LI 97, Sommer 2012
Morna, Fado, Samba
Die lusitanische Seele und die Temperamente der kapverdischen MusikElementardaten
Genre: Essay, Musiktheorie
Übersetzung: Aus dem Französischen von Uta Goridis
Textauszug: 4.124 von 25.223 Zeichen
Textauszug
Morna ist eine Sache des Gefühls, der spielerische Umgang mit einer Realität, die einer Achterbahn gleicht – ein tägliches Auf und Ab –, wobei das Emotionale mit verwirrender Unschuld regiert. Der Zollbeamte Toi, Held der Novelle O galo cantou na baía („In der Bucht krähte der Hahn“) von Manuel Lopes, die 1936 in der Zeitschrift Claridade veröffentlicht wurde, komponiert mornas. Toi ist ein braver Beamter, dessen Jubel keine Grenzen kennt, als er nach einer durchzechten Nacht einen Spaziergang unternimmt und eine Schmugglerbande überrascht, die im Bauch ihres Seglers Korbflaschen mit Rum verstaut. Während er die Untat in flagranti zu Protokoll nimmt, verspürt der Musiker und Zöllner ein merkwürdiges Gefühl im Magen. „Für das, was da bei Tagesanbruch passierte“, schreibt Manuel Lopes, „war nicht nur der Rum verantwortlich, den Toi bei Severino getrunken hatte; es gab noch etwas anderes: eine verwirrende Euphorie, die ihn betäubte und erschreckte. Gleichzeitig schien ihn eine süße Unruhe in einen Schwebezustand zu versetzen und ihm Rhythmen ins Ohr zu säuseln, als wäre er in Trance. Und in diesen beklemmenden Momenten nahm etwas in seiner Vorstellung Gestalt an und drängte nach außen: Eine morna wurde geboren, die morna des Zöllners Toi.“ Seine morna hat den Geschmack von Meer, sie kommt von einer salzigen Weite. Er preßt sie aus sich heraus „wie ein trächtiges Tier“. Durch Zufall läuft ihm ein klassischer Frühaufsteher über den Weg, und die Worte kommen wie von selbst: O galo cantou na baía.
Sein Gesicht ist wie die Sonne meiner Armut
Und mein Gesicht ein stürmischer Himmel
Zeigt sich die Sonne, wird alles hell
Versteckt sie sich, wird alles dunkel
In der Bucht krähte schon der Hahn
Bald geht die Sonne auf
Wie weit ist doch Maria
Die Nacht wird bleiben …
So entsteht eine morna: aus einem Aufruhr der Gefühle, aus einer Erinnerung an den Schmerz, aus einem Gefühl der Freude, aus der überwältigenden Schönheit einer Landschaft, aus dem Zufall. Gesungen, haben die innovativen, lyrischen Verse eine traditionelle, also konservative Struktur. Die großen morna-Interpreten – Cesária Évora, Bana, Titina, die in Setúbal bei Lissabon Hof hielt – gaben diesen einfachen und tiefgehenden Texten ihren letzten Schliff. Cesária Évora unterstrich die metaphysischen Aspekte der mornas, indem sie diese intimer gestaltete; ihre mornas schlugen ein wie der Blitz und waren so vielsagend wie ein Augenaufschlag.
(…)
Die morna, so der Musiker Vasco Martins, ist Wohlfühlmusik, die das Kind in den Schlaf wiegt. Sanft, herzzerreißend traurig und nur selten dramatisch, gleicht sie einem Feenmärchen, das zugleich Angst einflößt und einlullt. Das Adjektiv morno bedeutet im Portugiesischen „weich, sanft“. Der Musikwissenschaftler und Komponist José Bernardo Alfama leitet davon das Wort morna ab. Andere führen dessen Ursprung auf die Verflechtung der Kapverden mit den USA oder Mindelos mit England zurück. Ihrer Meinung nach kommt morna von dem englischen Wort mourning („klagen“). Auch die französische Bezeichnung morne für die runden vulkanischen Bergkegel auf den Antillen wurde in Betracht gezogen. Jedenfalls beleben die Diskussionen der Experten über den Ursprung von morna wie auch über den von samba oder fado, welche in dem alten arabischen Viertel Lissabons, der Mouraria, maurischen Einflüssen ausgesetzt war, den politischen Diskurs. Die Kapverdianer verfolgen noch eine andere Spur: Sie sind der Meinung, daß der lundum gegen Ende des 17. Jahrhunderts nach Boa Vista kam und anschließend über die Sklavenrouten nach Brasilien gelangte. Wie die Samba und der Fado machte die morna eine langsame, wenngleich anders verlaufende Metamorphose durch. Nach Ansicht des portugiesischen Sängers und Komponisten Vitorino wurde der lundum von Afrikanern nach Lissabon gebracht, die im 17. Jahrhundert die Hauptstadt bevölkerten, bevor sie nach Brasilien oder den Kapverden verschifft wurden. Kann man also die morna als einen in den Tropen geborenen Fado bezeichnen?