LI 114, Herbst 2016
Was weiss Louise Bourgeois, das ich nicht weiss?
Die Liebe zur Präzision und die Kunst, einen Knoten zu machenElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Französischen von Jeroen Löwenberg
Textauszug: 6.375 Zeichen 67.979
Textauszug
(…)
Gehen wir von der Evidenz aus, daß es in der Kunst ein hermetisches Element gibt, das der Liebhaber, der kritischere Zuschauer und der Kenner niemals in eine mitteilbare Formulierung umwandeln können. Dabei handelt es sich um das Verhältnis des Künstlers zur Natur, das Verhältnis des Künstlers zur Materie, das Verhältnis zwischen der Materie und dem Nichtabsorbierbaren, das ihn zwingt, der Materie Herr zu werden und die ihr angemessene Technik zu finden, sich als „Herr seiner Mittel“ zu empfinden. Diese Autorität des Künstlers, zu der selbst die Götter keinen Zugang haben, ist für ihn untrennbar mit dem Wissen verbunden, daß er selbst nicht die Quelle seines Tuns ist, was den fortwährenden Verlust der Vaterschaft des Werks impliziert und damit die Erfahrung, mitgerissen zu werden: „Je est un autre.“
(…)
Bei Louise Bourgeois ist die Bemühung um Transparenz verbunden einerseits mit der Liebe zum Tageslicht, andererseits mit der inneren Verfaßtheit ihres Werks und darüber hinaus mit der Weise, wie sie das Verhältnis zwischen sich und ihrem Werk sieht. Dieser Künstlerin, die einem Kristall gleichen möchte, graut es vor Konfusion. Was, ganz wie die Überzeugung, daß es in ihrem Werk keine Maske geben soll, aus der früh gewonnenen Einsicht hervorgeht, daß echte Kunst nicht die Produktion von Effekten zum Ziel hat und nicht rhetorisch, nicht theatral ist. Deshalb preist sie Picasso und später ihre erklärte Affinität zu Bacon. (Cf. ebd., S. 40 und 229) Keiner von ihnen hatte das geringste theoretische Interesse, womit sie (und ein paar andere) eine in der modernen Kunst minoritäre Richtung vertreten. Für sie sind die Bewegungen in Picassos Malerei gesehen und gefühlt. Was impliziert, daß die Repräsentation, die dem prüfenden Blick des Lebens unterliegt, stets in Gefahr sein muß und folglich die Grenzen der Darstellung fortwährend überschritten werden müssen. Dieser Kampf um die Wirklichkeit, um das Leben, ist der Einsatz der Kunst. Er verlangt, daß das Werk als Aussage und nicht als Schlachtfeld erscheint: Man muß etwas genau zu sagen haben und nicht irgendeinen vagen Wunsch hegen, etwas zu sagen.
(…)
Die Kunst ist eine Arbeit der Künstlerin an sich selbst, Zusammenbruch und Auferstehung. „This is about survival … about the will to survive …“ (Destruction/Reconstruction, S. 49) Das haben viele mit Narzißmus, mit Selbstgefälligkeit verwechselt und tun es bis heute. Narziß ist gerade nicht dafür bekannt, sich ums Überleben bemüht zu haben, sprich, versucht zu haben, nicht verrückt zu werden. Die Künstlerin hat mit Narziß nichts gemein. Sich in der eigenen Spiegelung bis zur Auslöschung zu verlieren, verhindert jede Fruchtbarkeit des Ausdrucks. Ein Künstler schafft, weil er sich mit sich selbst befaßt, weil er die Spiegelung in einen Abgrund verwandelt, und der Tauchgang ist so riskant wie fruchtbar, denn es geht stets darum, zurückkehren und etwas mitbringen zu können, das man der Dunkelheit zu entreißen vermochte. Narziß fühlt sich nicht zerrissen, er kennt weder Verdoppelung noch Maske (hier nicht im Sinne von etwas Trügerischem, wie Louise Bourgeois sie versteht, sondern von Offenbarung), kennt nicht das Als-ob, die Fiktion, er erkennt seinen eigenen Abgrund nicht, sondern geht darin mit einer faszinierten Anhaftung unter, kein Schauer jagt ihn. In Wahrheit bildet der Ausdruck sogar ein Gegenmittel gegen den Narzißmus.
(…)
Selbst wenn der Künstler angepaßt erscheint (wenn er unterrichtet, gut verkauft, eine angesagte Galerie hat, beispielsweise), „[he] functions in a vacuum.“ (Ebd., S. 98) Diese Matrix schreibt sich auf vielfältige Weise ins Werk von Louise Bourgeois ein: von der Ohnmacht zur Verzweiflung, vom Verlassenwerden zur Rache, vom Verlust zum Mitgefühl. Man muß seine Toten zu begraben wissen, um die Toten vom Tod zu befreien. Deshalb ist Versöhnung „the sweetest feeling.“ (Ebd., S. 131) Heutzutage gibt es, wie sie völlig perplex feststellt, sogar Doktortitel in Malerei und Skulptur, wahrhaftig „a joke played on the painters and sculptors.“ (Ebd., S. 99) Akademische Titel beeinträchtigen auf perverse Weise die künstlerische Freiheit: Das wilde Tier wird für immer in den Käfig gesperrt und ist, angesichts seines desaströsen Curriculum vitae, auch noch stolz darauf. „Wherever there is power (church) and respectability, there is danger for the artist.“
(…)
Das Wort „Inspiration“ hat mit dem Hören zu tun, mit dem Berührtsein, mit dem Drang, dies oder das auszudrücken. Das Wort ist bei den Modernen von dem Moment an außer Gebrauch geraten, als man begann, Gaben, Begabungen zu mißtrauen, bis man zu der programmatischen Erklärung gelangte: „Alle Menschen sind Künstler.“ Folglich ist die Inspiration für die Modernen von der Idee der Arbeit zersetzt, durch ideologische Evidenzen politischer und pädagogischer Natur entstellt. Daß es bei den Griechen keine Musen der bildenden Künste gab, gibt zu denken und hat zweifellos mit dem mechanischen Aspekt, mit der formalen Lehre zu tun, die ein Architekt, Bildhauer oder Maler durchlaufen muß. Allein die Stimme hatte ihre Musen, für ihr Gedächtnis, ihre Ausdrucksweisen und ihre Ausformungen im Gesang, in der epischen Dichtung, von den Klagen des Herzens im Lied der Lyra bis zum Hören der Sterne, lebendiges Gewebe des Alls, das in der Harmonie der Musik und des Tanzes zu vernehmen war, alle verstrickt in die Bande des Gedächtnisses, der Mutter. Und in diesem Bezug kann jede Kunst sich sammeln, ihre Toten wiederfinden, kann sehen, was nicht vorhergesehen werden kann, außer in der Einsicht, Dienerin ihrer eigenen Vermögen zu sein. Das ist die Inspiration.
(…)
Wenn die Einsamkeit das konstitutive Element der inneren Verdopplung ist, die jedem Menschen eigen ist und sich beim Künstler in Ausdrucksvermögen übersetzt, so ist die Absonderung, die Isolierung dagegen keineswegs konstitutiv, und wenn sie allzu tief wird, kann sie sogar zu Panik führen: Wir fühlen uns ausgestoßen, von Göttern und Menschen verlassen, mutterseelenallein. Mit kluger Klarsicht weigert sich Louise Bourgeois daher, Sartres Motiv zu akzeptieren, das da sagt, „die Hölle, das sind die anderen“. Für sie ist die Hölle die Abwesenheit der anderen. Erinnern wir hier an Colli, der als Argument gegen den Solipsismus die Existenz selbst von Kunstwerken anführte, denn sie liefert den Beweis, daß es nicht die anderen sind, die uns von ihrer eigenen Existenz überzeugen müssen.
(…)