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Cover Lettre International, Jorinde Voigt
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LI 110, Herbst 2015

ISIS

Das Ressentiment und der Flächenbrand

In den vergangenen Monaten ist es auf einem breiten Streifen des Globus zu Ausbrüchen von Gewalt gekommen: Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, Selbstmordattentate in Xinjiang, Nigeria und der Türkei, Aufstände vom Jemen bis nach Thailand, Massaker in Paris, in Tunesien und in den Südstaaten Amerikas. Gut möglich, daß die Historiker in diesem unkoordinierten Abschlachten dereinst den Beginn des dritten – und längsten und merkwürdigsten – Weltkriegs sehen werden. Sicher ist, daß stärkere und komplexere Kräfte am Werk sind als in den beiden vorangegangenen Weltkriegen und daß wir sie weder begreifen noch gar ihre Richtung zu unserem Vorteil verändern können.

Der unmittelbar nach dem Kalten Krieg bestehende Konsens, daß die bürgerliche Demokratie das Rätsel der Geschichte gelöst habe und eine globale kapitalistische Ökonomie zu weltweitem Wohlstand und Frieden führen werde, ist dahin. Plausible Alternativen politischer und ökonomischer Organisation aber sind nicht in Sicht. Eine auf das Zusammenspiel individueller Interessen ausgerichtete Welt scheint mehr und mehr anfällig für manischen Tribalismus: Politische Formationen, die auf kollektiven Identitäten basieren, werden stärker – vom Majoritätsdenken der Hindu in Indien und dem Zionismus der israelischen Siedler bis zu den fremdenfeindlichen Nationalisten in China, der Türkei, Japan und Rußland.

In der von Charleston bis Zentralindien immer weiter anwachsenden Gewalt haben die Aufständischen im Irak und in Syrien unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen: durch ihre schnellen militärischen Siege, ihre exhibitionistische Brutalität – vor allem gegenüber Frauen und Minderheiten – sowie, am bedeutsamsten, durch ihre raschen Erfolge bei der Verführung junger Menschen aus den Städten Europas und Amerikas. Die durch bewegliches Kapital, Kommunikation in Sekundenschnelle und die Möglichkeit rascher Mobilisierung gekennzeichnete Globalisierung hat ältere Formen der Herrschaft überall geschwächt – in den sozialen Demokratien Europas ebenso wie in den arabischen Despotien – und eine Vielzahl neuer internationaler Akteure ausgespuckt, mit denen niemand rechnen konnte, von den chinesischen Irredentisten und Hackern bis zu Syriza und Boko Haram. Die deutlichsten Anzeichen einer allgemeinen Verwirrung indes, vor allem in den politischen Eliten, die offenkundig nicht wissen, was sie tun und was sie anrichten, sind das plötzliche Erscheinen des Islamischen Staates in Mossul im vergangenen Jahr und der bis heute vergebliche Versuch, seine Expansion aufzuhalten und seine Anziehungskraft zu verringern.

Mit seiner Fähigkeit, ein Territorium von der Größe Englands zu besetzen und zu halten, den Fanatismus von Nachahmern in Pakistan, Gaza, Afghanistan, Nigeria, Libyen und Ägypten zu wecken sowie Tausende Anhänger zu ködern, steht der Islamische Staat für einen Quantensprung über alle anderen, sei es privaten, sei es staatlich sanktionierten Kulte von Gewalt und autoritärer Herrschaft heute. Der kognitiven Herausforderung, dieses Phänomen zu definieren, sind wir jedoch kaum gewachsen.

Für Barack Obama ist der Islamische Staat „schlicht und einfach eine terroristische Organisation“, die „wir schließlich niederwerfen und vernichten werden“. Englische Politiker hoffen wider alle Erfahrung, die Bewohner der Levante und Mesopotamiens mit einer Demonstration der Stärke beeindrucken zu können, und wollen diese Landstriche daher bombardieren lassen. Eine sensationsgeile und skrupellose britische Presse scheint begierig, ihre „noble Lüge“ mitzutragen: daß eine von der totalen Unfähigkeit ihrer lokalen Gegner profitierende Miliz im Nahen Osten für eine Inselfestung, die Napoleon und Hitler abwehren konnte, eine „existentielle Gefahr“ darstelle. Die Bürokratie der Terrorismusbekämpfung, die mehr als ein Jahrzehnt lang versucht hat, es mit den transnationalen Netzwerken von al-Qaida aufzunehmen, steht jetzt vor der Aufgabe, Kompetenz in Sachen Do-it-yourself-Dschihadismus zu erwerben. Die Islamexperten aus dem Stegreif, die 9/11 zum Tag ihrer Geschäftseröffnung machten, bieten ihre Dienste noch fieberhafter an und werden dabei von Theoretikern des „Zusammenstoßes der Kulturen“ und anderen intellektuellen Robotern des Kalten Krieges unterstützt, die darauf programmiert waren, in Dichotomien zu denken (wir/sie, freie/unfreie Welt, Islam/Westen) und ihren Wortschatz auf Wörter wie „Ideologie“, „Bedrohung“ und „Eindämmung“ zu beschränken. Die wuchernde Krätze der Pseudo-Erklärungen – Islamismus, islamischer Extremismus, islamischer Fundamentalismus, islamische Theologie, islamischer Irrationalismus – macht „Islam“ mehr denn je zu einem Begriff ohne Inhalt, während sie Haß und Vorurteile gegen mehr als eineinhalb Milliarden Menschen (und die, die zu ihnen nur scheinbar gehören) als völlig normal erscheinen läßt. Das abgrundtiefe intellektuelle Defizit wird repräsentiert einerseits vom unbarmherzig kriegslüsternen Tony Blair, andererseits von der britischen Regierung, die mit der BBC darüber streitet, wie der Islamische Staat zu bezeichnen sei.

(…)

Mit dem Sozialismus als ökonomischer und moralischer Alternative haben sich seit 1989 auch die Energien des postkolonialen Idealismus verflüchtigt. Die entfesselte Globalisierung des Kapitals hat weitere Teile der Welt in ein uniformes Muster aus Wünschen und Konsum integriert. Die demokratische Revolution der Erwartungen, die Tocqueville Anfang des 19. Jahrhunderts miterlebte, ist über die Welt hinweggeschwappt und hat unter den aussichtslosesten Umständen Sehnsüchte nach Reichtum, Status und Macht geweckt. Die Illusion der Chancengleichheit, bei der Talent, Bildung und harte Arbeit mit individuellem Aufstieg belohnt werden, war nach 1989 kein ausschließlich amerikanisches Phänomen mehr. Und sie verbreitete sich auch dann noch, als die strukturellen Ungleichheiten sich weiter verfestigten.

In der neoliberalen Phantasie des Individualismus wurde von jedem Menschen erwartet, Unternehmer zu werden, in einer dynamischen Wirtschaft, immer auf dem laufenden über deren technologische Revolutionen, sich weiterzubilden und neu zu erfinden. Das Kapital jedoch überschreitet auf der Suche nach Profit ständig nationale Grenzen und befördert dabei von der Technologie obsolet gemachte Fähigkeiten und Normen respektlos in den Mülleimer der Geschichte; infolgedessen sind Niederlage und Demütigung beim anstrengenden Unterfangen, das individuelle Selbst zu konzessionieren, zu allgemeinen Erfahrungen geworden.

Viele Angehörige des Prekariats erkennen heute, daß es so etwas wie ein ebenes Spielfeld nicht gibt. Die Zahl überflüssiger junger Menschen, die ins Wartezimmer der modernen Welt verbannt sind, in ein großes Calais der Erbärmlichkeit und Hoffnungslosigkeit, ist in den letzten Jahrzehnten exponentiell gewachsen, vor allem in den überwiegend „jungen“ Gesellschaften Asiens und Afrikas. Endemische Kriege und Verfolgung haben sechzig Millionen Menschen heimatlos gemacht ‑ so viele wie noch nie. Selbst die, die so glücklich sind, Arbeit zu haben, finden die Tatsache, daß sie der wirtschaftlichen Notwendigkeit unterworfen sind, schwerer zu ertragen in einem Klima, in dem vermittelnde Kräfte und Puffer (Kirchen, Gilden, Gewerkschaften, die lokale Regierung) zwischen dem Individuum und einer unpersönlichen wirtschaftlichen Ordnung fehlen oder geschwächt sind. Die Anziehungskraft des formellen und des informellen Sezessionismus – die Möglichkeit, grob gesagt, von mehr Selbstbestimmung – ist gewachsen von Schottland bis Hongkong, und zwar nicht nur bei den gewitzten separatistischen Eliten mit mehreren Staatsbürgerschaften und Konten in Steueroasen. Immer mehr Menschen empfinden die Kluft zwischen dem Versprechen individueller Freiheit und Unabhängigkeit einerseits und der Unfähigkeit ihrer politischen und ökonomischen Institutionen und Organisationen, dies einzulösen.

Selbst der ausdrücklich zur Einlösung dieses Versprechens konzipierte Nationalstaat – die Vereinigten Staaten – gärt, weil viele seiner Bürger desillusioniert und erzürnt sind. Nach Jahrzehnten erbarmungsloser und mittlerweile unüberwindlicher Ungleichheit stellt die Enthüllung jahrelanger systemischer Gewalt gegen Afroamerikaner grundlegende nationale Mythen und Frömmeleien in Frage. In einer Demokratie, die von reichen Sklavenhaltern und kolonialistischen Siedlern gegründet und von Plutokraten ausgehöhlt wurde, wird klar, daß viele Bürger nie Chancengleichheit besessen haben. Sie stellen die Frage, die die jahrzehntelang vorgebrachten liberalen Ausflüchte über die Grausamkeiten eines politischen Systems, das dazu dienen soll, den Erwerb privaten Reichtums zu erleichtern, vom Tisch wischt: „Wie erschafft man“, um Ta-Nehisi Coates’ beißendes neues Buch Between the World and Me  zu zitieren, „eine Demokratie, die ohne Kannibalismus auskommt?“

Dennoch haben die offenkundigen moralischen Makel des Kapitalismus ihn nicht politisch verwundbar gemacht. Im Westen besteht eine gemeinsame wirkungsvolle Reaktion der herrschenden Eliten auf den Zerfall fadenscheinig gewordener nationaler Narrative und den Verlust an Legitimität in gegen Minderheiten und Einwanderer gerichteter Panikmache – einer hinterhältigen Kampagne, die die von ihr provozierte Entfremdung und Feindseligkeit ständig weiter nährt. Diese verwöhnten Nutznießer einer ungerechten Ordnung verbünden sich schnell, um den auf Abwege geratenen Rebellen in ihrer Mitte zu demütigen, wie der Fall Griechenlands zeigt. Chinesische, russische, türkische und indische Machthaber, die ihre nationsbildenden Ideologien ebenfalls aufpolieren, haben noch weniger Grund, ein globales ökonomisches System abzulehnen, das dazu beigetragen hat, sie und ihre Kumpanen und Verbündeten reich zu machen.

Xi Jinping, Modi, Putin und Erdoğan tun es vielmehr europäischen und japanischen Demagogen nach, die auf die vielen Krisen des Kapitalismus mit dem Appell an Einigkeit angesichts innerer oder äußerer Bedrohungen reagierten. Der Imperialismus europäischen oder amerikanischen Stils ist für sie noch keine mögliche Option; sie bedienen sich stattdessen, was riskanter ist, eines chauvinistischen Nationalismus und grenzüberschreitenden Militarismus als Ventil für innenpolitische Spannungen. Außerdem haben sie den Nationalismus alten Stils für ihre wachsenden Bevölkerungen entwurzelter Bürger, die sich sowohl nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft als auch nach materiellem Wohlstand sehnen, umgerüstet. Ihre legitimatorischen Narrative sind unvermeidlich hybrid: Mao plus Konfuzius, heilige Kühe plus tolle Städte, Neoliberalismus plus Islam, Putinismus plus orthodoxes Christentum.

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.