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Cover Lettre International 83, Dieter Appelt
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Inhaltsverzeichnis

LI 83, Winter 2008

Geheime Gesellschaften

Untergrundökonomie, Welt der Simulanten. Reise ins Phantastische

(...) Der alte Kellner brachte schließlich auf einem schönen alten Tablett drei schlanke Zwiebeln. Sie waren insofern junge Zwiebeln, als man von austreibenden alten Zwiebeln flugs die äußeren Schalen abgezogen hatte. Auch Rettich gab es. Keine Radieschen, sondern irgendein schon früher mal gesalzener, gekümmelter schwarzer Rettich. In jenen Jahren war das die große Idee dieser Gesellschaften zu ihrem Selbsterhalt: der Erfindungsreichtum, das Improvisieren, die Mimikry, die -Simulation. Was konnte wodurch ersetzt, was konnte womit ausgetauscht werden, was konnte womit verborgen, bemäntelt werden, wie konnte man etwas umbenennen, verdecken, und vor allem: Was konnte man sich heimlich aneignen? Und da die Dinge auch von den dazu Berufenen nicht benannt beziehungsweise ständig und unberechenbar mit anderen Namen versehen wurden, als ihnen natürlicherweise zustanden, funktionierten die Worte im Gespräch nur noch als vorsichtige Anspielung, nicht als Benennung. Es kam so weit, daß im wesentlichen der Unterschied zwischen Ja und Nein verschwand.

Die tägliche Unabdingbarkeit von Erfindungsreichtum und Erfolgshunger wurde nicht nur auf sprachlicher Ebene zur Falle, sondern erschwerte das Überleben, das Überdauern selbst. Ohne menschlichen Erfindungsreichtum und sprachliche Simulation wären die zur Mangelwirtschaft herabgesunkenen sozialistischen Systeme keine zwei Jahre lang lebensfähig gewesen. Mit ihrem Erfindungsreichtum und ihrer Simulation hielten die einzelnen Individuen die auch für sie unmögliche Situation gleichsam selbst aufrecht. Das wissen sie bis heute und nehmen es bis heute nicht zur Kenntnis. Mehrere Generationen lernten, als Ignoranten im Absurden zu vegetieren. Sie gaben an die nächste Generation die Erfahrung weiter, daß man im Interesse des eigenen Überlebens sogar die eigene Zukunft ignorieren muß. Und wenn sie das schon mal getan hatten, mußten sie auch sagen: So ist der Mensch eben, so böse, so niederträchtig. Der Rettich verbreitet in diesem Zustand großen Gestank. Der alte Kellner zog in dem einst sicherlich äußerst vornehmen Hotel den Gestank des schwarzen Rettichs gleichsam mit sich, als er mit ihm zwischen den mit weißem Damast gedeckten Tischen und den vereinsamt gähnenden, alten, samtenen Kanapees hindurchschritt. Würde man diesen Duft zu klassifizieren versuchen, wäre er zwischen abgestandener Babykacke und frischem Soldatenfußgeruch anzusiedeln. Beißt man jedoch in den Rettich hinein, ist er samt seinem Gestank sehr wohlschmeckend. Richard bedankte sich mit der ihm eigenen verschnörkelten Höflichkeit. Dann fragte er äußerst roh, ob der Herr Ober die frische Almbutter und die zwei weichen Eier etwa vergessen habe. Oh, natürlich, antwortete der alte Kellner, ohne mit der Wimper zu zucken, die Herrschaften mögen entschuldigen. Sodann verneigte er sich gravitätisch und entfernte sich, begleitet von einem zweimaligen „Zu Diensten, zu Diensten“ endgültig aus unserer Mitte. Er stünde uns zu Diensten, wenn es etwas gäbe, womit er uns zu Diensten stehen könnte. Wie der Witz über die Mangelwirtschaft es so treffend ausdrückte: Wenn ein Eimer da ist, dann ist kein Wasser da, wenn Wasser da ist, dann ist kein Strick da, wenn ein Strick da ist, dann ist kein Eimer da. Er suspendierte den Begriff des Kellnerdienstes so lange, bis Butter und Eier infolge einer zufälligen Katastrophe wieder in die Region zurückkehren würden. Doch egal, ob Butter da war oder nicht, eine so weitgehende Suspendierung des Sinns von Begriffen war, was die Zukunft anbelangt, gefährlich.

Zu Beginn der neunziger Jahre kehrten gemeinsam mit dem Privateigentum, der Marktwirtschaft, der Mehrparteienkorruption, dem Drogenschmuggel und dem Waffenhandel nicht nur Butter und Eier in die Region zurück – das sind ja im Grunde einfache Dinge –, sondern gemeinsam mit den persönlichen Freiheitsrechten auch der bewußt genährte, geförderte, in die Spirale der Gewalt gehobene Haß auf Nationen und Minderheiten, der aktiv betriebene Rassenhaß, rassistische und homophobe Ausschreitungen, Diskriminierung, sämtliche uralten Theorien von der Notwendigkeit des Nachbarschaftsmords und des Genozids samt allen ihren Begründungen, Mythen, Kulten, dem im Namen des Christentums dafür gespendeten Bischofssegen sowie Heuschreckenschwärmen von fachlich abgeglittenen, halb und unausgebildeten, frustrierten, ihre erotischen Zwangsvorstellungen auf politischem Gebiet auslebenden Schreibtischtätern verschiedener Couleur. Und das ist noch nicht alles. Denn das Loslassen des Mobs, die Schaffung von paramilitärischen Organisationen und Privat-armeen, die dauerhafte Einschüchterung, das organisierte Pogrom, der bewaffnete Konflikt, die Vertreibung verschiedener Volksgruppen von ihren Wohnorten und der Massenmord gehören ebenfalls zum Programm. Nach fünfzig Jahren ein neuerlicher Genozidversuch. Mit mehreren zehntausend Opfern. Sogar Krieg. Mit mehreren hunderttausend Opfern. Zerstörung, Zusammenbruch, beträchtlicher Gebietsverlust. Auch der nekrophile Kult der Zerstörung, der Niederlage, des Verlusts gehört bereits notwendigerweise zum Programm. Massengräber. Exhumierung. Denkmäler an jeder Straßenecke und lückenlose Geschichtsamnesie.

Es lohnt sich, den aktuellen Gegenstand dieser Amnesie zu betrachten. Leichtfertig wäre, zu glauben, der militante Nationalismus, der religiöse Fundamentalismus, der Rassenhaß, die Homophobie oder ein derartiges Ausufern der Straßenkriminalität, eine derartige Destabilisierung der Gesellschaft (oder auch die überraschend hohe Zahl von Invalidenrentnern) seien nicht das Werk der lebenden Kultur der Simulation, nicht der letzte große Verteidigungsversuch der zur Dualität von Willfährigkeit und Simulation erstarrten Selbstorganisation, die sich ihr durch und durch korruptes und unterweltliches Netzwerk bewahren will. Sie will die Schattenwirtschaft nicht legalisieren, wie es einst die sich naiv gebenden Reformer vorgehabt hatten. Wenn die Schattenwirtschaft nicht im Moment der Freiheit ihre Positionen aufgegeben und ihre weitverzweigten Netzwerke legalisiert hat, warum sollte sie das nach zwanzig Jahren erfolgreichen Betriebs tun? Die Schattenwirtschaft will ihre geheime Struktur, ihre Logistik, ihre bereits als Gemeinsprache verwendete Gaunersprache und ihre wirklich nicht als salonfähig zu bezeichnenden Verhaltensregeln in den geordneten Kapitalismus hinüberheben. Wie sie ja, ihre Hegemonie wahrend, schon zwanzig Jahre mit ihm zusammengearbeitet hat. Sie will nichts verlieren oder aufopfern. Warum sollte sie auch? Die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Gerichte, das System der Sozialversicherungsinstitutionen dienen ihr auch so mit Bereitwilligkeit. Warum sollte sie sich nicht bewahren wollen, was sie in jahrzehntelanger Arbeit wie eine starke Ritterburg auf Kosten aller und gegen alle aufgebaut und ausgebaut hat? Sie will es nicht deswegen hinüberretten, weil sie böse oder blöd wäre, sondern weil sie nichts anderes kennt und hat. Auch die Millionen des Sklavenheers kennen kein anderes Leben. Die auf eine mehrere Jahrzehnte lange Geschichte zurückblickende wirkliche gesellschaftliche Selbstorganisation und der Überlebensgeist der Region waren defensiver Natur. Unter den Bedingungen der Freiheit hindert sie nichts, ihre Stärke und ihren Charakter offensiv unter Beweis zu stellen. Das ist keine sinnlose und bei weitem keine zwecklose Kraftdemonstration. Höchstens eine Überspitzung – eine der ausgefeiltesten Verteidigungsmechanismen der Kultur der Simulation. Noch ein Mal, ein letztes Mal, bevor der geordnete Kapitalismus die innere Struktur der Kultur der Simulation umgestalten und zumindest relativ durchschaubar machen kann, muß der Nachbar, nun schon öffentlich, ausgeraubt werden, ebenso wie der bereits bettelarme, doch aus der Kraft der korrupten Beziehungsnetze gespeiste, aufgeblasene, anmaßende, weit über seine Verhältnisse lebende Staat. Davon hängt die Zukunft der Kultur der Simulation ab. Wenn sie zugleich von innen und außen angegriffen, in die Legalität gezwungen und sich zu erinnern genötigt wird, dann muß sie sagen, die Nation werde angegriffen. Wenn sie mittels der Kanäle der organisierten Korruption den tödlich geschwächten Staat nicht noch heute ausrauben kann, wenn sie unter dem Vorwand des im Namen der Nation und vor allem der christlichen Nächstenliebe verkündeten tatsächlichen und endgültigen Systemwechsels nicht zumindest das Geld der Ärmsten vor allem in die eigene Tasche und erst in zweiter Linie in die Kassen der Kirchen und Parteien fließen lassen kann, wenn das große Lager der Sklaven nicht täglich die Hoffnung hat, morgen seine jüdischen Nachbarn ausrauben und wenigstens die Zigeuner ordentlich verdreschen zu können, dann findet die Kultur der Simulation für ihren Zwei-Fronten-Überlebenskampf weder Gefolge noch Munition.

Vom ersten Moment des Zusammenbruchs der sozialistischen Wirtschaft an hat sich der geordnete Kapitalismus mit seinen unglaublichen finanziellen Ressourcen, seiner globalen Wettbewerbsfähigkeit, seinem weltweiten Beziehungsgeflecht und seiner jahrhundertealten, ständig erprobten Geschäftserfahrung über die den Staat pausenlos melkende unsichtbare Struktur der Schattenwirtschaft gestülpt. Ihr Egoismus ist ein sicheres Kettenglied ihrer Verbindung. Die Rahmenbedingungen des kapitalistischen Egoismus sind aber durch die Geschichte gemäßigt und gesetzlich geregelt. Selbst dann, wenn er sich zeitweise weder an Gesetze noch an seine aus historischen Erfahrungen resultierende Mäßigung hält, von Regeln des Anstandes jetzt gar nicht zu reden. Mit der Kultur der Simulation kann er auf lange Sicht auch dann nichts anfangen, wenn er sich in den neuen Demokratien aus Unwissenheit oder praktischen Erwägungen auf ihren Gebrauch eingerichtet hat. Von Zeit zu Zeit äußert er seine Beunruhigung, doch er begreift nicht, warum er nicht verstanden beziehungsweise warum er gerade in dieser höchst wichtigen Frage ignoriert wird. Wer kein gestern und kein morgen kennt, weil er jeden Tag in gleicher Weise auf das Überleben, Überstehen und Davonkommen hinarbeitet; wer seine Meinung nicht darlegen, nicht ja oder nein sagen, sich nicht differenziert ausdrücken kann, weil seine Kenntnisse lückenhaft sind; wen Fachwissen nicht in Begeisterung versetzt; wessen Begriffe nicht auf festen Füßen stehen, mit dem kann man sich auf lange Sicht nicht verständigen und nicht zusammenarbeiten. Ohne spontane, schnelle, improvisierende Entscheidungen wie auch ohne sichere, langfristige Planung gibt es keinen Kapitalismus, eben darum ist es notwendig, die individuellen und allgemeinen Interessen unausgesetzt, dauerhaft und detailgenau aufeinander abzustimmen. Sein Bedarf nach Stabilität ist groß, Straßenkrawalle kann er nicht in seine Pläne einbeziehen.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.