Direkt zum Inhalt
Kunst Tobia Rehberger
Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 147, Winter 2024

Inklusion? Sezession!

Die vergessene Strategie der Ausgeschlossenen

Höre ich das Wort „Inklusion“, muß ich an den Witz von den beiden uralten Damen im Hotel mit Vollpension denken, der zu Anfang des Stadtneurotikers erzählt wird. Sagt die eine: „Wissen Sie, ich finde das Essen hier einfach furchtbar“, nickt die andere heftig: „Stimmt, und dann auch noch diese winzigen Portionen!“ 
     Für Woody Allen war das eine Allegorie auf das Leben: einsam, kummervoll, enttäuschend, aber dann auch viel zu schnell vorbei. Uns dürfte der Witz eher die Position der ersten Dame in Erinnerung rufen, für die wir zuletzt zunehmend den Sinn verloren haben. Unsere Probleme sollen ja die viel zu kleinen und ungerecht verteilten Portionen sein, wohingegen niemand mehr damit ein Problem zu haben scheint, was ihm vorgesetzt wird unter den klingenden Namen „Kunst“, „Wissenschaft“, „Religion“ oder „Politik“. In der Serie My Lady Jane sah man unlängst, wie die Rolle des Königs von einem schwarzen homosexuellen Rollstuhlfahrer besetzt wurde. Endlich ist man soweit, zu kritisieren, daß nur weiße heterosexuelle Männer in Europa Könige waren; gleichzeitig bringt man es nicht mehr zustande, das Offensichtlichste zu sagen, nämlich daß nicht einmal weiße heterosexuelle Männer Könige sein sollten. Dies ist bezeichnend für eine inklusionsselige Debattenlage, in der einem keine andere Institutionenkritik mehr einfallen will als ihre mangelnde Durchlässigkeit. Es sollen mehr Minderheiten und mehr Frauen Zugang zu Bereichen erhalten, die ihnen bislang verschlossen bleiben. Abgesehen von ihren Ausgrenzungspraktiken scheint an diesen Bereichen sonst nur wenig auszusetzen zu sein (ausgenommen ihr CO2-Verbrauch). So kommt es zu der seltsamen Situation, daß Staaten, Kirchen, Universitäten und Museen niemals unangefochtener waren als jetzt, wo man kritisiert, daß sie allzu lange eine verdeckte Politik männlicher weißer Exklusivität betrieben hätten, und wo man auf mehr „Diversität“ dringt. Alle möchten teilhaben, alle müssen teilhaben, und nirgendwo findet sich eine entrüstete ältere Dame, die zu bedenken gibt, wie furchtbar das ist, dessen Teil man da sein soll. Unter den Tisch fällt dabei eine Reaktionsweise auf Inklusionsbemühungen, wie sie zum Ausdruck kommt in der Bemerkung, die Woody Allen im Anschluß an den Witz von den Damen im Hotel fallenließ. Er wolle niemals einem Club angehören, der Leuten wie ihn als Mitglieder aufnimmt: Inklusion? Ohne mich.

 

Unbehagen

Selbstverständlich hat die Inklusion immer schon ihre Gegner, heimliche Gegner, die eine diskrete Politik der Schließung betreiben, erklärte Gegner, die eine unverhohlene Politik der Abschottung betreiben. Und selbstredend sind diese Gegner unsympathisch. Doch reicht es eben nicht, Gegner der Inklusion zu sein, man muß es schon aus den richtigen Gründen sein, und anläßlich der richtigen Form des Unbehagens. Diese üblichen Gegnerschaften erklären nicht, warum Inklusion, wenn sie sich vollzieht, den Eindruck einer lästigen Pflichtübung macht, die wenig Erhebendes an sich hat. Es ist ein Rätsel: Warum liefert die Inklusion selbst dann keine Erfolgsgeschichten, wenn sie sich realisiert? Woher rührt dieses Gefühl der Unzufriedenheit, das sich einstellt, wenn man eine Ausstellung namens „Diversität“ besucht oder ein Vielfaltsfestival oder wenn erklärtermaßen eine Frau eine Professur, dezidiert eine Schwarze eine Ausstellung bekommt, jemand aus dem globalen Süden einen hohen Kirchenrang einnimmt oder eine Diskussionsrunde ostentativ divers besetzt ist (und sie kann, nebenbei gesagt, nur auf offensichtliche Weise divers besetzt sein)? All dies verströmt den Geruch der Niederlage, wobei es sich, wohlgemerkt, nicht um die Niederlage der bürgerlichen, weißen, „heteronormativen“ Männer handelt, die endlich von ihren privilegierten Positionen vertrieben worden wären, sondern um die Niederlage der Inkludierten aufgrund ihrer Inklusion. 
     Wann immer und wo immer jemand inkludiert wird, stellt sich der bittere Eindruck ein, als wäre da jemand zu spät zur Party erschienen. 

(…)

Doch stellt die Sezession eine Alternative zur Inklusion dar? Was einen hier skeptisch stimmen könnte, ist der Umstand, daß sich die Inklusionslogik mühelos auch auf derartige ausgewählte Gruppen anwenden läßt. Man fragt dann, wie viele Dunkelhäutige, Arbeiter und Frauen sich in den Reihen der Sezessionisten finden. In den letzten Jahren ist es üblich geworden, über die Stellung der Frauen etwa in der Frankfurter Schule oder der Gruppe 47 zu publizieren. Und doch geht die Erkundigung nach „gesellschaftlicher Teilhabe“ im Falle der Sezessionisten am Punkt vorbei. Sezessionen werfen die Frage auf, woran man teilhaben soll: am gesellschaftlichen Ganzen oder an dieser exklusiven Gruppe, die sich aus dem größeren Kommunikationszusammenhang ausgeklinkt hat? Wahre Teilhabe gibt es nur in einer Version, als Teilhabe am Wahren. Und im besonderen Fall der Sezessionisten scheint es die Position der Minorität zu sein, mit der ein unendlicher Vorzug einhergeht. Die eigentliche Wahl, vor der wir stehen, ist nicht die Wahl zwischen Inklusion und Exklusion, die für gutwillige Menschen immer schon vorentschieden ist, es ist die Wahl zwischen Inklusion und Sezession, und diese Wahl ist weit weniger leicht zu 
treffen.
     Bei einer Inklusion kann man immer fragen, ob sich hier jemand aktiv selbst integriert oder ob hier jemand inkludiert wird. Beide Möglichkeiten haben unattraktive Aspekte: Inkludiert zu werden ist ein passiver Vorgang, aber selbst jemand, der sich inkludiert, indem er „sein Soll“ erfüllt, hat sich von vornherein auf die Subjektposition des „Braven“ festgelegt. Er ist abhängig von der Anerkennung jener, die ihm Einlaß gewährt haben. Er hat es bestenfalls „verdient“, dabei zu sein. Überhaupt fragt sich, was vorteilhafter ist: sich selbst zu inkludieren oder andere zu inkludieren? Offensichtlich ist die Position des Inkludierenden (und die des um die Inklusion besorgten Theoretikers) die überlegene. Dieser kann sich für seine Inklusionsbemühungen auf die Schulter klopfen und die Inkludierten als Vorzeigebeispiel der eigenen guten Politik vortanzen lassen. Denn darüber sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Niemand wird einfach nur inkludiert, ohne zugleich als gutes Beispiel für Inklusion herhalten zu müssen (und wenn eine sezessionistische Zeit eine Zeit der Vorzeigeheiligen, der Vorzeigedandys, der Vorzeigerevolutionäre, der Vorzeigekünstler ist, so ist eine Zeit der Inklusion unweigerlich eine Zeit der Vorzeigefrauen, der Vorzeigemigranten, der Vorzeigeschwulen und der Vorzeigeandersbegabten). Während es bei der Inklusion systematisch fraglich ist, ob die Inkludierten das Heft des Handelns in der Hand halten, vermag allein eine Sezession derartige Zweifel zu zerstreuen: Man kann exkludiert werden und vielleicht auch inkludiert, aber es ist ausgeschlossen, „sezessiert“ zu werden. Eine Sezession muß man selbst durchführen. Die Sezession: Sie ist ebensosehr ein Ärgernis der Institution, wie sie ein selbständiger Akt der Sezessionisten ist. 

(…)

Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.