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Cover Lettre International 70, Abbas
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LI 70, Herbst 2005

Derridas Spuren

Über das Risiko des Denkens und die Schrift im Herzen der Stimme

SERGIO BENVENUTO: Könnten Sie kurz über Ihre persönliche Beziehung zu Jacques Derrida sprechen? Welcher Zug seiner Persönlichkeit hat sich Ihnen am stärksten eingeprägt?
 
JEAN-LUC NANCY: Jacques Derrida ist mir immer als ein unteilbares Ganzes aus Denken und Persönlichkeit erschienen. Ich habe bei ihm nie zwischen dem Menschen und dem Werk unterschieden, ich habe nicht einmal die Versuchung dazu verspürt. Er lebte sein Denken voll und ganz, und er dachte sein Leben voll und ganz: Das soll nicht heißen, daß er seinen Ideen entsprach oder mit ihnen konform ging (gemäß dem banalen Schema einer orthonomen "Anwendung" der Theorie in der Praxis), sondern daß sein Leben  seine Persönlichkeit, wie Sie es ausdrücken, sein Verhältnis zu anderen und zu sich selbst, von ein und derselben Beunruhigung getragen, gehalten und in Spannung versetzt wurde, von ein und derselben Sorge (um diesen Begriff Heideggers aufzugreifen, den er selbst, wie mir scheint, eher selten verwendet hat). Welche Sorge? Jene, die auf das Denken  oder die Seele, wenn Sie so wollen  zukommt, wenn sämtliche Sicherheiten und Gewißheiten erschüttert werden. Er selbst durchlebte diese Erschütterung, wie überhaupt die ganze Epoche sie durchlebte, die genauer gesagt die Zeit eines "Endes der Philosophie" war, in jenem Sinn, den Heidegger diesem Ausdruck gab: das Ende der "Weltbilder" und der Beginn einer "Aufgabe des Denkens", die derart unerhört ist, daß sie vor sich selbst Angst bekommt. Meine Beziehung zu Jacques Derrida wird eine Freundschaft in dieser und  wenn ich so sagen kann  durch diese Beunruhigung gewesen sein. Ich würde es gerne so ausdrücken: Er hatte vor nichts Angst und war über alles beunruhigt. Ich könnte sogar sagen: Er machte sich wegen allem verrückt, er streifte die Verrücktheit, indem er stets von neuem die unendliche Zerbrechlichkeit aller Sicherheiten unserer Tradition (unserer Kultur, unseres Wissens, unseres Denkens) empfand.

Welche Dimension des Derridaschen Werks hat Ihr eigenes Denken am meisten beeinßußt? Und warum?

Er war es, der mich begreifen ließ, welch unumkehrbare Wende das Denken seit dem Moment Heideggers, Wittgensteins, Batailles und Freuds genommen hat. Er hat mir zu dieser Einsicht verholfen, weil er den Abstand erschloß, der der "Selbstpräsenz" eingeschrieben ist. Er hat ihn différance genannt, wobei er ein "a" hineinschrieb, das inmitten des französischen Wortes différence einen Barbarismus darstellt. Différance: irreduzible Aufspreizung der Gegenwart (présent), der Präsenz (présence), des Selbst  des Subjekts. Schrift im Herzen der Stimme. Einem "Herzen", das konsequenterweise nicht die in sich versammelte Innerlichkeit darstellt, eine "Bleibe", die nicht das Heim der familiären oder vertrauten Intimität ist. Wo Sartre  um einen Orientierungspunkt aus meinen Studienjahren herauszugreifen  noch ausschließlich die Dialektik von Ansich und Fürsich vorgeschlagen hatte, während hinter ihm die von allen Nietzscheanischen Verwünschungen noch beinahe unberührte hegelianische Maschine weiterlief (so nahm ich es zumindest wahr, wie übrigens auch viele andere damals), da ging es hier nun plötzlich nicht mehr nur um irgendeine reduktionistische oder versöhnende Motorik, sondern es tat sich eine Instabilität auf, die dem Abenteuer des Denkens eine ganz neue Chance  mit allen Risiken!  eröffnete, die darin bestand, den Kreis des Sinns nicht zu schließen, keine Finalitäten  und seien es höchste und letzte  zu erfüllen. Mit einem Mal gab es da für mich ein Denken, das in unserem Jahrhundert, in unserer Welt, im konkreten Leben von 1960 am Werk war (oder genauer gesagt von 1962: am Ende des Algerienkriegs, zu Beginn einer ganz anderen Geschichte und sogar eines Nach-der-Geschichte...). Plötzlich hatte die Philosophie für mich zur Aktualität ihrer Bewegung, ihres Akts und ihrer Geste gefunden.

Sie haben soeben von "Aktualität" gesprochen. Nun ist das aber ein Wort, das sich nicht so ohne weiteres von selbst versteht. Man denkt dabei sowohl an "Wirklichkeit" als energeia, als Übergang zum Akt oder Verwirklichung im Aristotelischen Sinne, als auch an die aktuelle Bedeutung von Aktualität: die Tatsache, auf der Höhe der Zeit, zeitgemäß zu sein, sich mit seiner Zeit im Einklang zu befinden. In welchem der beiden Sinne ist das Derridasche Werk für Sie aktuell? Oder gar in beiden gleichzeitig?

Ich danke Ihnen, daß Sie mich an diese beiden Bedeutungen erinnert haben, denn ich kann sagen, daß sie in meiner Antwort implizit verbunden waren. Zunächst zur Aktualität im zweiten Sinne: zur Resonanz seiner Zeit und mit seiner Zeit. Als ich gegen 1964 Derrida las, wurde diese Resonanz für mich auf eine völlig unerhörte Art und Weise manifest. Um Ihnen besser zu antworten, nehme ich mein Exemplar von L'Origine de la géometrie zur Hand und wähle aus den Passagen, die ich damals unterstrichen habe, folgende Worte aus: "Indem die polemische Einheit von Erscheinen und Verschwinden irreduzibel gemacht wird..." In dieser "Irreduzibilität" erkenne ich etwas wieder, das für mich damals eine "Resonanz" bildete. Nie zuvor hatte ich so etwas empfunden, zumindest nicht derart deutlich und gleichsam "getroffen". Und eben darin bestand eine gewisse Aktualität des Denkens: es galt, in diese "polemische Einheit" einzutreten, was übrigens auch eine Art und Weise war, einer bestimmten Phänomenologie zu entschlüpfen oder die eigene Position gegenüber einer bestimmten Positivität der Geschichte, des Bewußtseins, des Lebens undsoweiter zu verändern. Dieses Wort "polemisch" (ein Ausdruck, dessen Wahl mir heute seltsam erscheint, aber man müßte den ganzen Text noch einmal lesen) verschob oder durchkreuzte die "Dialektik". Nun aber zur anderen Bedeutung von aktuell: Da gab es nun einen Denkakt, die Prägung und den Ton, den "Schlag" des wirklichen Akts eines am Werk befindlichen Denkens, eben hier, vor mir  denn ich wußte, daß es ein vollkommen zeitgenössisches Denken war, das gleichzeitig aber auch eine gewisse Verschiebung darstellte hinsichtlich des Kommentars, als der es sich präsentierte (und der das Register der anderen Zeitgenossen war, die ich kannte).

Sind Sie der Ansicht, daß es im Denken Derridas im Laufe seines Lebens eine Entwicklung gab?

Natürlich gab es eine Entwicklung, wie bei jedem zum Glück. In zunehmendem Maße haben ihn Motive beschäftigt, die mit der Institution, dem Ethischen oder dem Politischen zusammenhängen. Sie haben seine Aufmerksamkeit teilweise auch deshalb auf sich gezogen, weil diesbezüglich von außen häufig Fragen an ihn gerichtet wurden: Viele haben nicht bemerkt, daß die  sagen wir metaphysischen  Einsätze des Denkens der différance und der "Grammatologie" noch vor beziehungsweise diesseits aller moralischen und politischen Determinierungen liegen und daß es nicht besonders sinnvoll ist, aus ihnen eine Moral oder eine Politik "ableiten" zu wollen; genauer gesagt deshalb nicht, weil eine solche "Deduktion" oder Anwendung auf einer Denkweise beruht, die auf die Sicherheit von Prinzipien vertraut, die irgendwo gegeben und "anwendbar" wären. Er wollte hingegen zeigen, daß er von der Verantwortung oder dem, was man vor ihm als "Engagement" bezeichnete, nichts preisgeben würde. In dem, was er hinsichtlich dieser Bewegung tat, blieb er sich selbst stets völlig treu, denn er hat nie aufgehört, die Sicherheit all dieser humanistischen Gewißheiten selbst dann zu hinterfragen, wenn er sie bestätigen zu können schien: Wenn er sich zum Beispiel zum hartnäckigsten philosophischen Verfechter der Abschaffung der Todesstrafe machte, erhielt er gleichzeitig die Behauptung aufrecht  ja hämmerte sie uns sogar ein , daß es bislang noch keinerlei schlüssige und unbestreitbare philosophische Argumentation zugunsten einer derartigen Abschaffung gebe und daß, was ihr Prinzip betrifft (wenn es sich denn um ein Prinzip handeln sollte), eine völlig andere Denkhaltung nötig sei.
(...)

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