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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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LI 93, Sommer 2011

Der verkannte Koran

Das Buch des Islam ist kein Erbe Europas, aber ein Vermächtnis an Europa

 

Angelika Neuwirth spricht mit Adalbert Reif

(…)
ADALBERT REIF: Warum tun sich die Muslime so schwer mit der Geschichtlichkeit des Korans, während Sie ihr elementare Bedeutung beimessen?

ANGELIKA NEUWIRTH: Wir blicken aus verschiedenen Perspektiven auf die Genese von Religionen. Dank neuerer Forschung sind wir über die verschiedenen Stadien, die die Entwicklung einer heiligen Schrift durchläuft, bis sie ihre endgültige Form erreicht, über die Einbringungen menschlicher Akteure in diesen Prozeß, für die Bibel informiert. Koranforscher interessiert an diesem Entstehungsprozeß nicht nur seine religiöse Bedeutung, sondern auch die intellektuelle Leistung, die an der Entstehung einer heiligen Schrift beteiligt war. Diese Leistung wird im Fall des Korans stark verkannt, nicht zuletzt, weil sie der Alleinzuschreibung des heiligen Textes an Gott im Wege steht.

Der Prozeß der Koranentstehung stellt sich vor allem für konservative muslimische Kreise anders dar. Sie legen Gewicht auf die transzendente Dimension des Textes, seine himmlische Herkunft, und lassen keinen Raum für eine menschliche Leistung. Das war nicht immer so. Eine breitgestreute Literatur zu den „Anlässen der Offenbarung“ bezeugt ein frühes Interesse an den gesellschaftlichen Umständen der Debatte, durch die die Entstehung einer besonderen Textstelle angestoßen wurde. Die Versuche der Verankerung des Korans
in einer historischen Realität werden in reformorientierten Kreisen, etwa in Tunesien, heute sehr ernst genommen. Das Beharren auf der Transzendenz des Korans darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es hier mit einem „Rückzugsgefecht“ zu tun haben. Aus der Überlegung heraus, den Koran gegen Mißachtung seitens westlicher Kritiker verteidigen zu sollen, spielt man den menschlichen Anteil an der Koranentstehung herunter.

Die Hervorhebnung seiner Transzendenz ist inzwischen auch in ganz unpolemischen Zusammenhängen üblich; wenn Sie heute eine Koran
-Website öffnen, finden Sie Abbildungen von Koranen, die von einem Halo überwölbt sind. Der Betrachter soll sogleich sehen, daß es sich um ein himmlisches Buch handelt. Das Bild des Korans war historisch nie so; diese Erscheinung ist neu. Sogar an derart traditionellen Symbolen wie dem Muezzinruf läßt sich erkennen, daß man sich im Islam von Anfang an bewußt war, daß die Gemeinde um den Propheten an der Weitertradierung des Korans und der Tradition substantiell beteiligt war. Denn in dem kurzen, jedem Muslim vertrauten Text des Muezzinrufs wird – nach dem Gottespreis und dem eigentlichen Gebetsruf – ein Segensspruch auf den Propheten angefügt, dem ganz am Schluß noch ein langer Segen über seine Gefährten, also seine menschlichen Mitstreiter, folgt. Ich höre aus diesem Muezzinruf heraus, daß man sich der Rolle der menschlichen Akteure, die an der Islamentstehung beteiligt waren, seit jeher bewußt war.

(…)

Worauf beruht die „Eigengesetzlichkeit“ des Korans als „mündlicher Schrift“?

Die Hörer, die man im Koran
reflektiert findet, waren teils der Botschaft aufgeschlossen, teils aber auch hartgesottene Gegner, die an heidnischen Grundeinstellungen wie dem Lebensgenuß, dem Stolz auf Herkunft und Vermögen, der Todesverachtung festhielten. Solche Hörer mußte die Aussicht auf ein Jüngstes Gericht irritieren. Angesichts der neuen moralischen Anforderungen – soziale Verantwortung für Schwache, persönliche Bescheidenheit, strenge Einhaltung kultischer Vorschriften – geriet ihr Selbstbild als stolze, in ihrem Handeln autonome Angehörige einer Elite ins Wanken. Ihnen mußte an einer Diskreditierung der für sie ärgerlichen neuen Botschaft gelegen sein. Unter den vielen Argumenten war besonders schlagkräftig, daß die Botschaft des Verkünders nicht die Form der früheren monotheistischen Botschaften besaß, also nicht als fertiges „Buch“ vorlag, wie es die Juden und Christen besaßen, sondern „in Schüben“ offenbart wurde. Die Antwort an die Gegner war, daß in der Mündlichkeit eine Chance liege. Denn die aufeinanderfolgenden Offenbarungen erlauben es in einzigartiger Weise, das zu Verkündende stets auf die jeweilige Situation der Hörer abzustimmen, also Antworten auf gerade aktuelle Fragen zu geben.

Die Mündlichkeit des Korans
mag aus unserem Erwartungshorizont fremd erscheinen; ihre positive Wertung ist aber nicht abwegig. Auch im Judentum hat sich die jeweils „zeitgemäße“ Neudeutung der biblischen Texte bewährt. In einer Zeit, als das Hebräische nicht mehr als bekannt vorausgesetzt werden konnte, wurde in sogenannten Targumim eine „theologische Übersetzung“ – eine Wiedergabe der biblischen Texte im Licht ihrer inzwischen erreichten Deutung – unternommen; es entstand eine „Neuschreibung“ der biblischen Texte, die auch im Gottesdienst zur Verlesung kam. Die schubweise Mitteilung von koranischen Texten an die Gemeinde ist damit vergleichbar: Auch im Fall des Korans wurden bekannte Mitteilungen im Licht einer neu erreichten Weltsicht neu formuliert und mit neuen Fragen in Verbindung gebracht. Die am Koran so oft beanstandeten Wiederholungen ähnlicher Erzählungen und Argumentationen haben hier ihren Ursprung: Sie stellen jeweils neue Reflexionen eines Gegenstands im Licht veränderter Einsichten dar.

Spielt die Mündlichkeit des Korans heute eine Rolle?

Der Koran
blieb vorwiegend mündlich. In einem islamischen Gottesdienst fehlt das im ostkirchlichen oder jüdischen Kontext in den Mittelpunkt gestellte Buch vollständig. Die Rezitation des Korans erfolgt auswendig. Auch der Beter in der Moschee hat – anders als der in der Synagoge – kein Buch in der Hand. Das Buch spielt nur im Lehrbetrieb eine Rolle, wo es um die rechtlichen und dogmatischen Implikationen des Textes geht. Im Kultus begegnet der Koran nur als gesprochenes Wort. 

(...)

 

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.