LI 72, Frühjahr 2006
Al-Sarkawi, der Fremde
Lebenslinien - Vom jordanischen Slum bis zur Schlacht von FalludschaElementardaten
Genre: Biographie, Historische Betrachtung
Übersetzung: Aus dem Englischen von Florian Wolfrum
Textauszug
Die Sprengung der irakischen Askarija-Moschee am 22. Februar zerstörte ein 1 200 Jahre altes Heiligtum, eines der bedeutendsten für die Schiiten. Es wurde vor hundert Jahren über den antiken Gräbern des zehnten und des elften Imams errichtet, die als heilige Nachkommen des Propheten Mohammed gelten. Eine weitere Kuppel markiert den Ort, an dem der zwölfte und letzte Imam, Muhammad al-Mahdi, im Jahr 878 verschwunden sein soll. Die Gläubigen sagen, der Mahdi werde, ähnlich wie der jüdische Messias, zurückkehren, um die Gerechtigkeit in der Welt wiederherzustellen.
Dieses Ereignis signalisierte in aller Deutlichkeit den vorläufigen Höhepunkt einer Welle der Gewalt im Irak, so daß man heute zugeben muß, daß das Land von einem Bürgerkrieg zerrissen wird. Das Attentat von Askarija ist nur das letzte dramatische Ereignis im Verlauf der Balkanisierung des Irak, der Eskalation sektiererischer Gewalttätigkeit, die den Irak seit dem Ende des offiziellen Kriegs heimsucht. Der Mann, der hinter der Spaltung der irakischen Sunniten und Schiiten steckt, der den Keil zwischen sie getrieben und blutige Fehden zwischen benachbarten Familien verursacht hat, ist Abu Mussab al-Sarkawi.
Ende Oktober 1966 wurde Abu Mussab al-Sarkawi als Ahmed Fadel al-Chalaylah in Sarka, einer jordanischen Stadt mit 800 000 Einwohnern, geboren, die wegen ihrer Armut und Kriminalität von ihren eigenen Bewohnern als „Chicago des Nahen Ostens“ bezeichnet wird. Eine Familie ist stolz darauf, zum al-Chalaylah-Clan zu gehören, einem Zweig der Banu Hassan, eines großen Beduinenstammes im Ostjordanland, der der haschemitischen Königsfamilie Jordaniens treu ergeben ist. Ahmed Fadel wuchs weitab von den Beduinenpfaden auf, in Masum, einem ärmlichen Arbeiterviertel, in dem traditionelle Stammeswerte eine ungute Mischung mit westlichem Konsumismus und rasanter Modernisierung eingehen. Als Kind besuchte er die örtliche Schule, und der Friedhof war sein Spielplatz. Er war kein herausragender Schüler. Seinen Lehrern zufolge war er rebellisch und undiszipliniert, aber kein Anführer.
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Es war die Gefängnishaft und nicht Afghanistan, die al-Sarkawis inneres Potential entfesselte. „Ich denke, sieben Jahre im Gefängnis sind mehr als genug, um jede Persönlichkeit umzugestalten“, erklärt ein ehemaliger Häftling. Im Gefängnis mußte al-Gharib sowohl physische wie mentale Folter erdulden. Einmal verbrachte er achteinhalb Monate in Einzelhaft, in der Backofenhitze der jordanischen Wüste, eingesperrt in eine Zelle, die hinsichtlich Größe und Komfort einem Tierkäfig entsprach. Dennoch wuchs er, seinen Mitgefangenen zufolge, seiner Herausforderung entgegen, und die Härte der Haftbedingungen verwandelte ihn, statt ihn zu brechen.
Die Metamorphose war sowohl eine physische wie eine psychische. Seine Mitgefangenen erinnern sich, wie er ständig trainierte, alles stemmte, was er als Hantel benutzen konnte, auch Eimer voll Steine. Er verlor bald seine schlanke Figur, und sein Körper wurde massig und kräftig. „Irgendwann entschied er sich, den Koran auswendig zu lernen“, erinnert sich sein Zellengenosse Faiq al-Shawish. „Ich half ihm: Er rezitierte für mich mindestens zehn Verse pro Tag. Al-Sarkawi war rastlos, wenn es um Dschihad und Lernen ging. Wenn er sich nur dem Lernen gewidmet hätte, hätte er seine Lehrer weit übertreffen können. Er hatte die Geduld, die ganze Nacht aufzubleiben, um ein einziges Thema zu studieren.“
„Al-Gharib besaß hohe organisatorische Führungsstärke – eine Qualität, die al-Maqdisi fehlte“, erklärt Abu Rumman, der ihm im Gefängnis begegnete. Er war in der Lage, alle zu kontrollieren und die Beziehungen innerhalb der Gruppe zu organisieren. Abu Othman, einem anderen Mitgefangenen, zufolge, „ermöglichte ihm seine Stammesherkunft, Treueide von anderen Gefangenen zu erhalten.“ Unter ihnen waren einfache Kriminelle, auch Drogenabhängige, die er als „Opfer der Gesellschaft“ definierte. Und schließlich trug ihm seine Herkunft aus der Arbeiterklasse beträchtliche Sympathie von seiten der vorwiegend palästinensischen Gefangenen ein.
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Im Jahr 2000 traf „der Fremde“ in Kandahar schließlich auf Osama Bin Laden. Doch anders als von vielen behauptet wurde, leistete al-Gharib dem Emir von al-Qaida nicht Gefolgschaft, als dieser ihm und seiner Gruppe anbot, sich seiner Organisation anzuschließen. Er war nie damit einverstanden, den weit entfernten Feind, die USA, zu bekämpfen; sein Horizont beschränkte sich auf den nahen Feind: die korrupten arabischen Regimes und insbesondere Jordanien.
Die Begegnung der beiden Männer war in hohem Maße symbolisch: Sie stammten von den entgegengesetzten Enden der arabischen Welt – der eine war reich und mächtig, der andere ein anpassungsgestörter Außenseiter. Dennoch teilten beide Männer ein Ziel: die Befreiung der Muslime. Diesem Ziel waren beide leidenschaftlich ergeben, doch konnten sie sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft – ein unüberbrückbarer Graben in der arabischen Welt – nicht auf eine Strategie einigen, wie es zu erreichen wäre. Osama Bin Laden, der aus einer sehr reichen Familie kam und zeit seines Lebens in Verbindung mit der politischen und internationalen Elite gestanden hatte, stand eine im wesentlichen globale, antiimperialistische Vision des Konflikts vor Augen. Al-Gharib dagegen, der Arbeiterjunge, der im Gefängnis geformt worden war, war ein revolutionärer Outlaw. Er konnte die kulturellen Grenzen der arabischen Staaten nicht transzendieren, um dem Dschihad eine internationale Dimension zu verleihen. Er stand dem Terrorismus alten Stils, den lokalen bewaffneten Gruppen der IRA und ETA, noch viel näher als der transnationalen Qaida.
Ist es vorstellbar, daß ein kleiner Fisch wie al-Gharib, der über keine finanziellen Mittel verfügte und sich nicht einmal einen Ruf als Mudschahed erworben hatte, Bin Ladens Angebot, al-Qaida beizutreten, ausgeschlagen hat? Nach den Berichten derer, die ihm begegnet sind, lag ein solches Verhalten in völligem Einklang mit seiner Persönlichkeit. „Er befolgte niemals Befehle anderer“, räumt ein Mitglied seiner Gruppe ein, „ich habe ihn nie einen anderen als den Propheten preisen hören. Das war Abu Mussabs Charakter: Er folgte niemals irgend jemandem, er ging immer nur los, um das zu tun, was seinem Gefühl nach zu tun war.“
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