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Cover Lettre International 131, Antoine D'Agata
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Inhaltsverzeichnis

LI 131, Winter 2020

Liebe, Gewalt, Religion

Sohnesopfer, Vatermord – Das Ende des Heiligen und der Monotheismus

Jean‑Luc Nancy: Die damalige, fortwährende und seit dem Ersten Weltkrieg zunehmende Gewalt veranlaßte Freud zu schreiben, daß allein die christliche Liebe dieser Gewalt gewachsen sei, aber keine Anwendung finden könne. Dieser Hinweis wirft die Frage auf: Warum ist mit dem Christentum die Liebe göttlich, ja zum göttlichen Gesetz geworden? Es geschah vielleicht zum ersten Mal, daß eine Religion durch ein Gefühl charakterisiert wird (es gäbe nur eine, wenn auch ferne Parallele, das buddhistische Mitleid). Wie ist dieses Phänomen zu verstehen – einschließlich seiner Nichtanwendbarkeit?

Sergio Benvenuto: Es ist in der Tat erstaunlich, daß der späte Freud, ein Jude, von einer Überlegenheit des Christentums, selbst in bezug auf das Judentum, spricht. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion sagt er klar und deutlich, daß das Judentum den Preis für seine Verdrängung der ursprünglichen Tötung des Moses (gemäß seiner eigenen mythischen Rekonstruktion) zu zahlen habe, eines inauguralen Vatermords/Gottesmords, während das Christentum in der Kreuzigung die Tötung von Gott-Vater anerkenne. Der Vatermord – der Gottesmord wäre eine seiner Erscheinungsformen – war nämlich Freuds große Obsession. Freud macht aus dem Vatermord nicht nur das grundlegende Phantasma des Subjekts, sondern auch den Gründungsakt der Kultur, der Zivilisation, ja des gesamten Soziallebens, der für ihn den Anfang der individuellen Psyche selbst kennzeichnet. Für Freud ist die Psyche, das Unbewußte, die Frucht eines historischen Ereignisses, der Tötung des Vaters.
     In Wirklichkeit geht es im Christentum aber eher um die Tötung – ja schlimmer noch –, um die Opferung von Gott-Sohn und nicht von Gott-Vater, was eine gewisse Grausamkeit des Vaters zum Ausdruck bringt [énonce], ja denunziert [dénonce]. Gott-Vater will die Kreuzigung des Sohnes, um die Menschen zu retten. Im Alten Testament weist das Buch Hiob ebenfalls eine gewisse Grausamkeit, sogar einen gewissen Zynismus auf, im Neuen Testament aber ist die Grenze zum Grauen überschritten.
     Ich frage mich nun, ob dieser Vorrang der Vaterliebe im Christentum nicht die Kehrseite einer väterlichen Grausamkeit ist, deren unauslöschliches Zeichen das Kreuz darstellt. „Vater, warum hast du mich verlassen?“ schreit Jesus am Kreuz. Ich frage mich, ob diese überbordende göttliche Liebe nicht so etwas wie eine Überkompensation einer menschlichen Verfluchung der Grausamkeit Gottes ist.

Jean‑Luc Nancy: Ich antworte auf provisorische oder programmatische Weise, denn ich werde die Frage nur anschneiden und hoffe, sie später näher zu behandeln.
     Gehen wir von dem aus, was du „historisches Ereignis“ und „Vatermord“ nennst. Ich würde sagen, daß dies das Ereignis der Geschichte selbst im Sinne der Menschheitsgeschichte ist. Der Vatermord kann zwar die Ermordung eines dominierenden männlichen Wesens sein, zum VaterMord aber wird er, weil er mit der Sprache verbunden ist (vielleicht im Modus der mythischen Erzählung, die der jüngste Sohn der Horde darbietet, wie Freud es sich vorstellt). „Vater“ ist sein Name. Vielleicht sogar der Name dessen, der verschwindet/stirbt [disparaît], weil der Name immer auch das Verschwinden [disparition] der Sache als einfacher Anwesenheit ist.
     Der „Mord“ taucht insofern auf, als es nicht mehr um eine bloße Tötung geht, sondern um eine grausame Hinrichtung. „Grausam“ meint das Blut, das aus dem verletzten Körper fließt, das Blut des Sterbenden (vergleiche: das rohe, blutende Fleisch). Dieses Blut verdoppelt in gewisser Weise die Sprache: Der Vater ist der Vater als Toter, sein vergossenes Blut zeugt von seinem Tod, aber es ist auch dessen materielle Realität. Es ist sakrifiziell, „heilig-machend“, es bewirkt die Sakralität des Vaters, seine Be-Seitigung, seine Ab-Sonderung.
    Nun beginnt das Zeitalter des Opfers [sacrifice]: Das Kollektiv muß den grausamen Akt an einem seiner Mitglieder wiederholen, nun an die Adresse eines Namens gerichtet, der den Beseitigten und Abgesonderten benennt (oder mehrerer Namen, denn um recht benannt, bezeichnet oder bedeutet zu werden, findet der Vater Eingang in mythologische Erzählungen).
     Im östlichen Mittelmeerraum beginnt das Menschenopfer noch vor der Antike zu verschwinden. Letztere bricht an, als sämtliche „Reiche“ (außer Ägypten) zusammenbrechen, was auch dem Moment einer technischen Beschleunigung entspricht (Eisen, Schrift). Die beiden Zweige des entstehenden Okzidents – der griechische und der jüdische – zeichnen sich durch eine Geschichte der Ersetzung eines Menschen durch ein Tier in einem Opfer aus.
     Dadurch vollzieht sich eine Transformation der Sprachkultur: In Erscheinung tritt zum einen der Gedanke einer Autonomie der Sprache (der logos), zum anderen der eines wesentlich sprechenden Gottes (ohne Gestalt). Ich möchte nahelegen, daß diese doppelte Form der Autonomisierung der Sprache erstens einer Selbstgenügsamkeit des Menschen entspricht, der das Band, das mittels des Opfers geknüpft wird, nicht mehr nötig hat (und der sich also das Töten verbietet, außer aus Gründen, die ich als sozioökonomisch – also tendenziell desakralisiert – bezeichnen würde: Todesstrafe oder Krieg), und daß sie zweitens im Menschen eine innere Spanne aufreißt (also eine Verletzung, die in der Selbstgenügsamkeit verborgen liegt), denn die symbolische Autonomie – um sie hier so zu nennen – offenbart gleichzeitig die unendliche Distanz, die den Menschen von sich selbst trennt.
     Der Platonismus, das Judentum und dann das Christentum sind Ausarbeitungen dieser Ambivalenz. Dem Christentum ist das am besten gelungen, denn es setzt Teilung und Autonomie als identisch. Gott ist „mir innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes.“
     Die Grausamkeit des Opfers vollzieht man nun untereinander: von „Vater“ zu „Sohn“ und von Mensch zu Mensch (als Märtyrer oder Asket, oder indem man schlicht Gott sein Leben darbringt). Zudem wird sie als Effekt einer Allmacht vollzogen, denn sie bedeutet nicht nur eine vollständige Herrschaft über die Welt (wie im Falle der früheren großen Götter), sondern auch die Übertragung einer unbegrenzten Macht an den Menschen.
Allmählich schließt sich der Abstand in der Vorstellung von einem Gott und seinem Geschöpf: Der Mensch übt selbst göttliche Macht aus und er selbst kann diese Macht gegen sich selbst wenden. Gegen sich selbst als Anderen – als Hindernis für seine Herrschaft, und sei sie mittels seiner Technik ausgeübt – oder gegen sich selbst als Selben, der darauf angelegt ist, einer Übermenschlichkeit zu dienen beziehungsweise (anders formuliert) dazu, eine neue Welt zu schaffen.
     Jesus wird in Wirklichkeit von sich selbst verlassen und sich selbst überlassen.


Sergio Benvenuto: Mir scheint, daß du die Erscheinungsformen des Opfers in der Geschichte vor dem Hintergrund von Freuds Analyse der Religion – und deren Wiederaufgreifen durch Lacan in Namen-des-Vaters  – liest, die auf den Vatermord fokussiert ist. Du weißt aber, daß diese Paternalisierung, wenn ich so sagen kann, der Religion – und also der Interpretation der Beziehung zwischen Gott und Mensch als Hyperbolisierung der Beziehung zwischen Vater und Sohn – zunehmend kritisiert wird.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.