LI 91, Winter 2010
Europa wird mestizisch
Globale Wanderungsbewegungen und die Verteidigung des SäkularismusElementardaten
Textauszug
(Auszug/LI 91)
Die Globalisierung hat eine tiefe Verschiebung der Identitäten mit sich gebracht, eine weitgehend ungleiche Expansion der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse, einen breiten Prozeß der Mobilität von Produktionsstrukturen und, als Konsequenz, eine neue internationale Arbeitsteilung. Auch hat sie – was uns hier interessiert – starke Bevölkerungsbewegungen ausgelöst. Die Welt dreht sich in einem mittlerweile schwer beherrschbaren Rhythmus. Die Nationen sehen ihre Identitätszeichen durch die weltweite Kulturindustrie durcheinandergewirbelt. Ihre Grenzen verwischen sich unter der Wirkung des Entstehens großer regionaler ökonomischer Gebilde und der Abwicklung zentraler Bereiche von Souveränität (Geld, Budgethoheit usw.) zugunsten von Institutionen, die transnationalen Interessen verpflichtet sind.
Ein neues Zeitalter kündigt sich an, was sicherlich weder den Verfall der Nationen noch das Verschwinden der Staaten bedeutet, sondern vor allem die Herausbildung einer neuen planetaren Konfiguration von Kräfteverhältnissen sowie den Machtzuwachs neuer Staaten, inbegriffen solcher, die gestern noch in der Unterentwicklung feststeckten.
Während die Weltökonomie sich viel stärker im Sinne wechselseitiger Abhängigkeit strukturiert als bei früheren Globalisierungsschüben (etwa der Landwirtschaft im 16. Jahrhundert oder der Industrie im 17. und 18. Jahrhundert), erscheint zum ersten Mal in der Geschichte ein neues Element, das alles auf den Kopf stellt, was bisher zwischen und innerhalb von Nationen galt. Jenseits der allgemeinen Expansion der Produktionsverhältnisse des modernen Kapitalismus (was man auch als Verwestlichung der Welt definieren könnte) ist zuerst und vor allem die ungeheure demographische Revolution des 20. Jahrhundert zu einem die Machtverhältnisse und nationalen Veränderungen zentral bedingenden Faktor geworden. Der Eintritt einer Reihe von Ländern in die internationale Ökonomie, die den Planeten in demographischer Hinsicht dominieren – China (1,35 Milliarden Einwohner), Indien (eine Milliarde), Afrika (eine Milliarde), Lateinamerika (etwa 600 Millionen) – ist in der Geschichte nie dagewesen und hat zu Konsequenzen unerhörter Tragweite für Kultur und Menschheit geführt. Eine Zahl genügt, um einen Eindruck von diesem demographischen Aufbruch zu vermitteln: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte die Weltbevölkerung etwa 1,5 Milliarden Menschen; heute beläuft sie sich auf etwa 6,5 Milliarden Bewohner. Im Jahr 2050 wird sie die 9 Milliarden Menschen übersteigen. Nie zuvor gab es auf dem Planeten eine solch sprunghafte Entwicklung in einer solch kurzen Zeitspanne.
Migrationen sind eine unvermeidliche Folge dieser Situation. Der UNO nach sind ungefähr 200 Millionen Menschen in Bewegung und nomadisieren durch die Welt, mit nichts als dem Wunsch, sich niederlassen zu können. Zu diesen Migrationen der Arbeitssuche kommen von nun an weitere 200 Millionen Klimamigranten hinzu, die der vom Weltwirtschaftssystem generierten Klimakatastrophe entgehen wollen.
Jenseits der legitimen Suche der Armen nach einem besseren Leben bringen diese Bevölkerungsbewegungen ans Licht, daß Zugehörigkeitsbeziehungen durcheinandergeraten, ganze Gesellschaftsgruppen entwurzelt werden, sich der Bezug zur nationalen Identität transformiert, insbesondere in den armen oder Schwellenländern. Noch bezeichnender ist: Die meisten Analysen von Migrationsmotiven sogenannter Mittelschichten in armen Länder zeugen von einer Vertrauenskrise dieser Schichten in die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer eigenen Nationen und in die Möglichkeit, einen Lebensstandard zu erlangen, der sich mit dem der reichen Länder vergleichen ließe. Nationale Identität in den armen Ländern, die sich oft polemisch gegen die westlichen Länder konstruiert, wird zunehmend unterminiert durch das Fortbestehen von Armut und „Fehlentwicklung“; Seßhaftigkeit im Ursprungsland kann sich gegenüber dem Wunder schneller Bereicherung durch Emigration schwerlich behaupten. Den Ärmsten geht es darum, dem Elend zu entkommen; der Mittelschicht darum, Zugang zu „normaler“ Entwicklung zu erhalten.
Die globalisierte Emigration, die sich vor unseren Augen entfaltet, ist also auch ein endloses Wettrennen um Reichtum und Glück, das die Konsumgesellschaft verspricht. Man muß nur zu Ferienbeginn beobachten, wie Migranten voll beladen mit Gadgets in „ihre Länder“ zurückkehren und die Symbole schnell erworbenen Reichtums zur Schau stellen (Luxuskarossen, Haushaltsgeräte usw.).
Ein anderes Paradox: Nicht eine der Gesellschaften der Erde entgeht diesen komplexen und gegenläufigen Migrationsbewegungen. Afrikanische Länder, die immer wichtigere Klassen ihrer Bürger ziehen lassen, nehmen dafür andere auf, die oft um das nackte Leben kämpfen. Der Maghreb, gestern und heute noch Land der Aufbrüche und Emigrationen, ist auch „Aufnahme“region für Menschen aus dem subsaharischen Afrika und Asien geworden und wird vielleicht morgen das Land von Wanderarbeitern aus den Ländern des Ostens sein, die Europa nicht wollte. Die Zustände in Lateinamerika sind identisch. Keine menschliche Gemeinschaft kann mehr behaupten, diesem Bevölkerungskreislauf und den damit verbundenen Konsequenzen für die Identität entrinnen zu können.
Solche Verschiebungen gehen mit dem Zerfall gesellschaftlicher Stellungen und dem Verschwinden herkömmlicher Statuspositionen zugunsten neuer einher. Mit dem langsamen, aber zunehmenden Verschwinden der Industrieproletariate und dem Anwachsen der Anzahl der Lohnempfänger im Dienstleistungssektor, der Deklassierung des eingewanderten Subproletariats, der Transformation der nationalen Bourgeoisien in globalisierte Eliten steht es in den entwickelten Ländern ähnlich. Umgekehrt bilden sich in den Ländern der Ex-„Dritten Welt“ sozial unerbittliche Bourgeoisien, wandeln sich nationale Ökonomien in Industriestätten mit weltweiter Orientierung, erinnert die Proletarisierung der Landbevölkerung in grausamer Weise daran, was sich im Europa des 19. Jahrhunderts abspielte.
Die Ökonomie, die dabei entsteht, basiert auf der Herstellung von Billigware, dem Markenzeichen dieses neuen Kapitalismus. Das Prinzip ist einfach: Es geht darum, an allem zu verdienen, was Produktion billig macht: an der Qualität des Produkts, an den gedrückten Löhnen, an den schlechten Lebensbedingungen usw. Die Entwertung der Produktion geht einher mit einer Abwertung der Löhne und des sozialen Status.
Das ist die Gestalt des neuen Massenkapitalismus, der sich auf ein außergewöhnlich raffiniertes System technologischer Produktion stützt, das im Augenblick vornehmlich in den entwickelten Ländern konzentriert ist. Diese Aufteilung dürfte nicht überdauern: China, Indien, Brasilien sind dazu bestimmt, im Verlauf dieses 21. Jahrhunderts zu Technologiemächten erster Ordnung zu werden. Eine Entwicklung, die nicht ohne Konsequenzen auf gesellschaftlicher Ebene bleiben wird: Neue technische und wissenschaftliche Schichten werden in diesen Ländern auftauchen, die ein Reservoir für die Migrationen der Zukunft bilden könnten.
Diese Gesamtsituation erklärt zugleich die Verlagerung der großen industriellen Unternehmen des westlichen Kapitalismus hin zu Ländern ohne Sozialabgaben und mit niedrigen Arbeitskosten sowie, umgekehrt, das Auftauchen von Bevölkerungsschichten, die mit Haut und Haaren ausbeutbar sind und somit zur Senkung derselben Abgaben und Kosten in den entwickelten Ländern taugen. Auch das ist Globalisierung.
Daher kommen die Identitätsfragen wieder auf. Während in den Ursprungsländern eine Reaktion darauf durch Emigration oder die Bereitschaft dazu zutage tritt, betrifft sie in den entwickelten Ländern die Fähigkeit zur Aufnahme sowie das Anwachsen von Identitätsfurcht und -angst angesichts der Präsenz von ethnisch, kulturell und konfessionell differenter Bevölkerungsgruppen. Hat nicht Samuel Huntington ein Werk verfaßt, das den Titel trägt: Who are we? in der Absicht, eine saubere ethno-kulturelle Demarkationslinie zwischen weißen Amerikanern und „Hispanos“ zu ziehen, die für die USA als ethnisch und kulturell allogen angesehen werden? Es handelt sich hierbei um ein extremes Beispiel – aber kann man sicher sein, daß es nicht die weltanschauliche Mehrheitsmeinung des Durchschnittsbürgers zum Ausdruck bringt?
In Europa ist das Ergebnis eine tiefgreifende Transformation der Bevölkerungsstruktur. Während das europäische Modell der Verwaltung und Organisation von Wohlstand sich zunehmend dem in den USA herrschenden System angleicht, kann man behaupten, daß Europa zugleich einem analogen Umwandlungsprozeß hinsichtlich seiner Bevölkerungen unterliegt. Die ökonomische „Amerikanisierung“ verkörpert sich auch in einer ungeheuren Durchmischung von Bevölkerungen.
Europa wird mestizisch: Seine Populationen wechseln ihr ethnisches und kulturelles Gewand; neue Glaubensrichtungen kommen auf, die ihm ein neues Gesicht verleihen. Dabei handelt es sich um einen irreversiblen Prozeß, der sich ebenso dem außergewöhnlichen demographischen Wachstum des 20. Jahrhunderts verdankt wie dem weltweit herrschenden wirtschaftlichen System, das auf die Zirkulation von Gütern und Waren fokussiert ist – die Menschen, im modernen Kapitalismus reduziert auf Schemen, nur Waren unter anderen.
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