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Lettre 143 / Wilhelm Sasnal
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LI 143, Winter 2023

Dieses liebe, alte Land ...

Frankreichs republikanische Monarchie und die liberale Demokratie

„Nun denn, mein liebes, altes Land …“ 
Charles de Gaulle, Präsident der Französischen Republik, 29. Januar 1960

Diese Franzosen sind recht seltsam. Vergleichen wir einmal das „liebe, alte Land“ des General de Gaulle mit all seinen Nachbarländern: Was sehen wir da? Die unendlichen Varianten der liberalen Demokratie mit ihren grundsätzlich parlamentarischen Regimen, abgesichert durch eine beschränkte Exekutive. Im Vergleich zu diesen schwankenden Schilfrohren eine einzige Eiche: das Frankreich der V. Republik. Geht es um die repräsentative Demokratie, um die partizipative Demokratie: dann sind wir in der Schweiz. Geht es um die autoritäre Demokratie: dann sind wir zu Hause.

Aus dieser Feststellung können sich zwei gegensätzliche Hypothesen ergeben, je nachdem, ob man diese Besonderheit als wertvollen Trumpf betrachtet oder als schlechtes Omen.

Eine Sache der Institutionen, gewiß; aber wer sähe nicht, daß dieser Zentralismus, diese Vertikalität, dieses Präsidialsystem von weither kommen? Wer könnte vorhersagen, daß sich das bald ändern wird oder niemals? Und wer könnte behaupten, daß wir nicht irgendwo die Rechnung dafür präsentiert bekommen?

Sollten alle Franzosen Idioten sein? Man kennt das chinesische Sprichwort oder was man dafür hält: „Wenn der Weise den Mond zeigt, schaut der Idiot auf den Finger.“ Die Fabel hat etwas Herablassendes wenn nicht Elitäres, das unserem demokratischen – oder populistischen – Geist mißfallen mag, aber ihre Moral (eine Fabel ist eine Geschichte mit einer Moral am Ende) stellt sich oft als zutreffend heraus. Übersetzt ins Heutige: Anstatt hypnotisch auf diese oder jene bewegte Episode der französischen Streitereien zu schauen (die „Rentenreform“ war ein beredtes Beispiel), schlagen wir vor, etwas weiter zu blicken, indem wir Frankreich mit dem nahen Ausland vergleichen – und etwas tiefer, indem wir zur Quelle seiner Institutionen hinaufsteigen. Dort, beim eigentlichen Geist einer politischen Kultur, könnte sich der Knoten des Problems befinden, sämtlicher französischer Probleme, mit anderen Worten, ihrer Lösung oder des Fehlens einer Lösung.

 

Republik und Monarchie

Frankreich ist ein in seiner Art einzigartiges Land, und das um so mehr, als die Mehrheit der Bürger, aus denen es besteht, gewisse Schwierigkeiten hat, dies anzuerkennen und vor allem zu verstehen. Schauen wir uns die Kategorie „Westeuropäische liberale Demokratien“ an. Man sieht, daß es hier nicht um Politik geht – ein Begriff, hervorragend geeignet, den französischen Bürger zum Debattieren zu reizen –, sondern leider um politische Institutionen – ein Begriff, sehr geeignet, ihn zum Gähnen zu bringen. Man sieht ferner, daß es um diesen kleinen Teil der Erdoberfläche geht, etwa drei Prozent der nicht vom Meer bedeckten Fläche des Planeten Erde, irgendwo zwischen Island und Italien, irgendwo zwischen dem Schweizer Bundesbrief von 1291 und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, aus der – dieser Punkt darf nicht übersehen werden – die liberale Demokratie in ihrer modernen Form 
entstanden ist.

Beschränken wir uns der Demonstration halber auf die Nachbarländer Frankreichs, vom Norden bis nach Südwesten: Belgien, Luxemburg, Deutschland, Schweiz, Italien, Spanien. Eine Tatsache springt dabei ins Auge: Was das politische System angeht, werden diese liberalen Demokratien zur Zeit durch dem englischen Modell entsprechende parlamentarische Institutionen beherrscht. In diesem Modell, endgültig durch die „Revolution“ (der Begriff stammt daher) von 1688 etabliert, wurden zwei Dualitäten – also vier Instanzen – eingeführt: die der Beziehung zwischen Staatsoberhaupt und Regierungschef, jene der Beziehung zwischen exekutiver und gesetzgebender Gewalt. In einem parlamentarischen System, das diesen Namen verdient, neigt sich die Waage im ersten Verhältnis zugunsten des Regierungschefs, im zweiten zugunsten der gesetzgebenden Gewalt. Die strukturellen Folgen dieser Prämissen sind erheblich: In diesem Rahmen ist der Staatschef ein schwacher Spieler im Verhältnis zur Regierung und die Regierung ein schwacher Spieler im Verhältnis zum Parlament. Aber die Konsequenzen bezüglich der politischen Kultur reichen noch tiefer: Das lebendige Fundament des Systems ruht auf politischen Organisationen (Parteien, parlamentarischen Gruppen usw.), gesteuert durch die Verfassungstexte und die Wahlgesetze, um drei Regierungshebel zu benutzen, die entsprechend der Strukturen und Konjunkturen von unterschiedlicher Bedeutung sind, aber im politischen Geschäft niemals gänzlich fehlen: die (parlamentarische) Koalition, der (Regierungs-)Vertrag und der (legislative) Kompromiß.

Das Funktionieren dieser Institutionen unterscheidet sich im einzelnen in vielen Nuancen, Ergebnissen divergierender nationaler Entwicklungen, wovon die ausschlaggebenden Mechanismen des britischen Wahlrechts (relatives Mehrheitswahlrecht) oder des Mißtrauensantrags („Konstruktiver Mißtrauensantrag“) im Deutschen Bundestag Zeugnis ablegen. Nichts davon jedoch stellt die Einheitlichkeit des Modells in Frage – insbesondere, wenn man all diese Systeme mit dem eines einzigen Landes vergleicht: Frankreich, das im Hinblick auf die Institutionen einer Eiche gleicht, umgeben von Ländern wie schwankende Rohre.

Die Verfassung von 1958, so wie sie sich General de Gaulle wünschte und wie sie von seinen Beratern in Form gegossen wurde, hat bewußt die Grundlage für ein politisches System gelegt, das sich tiefgreifend von dem soeben skizzierten unterscheidet. Man kann sogar sagen, daß dieser Unterschied seit 1962 geradezu wie eine Umkehrung aussieht. Angesichts der liberalen parlamentarischen Demokratie begnügt sich das französische Gegenmodell nicht damit, dem Staatschef weitgehende Befugnisse einzuräumen. Die beiden mit der Reform von 1962 verbundenen Regelungen haben die Quelle seiner Macht radikal zu seinen Gunsten verschoben. Die allgemeine Direktwahl verleiht ihm im Verhältnis zum Parlament eine entsprechende Legitimität – wegen des Charakters der Wahl –, die erhöht wird durch die Einführung eines einheitlichen Wahlbezirks, der alle anderen umfaßt. Diese Wahl vollzieht sich andererseits auf Kosten einer kleinen List – die zweite Runde beschränkt sich auf zwei Kandidaten –, was sie von den anderen französischen Wahlformen mit einem einzigen Wahlgang unterscheidet. Der mythische Begriff der „nationalen Repräsentation“ wird nicht mehr von einem parlamentarischen Kollektiv monopolisiert; diesem gegenüber erhebt sich eine neue Repräsentation – es sei denn, man müßte sie als sehr alt betrachten – in der Person dieses Individuums, das über ein ernst zu nehmendes Instrument verfügt, um sich seiner Autorität zu versichern: das Referendum. Man versäumt meist, zwischen den Typen des „Aufrufs ans Volk“ (Begriff der Französischen Revolution) zu unterscheiden je nachdem, von wem die Initiative ausgeht; man vergißt also, daß trotz der Reform von 2008, die ein „Referendum mit geteilter Initiative“ einführte, sich das Referendum der V. Republik dem Modell des bonapartistischen Plebiszits von 1800 annähert, da sein Einsatz bislang immer von der Exekutive abhing und überdies noch nie vorgeschlagen wurde, die direkte Wahl zu beerdigen. Es hat jedoch in diesem Land eine demokratische Form des Referendums gegeben – was man daran erkannte, daß die Initiative vom Parlament ausging – und die zweimal in Gang gesetzt wurde, – 1773 und 1946 –,
aber kaum angewandt, de facto, wenn nicht de jure, auch schon fallengelassen wurde.

(…)

Im internationalen Wettbewerb der Präsidialsysteme können die amerikanische Trennung der Gewalten und das Gleichgewicht zwischen ihnen als weniger präsidentiell angesehen werden als das französische System, da letzteres dem Chef der Exekutive erlaubt, die Nationalversammlung aufzulösen. Eine große Autorität des französischen Verfassungsrechts – die in den 1960er Jahren ebenso in Opposition zu General de Gaulle stand wie 1940 – hat von der V. Republik als von einer „republikanischen Monarchie“ gesprochen. Die Formulierung ist kühn und wenig juristisch, hat aber das Verdienst, uns zu der Frage zu zwingen, was diesen Partikularismus zu erklären vermag, daß man dort eine Tradition findet. Und diese Tradition ist, ebenso wie diese Geschichte, leicht zu charakterisieren.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.