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Inhaltsverzeichnis

LI 138, Herbst 2022

Ein Saiteninstrument

Die Berliner Philharmoniker im Nazi-Staat und einige ungeklärte Fragen

(…)

Ein Naziorchester

Das Orchester, in welches Erich Hartmann 1943 eintrat, stand seit zehn Jahren unter der direkten Kontrolle der nationalsozialistischen Regierung. Diese ging bereits auf den Herbst 1933 zurück und wurde im Januar 1934 offiziell: Die am Rand des Bankrotts stehenden Philharmoniker wurden durch eine Übernahme des Regimes finanziell gerettet. Das Orchester tauschte seine Unabhängigkeit gegen finanzielle Sicherheit und paßte sich der Kulturpolitik der Nazis an; seine Mitglieder wurden Angestellte des Reichspropagandaministeriums. Tatsächlich sollte dieses Kronjuwel der deutschen Kultur zu einem wesentlichen Element von Goebbels’ Propaganda-Arsenal werden.
     Nach dem Krieg behaupteten viele, die Philharmoniker seien niemals ein „Naziorchester“ gewesen, weil ja nur 18 Prozent ihrer knapp über hundert zählenden Mitglieder der Partei angehörten (verglichen mit 44 Prozent bei den Wiener Philharmonikern). Diese Argumentation ignoriert jedoch die Besitzverhältnisse, die Mission und die Privilegien des Orchesters.
     Die Kulturpolitik der Nazis wurde von der Reichskulturkammer kontrolliert. Richard Strauss wurde zum ersten Präsidenten von deren Unterabteilung, der Reichsmusikkammer, ernannt, die in der Alten Philharmonie gegründet wurde – wodurch diese nicht mehr lediglich ein Konzertsaal war, sondern ein Ort für Propagandainszenierungen. Der Ansatz der Regierung hieß: Selbstverwaltung unter staatlicher Aufsicht. Mit anderen Worten: Die Musiker sollten selbst die Drecksarbeit übernehmen.
     Die Berliner Philharmoniker leisteten Hervorragendes für den nationalsozialistischen Staat. Das Orchester, dessen Teilnahme bei offiziösen Veranstaltungen begehrt war, spielte ab 1937 jedes Jahr zu Hitlers Geburtstag. Vor dem Krieg spielte es bei den Parteitagen der Nazis in Nürnberg 1936 und 1938 Beethovens Pastorale beziehungsweise Bruckners
Siebte Symphonie – zur Feier der Remilitarisierung des Rheinlands und der Annexion Österreichs. Konzerte für die Hitlerjugend standen auf dem Programm, ebenso Auftritte in Hitlers Reichskanzlei und Goebbels’ Propagandaministerium. Für die Volksgemeinschaft wurden preiswerte Konzerte im Rahmen des staatlichen Freizeitprogramms „Kraft durch Freude“ gegeben. Dies alles waren enorme öffentliche Veranstaltungen mit einem Meer von Hakenkreuzfahnen, aggressiven Parolen und anderer Propaganda. Zwischen Oktober 1944 und April 1945 gab das Orchester 18 Konzerte für die deutsche Rüstungsindustrie. Man könnte einwenden, daß das Orchester keine andere Wahl hatte als solche Veranstaltungen abzuhalten, aber dies ändert nichts daran, daß solche Veranstaltungen fortwährend stattfanden. Hitler, der Orchestermusik liebte, besonders Wagner, zwang seine widerwilligen Männer dazu, Konzerte klassischer Musik anzuhören, auch wenn sie dabei wachgerüttelt werden mußten.
     Dafür erhielten die Musiker elitäre Privilegien. Der Staat überschüttete das Ensemble mit Geld: Man muß sich nur Furtwänglers astronomisches Gehalt von 184 000 Reichsmark im Jahre 1940 (das entspräche heute etwa 750 000 Euro) ansehen, die ungenierten Spesenabrechnungen einzelner Mitglieder und die Qualität der Instrumente, auf denen sie spielten.
     Hitler klagte, die Wiener Philharmoniker hätten so schöne alte Instrumente, warum denn nicht auch die Berliner? Nun, die Ressourcen waren ja da. Tausende solcher Musikinstrumente waren im ganzen besetzten Europa ihren jüdischen Eigentümern und anderen Feinden des Reiches geraubt worden – ein spezieller „Sonderstab Musik“ war für solche Plünderungen zuständig. Das Propagandaministerium begann ein Beschaffungsprogramm, um den Philharmonikern auserlesene Instrumente zu besorgen.

(…)

Das größte Geschenk allerdings war die Unabkömmlichstellung („Uk-Stellung“), die vielen dieser Musiker das Leben rettete. Da sie als unentbehrlich für die Kriegsanstrengung galten (insofern sie einem Propagandazweck dienten), entrannen die Orchestermitglieder der ansonsten allgemeinen Einziehung zur kämpfenden Truppe. Seit dem Kriegsbeginn war man begreiflicherweise auf diese Sonderstellung eifersüchtig, wie Hartmann in seinen 1996 verfaßten Memoiren schreibt (die er mir bei meinem Besuch schenkte). Er beschreibt dort, wie merkwürdig es für die Leute war, einen Mann seines Alters in den letzten Tagen des Krieges auf den Straßen Berlins umhergehen zu sehen: Warum war er nicht in Uniform? Nein, das Orchester galt als Teil der totalen Kriegsanstrengung: Diese kräftigen jungen Leute waren Soldaten, die statt Gewehren Musikinstrumente trugen. Die Berliner Philharmoniker waren neben dem Personal der Bayreuther Festspiele (die Hitler mit ritueller Regelmäßigkeit besuchte) die einzigen Kulturangestellten des Staates, die dieses Privileg nach dem September 1944 behielten, als andere Theater und Orchester geschlossen und deren Mitglieder eingezogen wurden.
     Die Philharmoniker waren auch als Komplizen bei der Säuberung des musikalischen Geschmacks und der Verbannung von jüdischen Komponisten und denen der Avantgarde beteiligt, indem sie diese Musik nicht aufführten. Auch hier könnte man einwenden, daß ein Orchester unter einem totalitären Regime keine große Wahl hat, was es aufs Programm setzt, doch das hieße, Handlungen und Ergebnisse zu ignorieren. Die dissonanten Klänge von Schönbergs Zwölftonmusik und andere Experimente der zwanziger Jahre galten nicht nur metaphorisch als Angriff auf die Harmonie der Volksgemeinschaft. Die Herkunft der Komponisten wurde überprüft.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.