LI 148, Frühjahr 2025
Reise in den Okzident
„Die Liebe singt ein Lied inmitten einer dunklen Welt“
Elementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Französischen von Jorinde Reznikoff
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Textauszug
(…)
Saint-Germain-des-Prés.
So viele reale oder imaginäre Begegnungen hier, auf diesem Feld – wo sich einst die Abtei erstreckte, von der Passage de la Petite-Boucherie bis zur Rue Saint-Benoît, vom Boulevard Saint-Germain bis zur Rue des Beaux-Arts. Damals ein Garten.
Feldwege. Holzwege.
Von der Rue de Seine über die Rue de l’Ancienne-Comédie bis zur Rue de Condé, wo meine Großmutter wohnte. Oder von der Rue des Ciseaux über die Rue des Canettes bis zum Jardin du Luxem-
bourg. Immer wieder. Erst in die eine, dann in die andere Richtung. Florierendes Flanieren – auf zauberhaften Irrwegen – auf diesen wohlbekannten Straßen, die jedes Mal so neu sind.
In jedem Augenblick ... eine Begegnung möglich – ein Zettel an einer Wand, ein Freund aus der Kindheit, oder besser – eine spontane Unterhaltung, die in Windeseile zu einer großen Unterhaltung über das Leben, den Tod und noch einmal über das Leben wird. Ein Gruß, dann ein Abschied – wie die Blätter der Kastanienbäume, so leicht. Zwischendurch eine Offenbarung? – einfach so, an einer Straßenecke.
Saint-Germain-des-Prés. Ja, ein weites Feld …
Für Sie dorthin gekommen.
Denn es ging in Saint-Germain nicht einfach um Liebe.
Sondern um die große LIEBE.
(…)
Rue Férou. Ein Mensch hat dort von Hand geschrieben, und von rechts nach links: Le Bâteau ivre, Das trunkene Schiff. Einst brüllte Rimbaud dieses Gedicht auf der Place Saint-Sulpice. Man konnte es noch hören. Während nur zwei Schritte entfernt Der Kampf mit dem Engel 9 weiterging.
Zeichen für Ihre Gegenwart? – von der die leichten Brisen von der Küste her so gut erzählten – und die Wolken in voller Blüte, mit diesem Blau, diesem Blau eines Blaus übersät.
Place de l’Odéon, place de l’océan, über unseren erhobenen Häuptern – die großen und schönen Wolken vom Ärmelkanal, und ihre Sanftheit.
In Saint-Germain-des-Prés. Nirgendwo sonst. Hier erwartete man Sie. Suchte Sie im Divan und weiter im La Hune, zwischen den Büchern.10 Und, sei’s drum, auf dem Boulevard Saint-Germain, wenn die Sonne schien. Doch im Flore, dort mußten Sie sein. Zu jener Zeit, als die erste Etage meist menschenleer war. Es war erlaubt, ganze Tage dort zu verbringen, mit einem guten Buch. Manon Lescaut oder Die Gesänge des Maldoror. Einstweilen. Das, worauf man wartete, würde schon noch kommen.
Die Begegnung. Parfum des Lebens.
(…)
Ça y est, ça y est! Ein neuer Alptraum ist da …
Ça y est, ça y est! Das Klima erwärmt sich! Der Kriegsdonner grollt!
Israel/Palästina: ein Blutgeruch, der immer hartnäckiger wird, auf dem geschwärzten Zeitungspapier.
Und jetzt die Ukraine: noch ein Blutgeruch – inmitten des Gestanks von Waldbränden, die den Amazonas, unsere Lunge, verwüsten …
Und ich sitze im Café und rauche um so heftiger. Und warte. Warte immerzu.
Doch mitten darin die Zeremonie der Passanten, der „Gutmenschen“, die ihr Leben weiterführen und an unseren Cafétischen vorbeidefilieren. Ihr Dreh- und Angelpunkt scheint Arbeit zu sein, Kinder großzuziehen und sich über die Netzwerke selbst mitzuteilen, wie es ihnen geht … Doch das ist nur die übliche Beschreibung von „Normalität“ … Was weiß man schon darüber, was sich hinter einem undurchdringlichen Gesicht, einem selbstsicheren Schritt verbirgt …?
(…)