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Cover Lettre International, Stanislas Guigui
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Inhaltsverzeichnis

LI 105, Sommer 2014

Ukrainische Verwerfung

Europa ist in Rußlands Schicksal einbezogen und Rußland in Europas

(…)

Völker und Sprachen

Die Ukraine (das „Grenzland“, wie maßgebliche Historiker erklären; jedoch deuten manche das Wort als die „Schönheit“) wurde durch das Abkommen zwischen Stalin und Hitler, das Galizien von Polen losriß, politisch vereinigt. Polen hatte es 1918, nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs, zurückerhalten (nachdem es 150 Jahre auf der Europakarte nicht vorgekommen war). Der Sieg von 1945 legte diese Grenzen endgültig fest. Dazu gehörten Ostprovinzen, die seit dem 17. Jahrhundert russisch waren (in denen sich dennoch historische Zentren des ukrainischen Nationalismus im 19. Jahrhundert befunden hatten), und im Westen Galizien, dazu das – Ungarn sehr nahe – Karpatenvorland, die Nordbukowina, die vom Rumänien des Marschalls Antonescu abgetrennt wurde, Südbessarabien, das man Rumänien wieder abgenommen hatte, mit der Region von Ismail, wo die Russen einst über die Türken gesiegt hatten. Die im Jahre 1783 von Katharina eroberte Krim wurde erst 1954 angegliedert, was weniger auf eine „Laune“ Nikita Chruschtschows als auf seine Absicht zurückzuführen war, seine ukrainischen Kollegen im Kampf um die Entstalinisierung zu belohnen. (Anlaß war der 300. Jahrestag des Anschlusses der Ukraine an Rußland.) Zu ihr gehört ein Ort, der außerordentlich tiefe Emotionen des russischen Patriotismus heraufbeschwört: Sewastopol, das weniger die erlittene Niederlage als vielmehr den heldenhaften Widerstand gegen die Belagerung durch die französischen, englischen und türkischen Alliierten im Jahre 1855 symbolisiert. Diesen Widerstand hat ein Schriftsteller in seinen Sewastopoler Erzählungen gefeiert: Lew Tolstoi.

(…)

Die Ukraine hat eine doppelte Kultur. Sie genießt den Vorteil der Zweisprachigkeit, die aus ihr eine besonders „europäische“ Nation macht. Als die Rada – das Parlament – vor kurzem beschloß, das Russische als offizielle Sprache abzuschaffen, war das ein dummer Fehler, der alsbald von Arsenij Jazenjuk, dem Ministerpräsidenten der Übergangsregierung, in einer schönen, auf Russisch gehaltenen Rede an seine Mitbürger im Osten und Süden korrigiert wurde. Ich habe in der unabhängigen Ukraine, die ich kenne, niemals erlebt, daß man sich nicht mündlich oder schriftlich auf Russisch äußern konnte. In den ukrainischen Schulen studiert man Gogol zum Teil im russischen Original und zum Teil in ukrainischer Übersetzung. Wie Miroslaw Popowitsch erklärt, der Autor einer vorzüglichen Geschichte der ukrainischen Kultur, verlieren Gogols ukrainische Novellen in der ukrainischen Übersetzung viel von ihrem bukolischen Zauber … So äußern sich die Paradoxe dieses sprachlichen Reichtums der Ukraine.

Westen und Osten

Beide Völker, beide Kulturen unterscheiden und ergänzen sich. Und sie müssen sich das Erbe der glanzvollen mittelalterlichen Monarchie der „Rus“ teilen, deren Hauptstadt Kiew war, mit der Sophienkathedrale und dem Höhlenkloster, den Geburtsstätten der Kultur und der Religion der Ostslawen. Man kann die Russen, die sich beklagen, daß die Wiege der „Rus“ heute in der Ukraine liegt, daran erinnern, daß die Wiege Karls des Großen, der in unseren Schulbüchern als Begründer Frankreichs gefeiert wird, in Deutschland, in Aachen, liegt … Die beiden nationalen Geschichtsdarstellungen wurden offenbar auf der Grundlage nationaler Mythen umgeschrieben, deren Ziel vor allem darin besteht, so etwas wie eine ununterbrochene – und imaginäre – Abfolge zu behaupten. So etwa ist Moskowien nicht der eindeutige und auch nicht der einzige Erbe Kiews. Kommt dem heute noch Bedeutung zu? In gewisser Hinsicht ja, vor allem weil inzwischen andere widersprüchliche Erinnerungen die Ukrainer selbst trennend wirken: Im Westen verehrt man Stepan Bandera, einen Nationalisten, der brutal gegen Polen, aber auch gegen die Sowjets kämpfte, der mit den Deutschen verhandelte, doch von ihnen inhaftiert wurde, denn zu seinem Programm gehörte die Unabhängigkeit der Ukraine – Hitler wollte davon nichts wissen, zumindest nicht bis 1944, als Bandera freigelassen wurde. Seine Website in ukrainischer Sprache ist gut besucht. Er wird als ein Vater der Unabhängigkeit verehrt, während ihn der Osten als Bundesgenossen der Faschisten ansieht. Der Roman Die junge Garde des sowjetischen Schriftstellers Fadejew war lange ein mythisches Buch, das den Widerstandskampf der sowjetischen Jugend während der deutschen Okkupation der (Ost-)Ukraine besang. Es kam zu einer Polemik, ob die Großtaten der zehn Helden des Buches der Wirklichkeit entsprachen. Noch ein Grund für Meinungsunterschiede, ja für diametral entgegengesetzte Positionen.

Doch die Völker entwickeln sich. Wie die Menschen. Adam Michnik hat vor zwanzig Jahren geschrieben, die Polen hätten den Ukrainern gegenüber ihr mea culpa gesprochen, nun seien die Ukrainer an der Reihe, wegen der Brutalität ihrer Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) das gleiche zu tun. Das hinderte Polen nicht daran, als erstes Land die Ukraine anzuerkennen.

Im Westen ist die Ukraine das Land der Huzulen, der „Feuerpferde“ von Paradschanow. Czernowitz, die Hauptstadt der Nordbukowina, die „Klein-Wien“ genannt wurde, hat soeben dem letzten Habsburger, dem guten Franz Joseph, ein Denkmal errichtet – welch eine Rückwendung der Erinnerung! Im Osten, wo die weite Steppe vorherrscht und wo einst so viele Invasoren durchgezogen sind, wo das Lenin-Denkmal in Charkiw noch auf seinem Sockel steht (während es in Dnipropetrowsk und Luhansk demontiert wurde), befindet man sich teilweise noch im industriellen Ursprungsgebiet der UdSSR; aber vergessen wir nicht, daß die Bergarbeiter des Donbass als erste die Unabhängigkeit gefordert haben. Jurij Andruchowytsch, ein Schriftsteller des Westens, besingt die ukrainischen Karpaten; Serhij Schadan am anderen Ende beschreibt das Chaos des von wirtschaftlichem Niedergang heimgesuchten industriellen Ostens. Beide schreiben auf Ukrainisch und gehören zur selben Generation und zu derselben Ukraine.

Ein drittes Europa?

Die neue Ukraine müßte uns helfen, eines Tages ein Drittes Europa aufzubauen, nach dem Ersten Europa der Gründerväter, das aus der Katastrophe von 1939 bis 1945 entstand, und dem Zweiten Europa, dem des Falls der Mauer und der Integration der ehemaligen Volksdemokratien und der baltischen Republiken. Dieses Dritte Europa kann langfristig keine bloße Erweiterung der beiden ersten sein. Irgendwann wird es auch das Europa Rußlands sein. Das Assoziierungsabkommen Europas mit der Ukraine hätte viel früher ausgehandelt werden müssen (dennoch wurden 24 Jahre verloren), und man hätte Rußland einladen müssen, dieses Dritte Europa mitzubestimmen. Ein derartiger Horizont scheint heute blockiert; gleichwohl muß man ihn im Blick behalten. Hoffen wir vorerst, daß man einen Krieg zwischen zwei Brudervölkern (das Undenkbare!) verhindern wird. Bei dieser Bewährungsprobe wird die Ukraine vielleicht ihre geistige Einheit gewinnen, und die Versöhnung mit Rußland wird auf den millionenfachen Familienverbindungen, den in Rußland arbeitenden 2 Millionen Ukrainern und dem gemeinsamen Erbe beruhen.

(…)

Phantomschmerzen

Etwas scheint sicher: Der Abstand zwischen Europa und Rußland nimmt zu. Viele haben sich an Wassili Axjonows Roman Die Insel Krim erinnert; darin stellt sich der Romanautor eine Krim vor, die sich angeblich vom Kontinent gelöst hat, frei geworden und vor dem Bolschewismus geschützt ist, wie dies immer noch für Taiwan gegenüber China gilt. Ist Rußland der Gefahr ausgesetzt, eine „Insel Rußland“ zu werden? Wird es den russischen Schriftstellern der Ukraine, wie etwa Kurkow oder Stjaschkina, schwerfallen, ihre doppelte kulturelle Loyalität beizubehalten? Die Essayistin Renata Galzewa beschuldigt in einer Nummer von Posew, der Zeitschrift des Volksarbeitsbundes der russischen Solidaristen (der einzigen Partei aus der Zeit vor 1917, die überlebt hat) die Westler, Rußland auf den Status einer – wenn auch riesigen – Insel beschränken zu wollen. Aber nimmt Rußland nicht aus eigenem Impuls heraus diese Rolle ein, will es sich nicht als Insel sehen? Galzewa befürchtet eine rückwärtsgewandte Sowjetisierung und gibt zu: „Wir sind nicht mehr attraktiv, wir leiden unter zu vielen sozialen und politischen Plagen.“ Diese Plagen quälen nun weniger, denn der Patriotismus ist ein starkes schmerz-stillendes Mittel. Aber für wie lange?

Dieser zunehmende Abstand wird auch uns Europäer leiden lassen, denn die Russen sind ja trotz allem Europäer. Das russische Europa reicht von Kaliningrad/Königsberg bis Wladiwostok, und die Europäer werden schnell spüren, daß ihnen dieses riesige Phantomglied amputiert wurde, das ihnen den Weg zum Pazifik weist und das sie belebt hat, indem es ihnen Tolstoi und Dostojewski, Mussorgski und Rimski-Korsakow, Malewitsch und Ziolkowski schenkte … Europa ist in Rußlands Schicksal einbezogen, so wie Rußland in Europas Schicksal, und die Ukraine – selbst die geteilte, selbst die an der Freiheit krankende Ukraine – befindet sich zwangsläufig auf dem Weg Rußlands nach Europa. Ihre Provinzialisierung, die drei Jahrhunderte gedauert hat, ist beendet, doch ihr Erwachsenenalter hat noch nicht begonnen. Die Utopie eines „Dritten Europa“, in das die Ukraine und Rußland eintreten werden, gehört weiterhin zur europäischen Zukunft; kein eurasisches Projekt kann diese grundlegende Konstellation ändern. Doch dieser Hintergrund wird noch nicht sichtbar, dafür wird eine ganze Generation notwendig sein.
 

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.