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Cover Lettre International 67, Arnulf Rainer
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Inhaltsverzeichnis

LI 67, Winter 2004

Himmelskunde

Leere, Licht und Materie - Über Phänomene und Gesetze des Kosmos

EDGAR MORIN: Was ist das Universum? Inwiefern ist es unser Universum? Es ist nicht nur deshalb „unseres“, weil wir uns in ihm befinden, weil es unseren Ort darstellt, sondern auch, weil es uns hervorgebracht hat, weil wir aus ihm hervorgegangen sind und weil es uns unaufhörlich Fragen stellt, so daß keine Gesellschaft darauf verzichten konnte, es sich vorzustellen. Im Laufe der Geschichte überwog im Abendland zunächst eine geozentrische Konzeption, in der sich die Erde im Zentrum der Welt befand, was dem Augenschein und letztlich auch der Bibel entsprach. Später sind wir, nicht ohne Schwierigkeiten, mit Tycho Brahe, Kopernikus und Kepler zu einem anderen Universum übergegangen, diesmal mit der Sonne im Zentrum. Wir waren entthront, behielten aber einen Platz im vorderen Parkett. Schließlich kam es zu einer noch radikaleren Revolution in unserem Weltbild, die als einen ihrer Aspekte mit sich brachte, daß weder die Sonne noch unser Sonnensystem, die Milchstraße, sich im Zentrum der Welt befindet, sondern daß die Welt vielleicht gar kein Zentrum mehr hat. In diesem neuen Universum, das da aufzuscheinen beginnt und das nach den Entdeckungen Hubbles über seine Expansion und die Fluchtbewegung der Galaxien noch gar nicht vollständig zum Vorschein gekommen ist, werden wir uns einrichten müssen, und dieses Universum, lieber Michel Cassé, wird auch Thema unseres Dialogs sein.

MICHEL CASSÉ: Ein erster roter Faden, in der Tat, denn die Astrophysik und die Kosmologie wurden als Wissenschaften geboren, als Galilei sein Fernglas auf den Mond richtete und dort Berge erblickte. In der bis dahin herrschenden aristotelischen und scholastischen Weltsicht bildete der Mond die Grenze zwischen zwei Welten. Über ihm befand sich die „supralunare“ Welt, die als ewig und ungeschaffen galt und weder aus Wasser noch aus Erde, Feuer oder Luft bestand, sondern aus einer unveränderlichen idealen und vollkommenen fünften Essenz, der Quintessenz. Unterhalb des Mondes, in der auf die Erde zentrierten „sublunaren“ Sphäre hingegen herrschte die Veränderung, die von Verwesung, Verfall und Tod geprägt ist. Nun erwies sich aber der Mond, in Galileis Worten, als „erdhaft“. Das war ein entscheidender Wendepunkt. Auf die Gefahr hin, den Satz nur umzukehren, würde ich sagen, daß die Erde ebenso himmlisch ist. Seither gibt es im komplexen und zersplitterten Feld des Wissens eine Grundlagenwissenschaft von der Einheit, die die einfachste Gleichung der Welt aufstellt: Erde = Himmel; was dort ist, ist wie das, was hier ist; was es hier nicht gibt, gibt es nirgends. Das gilt für Atome wie für Gesetze. Es gibt eine Einheit der Substanzen und eine Einheit der Gesetze im Universum. Die Physik also ist universell. Diese Grundlagenwissenschaft, lebendig wie die Spekulation und ausgefeilt wie die Technologien, die ihr Flügel und Rüstzeug verleihen, trägt den Namen Kosmologie. Sie antwortet auf uralte Fragen mit Argumenten der höchstentwickelten und abstraktesten Physik. Diese Hochzeit von Himmel und Erde im menschlichen Denken verknüpft das antike Denken der vorsokratischen Philosophen mit dem relativistischen, von Quanten geprägten Denken zeitgenössischer Wissenschaftler, sie sanktioniert das physikalische Denken über die Welt.

Das physis-Denken eines Empedokles oder Heraklit erweist sich im Rückblick in der Tat als reicher als die Platonische Wesenslehre oder das Aristotelische System der Ursachen. Dennoch können sie die moderne Unterscheidung zwischen Astrophysik und Kosmologie nicht erklären, die Sie kurz angedeutet haben.

Die Kosmologie widmet sich der Erforschung des Ursprungs, der Struktur und der Zukunft des Universums. Sie bedient sich der verschiedensten Erkenntnisse, einschließlich derer der Elementarteilchentheorie. In ihr trifft die Schule des Inneren, die die Welt in einem Sandkorn zu lesen versucht, mit der Schule des Außen zusammen, die sich der kosmischen Perspektive öffnet. Die Kosmologie ist eine historische Wissenschaft. Am Anfang war das Universum heiß. Sie haben es zu Recht als expandierend beschrieben, eine Formulierung, die als Einleitung in den kosmologischen Diskurs dienen kann. Wenn man den Zeitpfeil umkehrt, zieht es sich zusammen; und wenn man es sich als ein Gas vorstellt, läuft die Tatsache, es zusammenzuziehen, darauf hinaus, es zu erhitzen. Am Anfang steht also die Wärme. Und in dieser enormen Hitze wimmelt es von anonymen energetischen Elementarteilchen – wobei die Hitze ein Maß für die thermische Bewegung, die Energie jedes einzelnen Teilchens, ist. Dies bewirkt, daß wir die Bedingungen des Big Bang mit Hilfe von Teilchenbeschleunigern simulieren können, indem wir den einzelnen Teilchen jene Energie verleihen, über die sie ursprünglich verfügten. Die Astrophysiker hingegen bemühen sich um formale Perfektion. Sie versuchen im Universum einen koordinierten Plan zu entdecken, ein Leitschema, ein organisiertes Konzept, das sich in materieller Form, also in einer Geschichte, realisiert. Im komplexen Feld des Wissens versuchen Astrophysik und Kosmologie – beides Wissenschaften unter freiem Himmel und voller Gewissenhaftigkeit – den Menschen im Raum und in der Zeit zu situieren.

Aber kann man dieses Universum beschreiben, können Sie es? Und wenn ja, wie?

Beginnen wir mit seinen Elementen. Es gibt die Akteure, und es gibt den Akt. Unter den Akteuren erscheint natürlich die Materie, doch hat ihre Definition eine beträchtliche Ausweitung erfahren. Zum Beispiel zählt man nunmehr das Licht dazu, das als eine neutrale materielle Form betrachtet wird. Man kann ihm das Nullzeichen zuschreiben, doch ist die Null immer nur eine Addition von Plus und Minus. Nehmen wir einmal an, daß das Plus der Materie und das Minus der Antimaterie sich entsprechen. Folglich entsteht die Materie aus dem Licht, aber in Begleitung seines antagonistischen und tödlichen Doubles, der Antimaterie. Wenn diese beiden Formen zusammentreffen, ergeben sie null. Nach dieser Dialektik von Licht und Materie, der die Natur freien Lauf läßt, ist der Big Bang jenes Ereignis, bei dem das Licht sich materialisiert, während der Stern den Anti-Big-Bang darstellt. Er ist jener Ort, an dem Materie sich in Licht verwandelt – was der Grund dafür ist, daß die Sterne leuchten. Das ist eine erste Beschreibung der Dialektik von Licht und Materie aufgrund der schönsten und für ihre Nüchternheit bekannten Gleichung, eines kleinen Gedichts, das alle Kinder auswendig kennen, ohne seine Bedeutung erklären zu können – es lautet: E=mc2. Daß niemand die Sprengkraft unterschätze, die sich unter seinem schlichten Äußeren verbirgt! Das Universum entspricht Einsteins Theorie insoweit, als es einer relativistischen Beschreibung entspricht. Es ist aber auch quantisch – ich werde noch darauf zurückkommen –, wobei die Quantenphysik die beste Beschreibung ist, die wir haben, wenn es um das unendlich Kleine geht. Doch machen wir uns zunächst noch einmal auf den Weg zum Ursprung zurück. Die von Ihnen bereits erwähnte Entdeckung der Expansion des Universums durch Hubble war in der Tat von entscheidender Bedeutung. Ganz so wie die Entdeckung der „fossilen“ kosmischen Hintergrundstrahlung, die aus der Nacht der Zeiten dringt und die Ohren unserer Radioteleskope schlottern läßt, weil sie sehr kalt ist, so kalt, daß sie die Erde und die sie umgebenden Rezeptoren in Form von Mikrowellen streift. Doch ist diese unsichtbare Strahlung allgegenwärtig und permanent. Das bedeutet, daß es keine Nacht gibt, daß diese in den Bereich des Scheins gehört, daß nicht der Himmel schwarz, sondern unser Blick dunkel ist. Doch die elektronischen Augen, die wir als eine Art Prothesen schufen, um unsere Blindheit notdürftig zu beheben, gestatten uns, das Unsichtbare zu sehen. Die besagte Strahlung, die seit den Anfängen strahlt, wurde vor 13 Milliarden Jahren ausgesandt und ist mit Hilfe von Radioteleskopen oder auf ihre Erforschung spezialisierten Satelliten wahrnehmbar. Sie zeigt uns das erste Bild des Universums. Dieses Bild ist beinahe glatt, bis auf einige Unebenheiten, die vermuten lassen, daß aus einem undifferenzierten Substrat Form hervorgehen wird. Es erlaubt uns, die Anfangskapitel der Geschichte der Welt zu lesen und läßt die Idee einer Kosmologie glaubwürdig erscheinen, die mit der allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins übereinstimmt und derzufolge das Universum sich entfaltet, im Laufe der Zeit an Volumen zunimmt und sich schließlich abkühlt.

Es wäre jedoch trügerisch, diese Entfaltung den Neigungen unseres Verstands und allgemeinsten Vorstellungen entsprechend zu denken.

Man spricht von der Expansion des Universums, doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine Dehnung des Raums im großen Maßstab. Die Objekte selbst, Ihr Kopf etwa oder meiner, blähen sich glücklicherweise nicht auf! Die konstituierten, in Formen gefaßten Objekte, deren Atome durch Interaktionen verbunden sind, die viel stärker sind als die Gravitation, dehnen sich nicht aus. Andernfalls würden sich unsere Augen im selben Rhythmus auseinanderbewegen wie die Objekte, und wir könnten gar nicht wissen, daß das Universum expandiert. Es gibt also etwas Festes im Universum, allerdings nur im kleinen Maßstab. Das gilt für den Abstand zwischen Erde und Mond sowie für alle Abstände in unserer eigenen Galaxie. Was die Galaxien selbst betrifft, außerhalb der Haufen, die sie bisweilen bilden, so sind sie derart weit voneinander entfernt, daß ihr gegenseitiger Einfluß, insbesondere ihre wechselseitige Anziehung, vernachlässigbar ist. Diese Universums-Inseln entfernen sich voneinander, aber nicht, weil sie sich gegenseitig abstoßen würden, sondern, weil der Raumhintergrund, der sie trennt, sich ausdehnt. In dieser ganz und gar elastischen Weltsicht ist das Substrat des Raums selbst nicht fest, sondern dehnbar. Die Zeit stellt ihrerseits eine Dimension dar. Auf diese Weise entsteht der vierdimensionale Raum oder die Raum-Zeit, und einmal mit Materie gefüllt, wird sie von Einstein mit dem Universum gleichgesetzt. Nun zeigt sich aber, daß ihre vier Dimensionen, die wir wahrnehmen, die drei Raumdimensionen und die Zeitdimension, nicht die einzigen sein können.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.