das beunruhigende Beispiel einer Diktatur, die nicht nur zählebig ist, sondern auch ziemlich gut funktioniert.
Ich selbst betrachte das neue Selbstbewußtsein Chinas mit gemischten Gefühlen. Seit dem Sturz der Qing-Dynastie im Jahr 1911 wird der Westen abwechselnd von Wellen der Sinophobie und der Sinophilie erfaßt. Dabei hatte die Angst vor China stets mehr mit der Angst des Westens vor dem eigenen Niedergang zu tun und berührt mich als Inder kaum. Noch weniger kann ich mit Prophezeiungen anfangen, nach denen China schon bald die Welt beherrschen und – wie zuvor der Westen – ihr sein eigenes politisches und wirtschaftliches System aufzwingen werde.
Da ich aus einem Teil der Welt stamme, der lange unter der Ignoranz und den Vorurteilen seiner fremden Herren und Deuter gelitten hat, scheinen mir sowohl die Furcht vor China als auch der Jubel über seine bevorstehende Übermacht stark übertrieben. Denn beide laufen darauf hinaus, die Errungenschaften und Potentiale des Landes zu überzeichnen. Indem sie den Maßstab der westlichen Moderne anlegen, verkennen sie außerdem die Besonderheiten der neueren chinesischen Geschichte und blenden alles aus, was chinesische Politiker und Intellektuelle in der Zeit vor Mao und den Kommunisten an gedanklichen Ansätzen und Idealen entwickelt haben. Dabei hatten diese Auseinandersetzungen den Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit als Teil eines sinnerfüllten Daseins und nach einer ihm gemäßen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung zum Inhalt.
China ist verspätet in der Moderne angekommen, und sowohl das Frohlocken als auch das Schwarzsehen angesichts seiner jüngsten Entwicklung übergehen einen wichtigen Punkt: Anders als fast alle westlichen Industriemächte, anders auch als das sowjetische Imperium hat China sich selbst modernisiert, ohne ferne Länder und Märkte mit brutaler Gewalt zu erobern und ohne einen Völkermord an einheimischen Bewohnern zu begehen. Das chinesische Volk hat den unerträglich hohen menschlichen Preis des Fortschritts selbst bezahlt. Wie so viele überwiegend von der Landwirtschaft geprägte Gesellschaften, die gegenüber dem industrialisierten Westen aufholen mußten, beutete China vor allem seine eigenen Rohstoffe aus, beschädigte seine eigenen Kulturen, vergiftete seine eigenen Flüsse und Seen.
Die rasante Modernisierung einer größtenteils bäuerlichen Gesellschaft begann in China schon 1912, also fast vier Jahrzehnte vor der chinesischen Revolution. Für mich ist sie eines der waghalsigsten Unternehmen seiner Art. Bedenkt man, mit welchen historischen Umständen sie zu kämpfen hatte, dann konnten andere „unterentwickelte“ Gesellschaften in Asien wahrscheinlich viel mehr aus ihr lernen als aus der amerikanischen Revolution, einem verhältnismäßig begrenzten Ereignis, oder auch aus der russischen Revolution, die sich schon vor langer Zeit erschöpft hat.
(...)