LI 111, Winter 2015
Anachoreten, Choreuten
Musik als Kunst der Innerlichkeit und die neuen Klänge der GegenwartElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Französischen von Jens Hagestedt
Textauszug: 6.300 von 24.000 Zeichen
Textauszug
Aus dem einst seltenen Phänomen Musik ist in wenigen Jahrzehnten eines geworden, dem kaum noch zu entrinnen ist. „Bis 1914“, schreibt Pascal Quignard, „meldete in Europa der Hahn den Anbruch des Tages, der Hund den Fremden, das Posthorn die Kutsche, das Jagdhorn die Jagd, die Kirchenglocke die volle Stunde, die Totenglocke den Tod, Heidenlärm die Wiederverheiratung von Witwen, und die Verbrennung der Strohpuppe am Faschingsdienstag wurde von Flöten und Trommeln begleitet.“ Wobei Laute, Geräusche und Musik nicht etwa nur auf dem Lande selten waren. Sie waren es bis vor kurzem auch in den Städten. Gewiß, bei Baudelaire, dem ersten Dichter der modernen Großstadt, heißt es: „Betäubend brüllte rings die Straße um mich her.“ Und an dieses Brüllen waren die Menschen schon gewöhnt. Doch Baudelaire notiert auch, als nur für das Land typischen Lärm, wo er den Herbst ankündigt, die „unheilvollen stösse“ des geschlagenen Holzes, das „erdröhnend auf das pflaster fährt“.
Haß auf Musik?
Wir leben heute in einer allumspannenden (Video- und) Sonosphäre. Die Welt, der Globus, ist nicht nur mit Geräuschen, sondern auch mit musikalischen Klängen gesättigt.
Ich unterscheide drei Hauptmerkmale dieser Sonosphäre.
Erstes Merkmal: Die Sonosphäre umhüllt uns von allen Seiten, sie ist ein wesentlicher Bestandteil unseres In-der-Welt-Seins geworden. Wir werden nicht nur überall mit Hintergrundmusik berieselt, sondern die Welt selbst als „Hintergrund“ ist heute allenthalben musikalisiert, in Musik getaucht – genauer in muzak, diese keimfrei gemachte Musik, die überall zu hören ist, von den Aufzügen über die Warteschleifen der Telefonzentralen bis zu den Einkaufspassagen.
Zweites Merkmal: Die Sonosphäre ist technischen (mittlerweile digitalen) Ursprungs. Die Allgegenwart der Musik und die musikalische Überdosis, die für unsere Epoche charakteristisch sind, basieren auf dem, was Walter Benjamin als „technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks“ definiert hat. Im wesentlichen haben wir es in unserer urbanen Existenz nicht mit Live-Musik zu tun, sondern mit „Konserven“. Diese Musik ist nicht nur elektrisch verstärkt, sondern sie wird auch gesendet und empfangen mit jenen Verfahren der mechanischen und digitalen Reproduktion, mit denen sie in die Moderne beziehungsweise Postmoderne eintrat.
Drittes Merkmal: Die Sonosphäre spricht eine Universalsprache, eine Art musikalisches Kauderwelsch, das in allen vier Weltgegenden präsent ist. Im Zeitalter der Globalisierung von Handel und Entertainment tönt sie auf der ganzen Erdoberfläche: vor allem in Gestalt einer World Music, die im Wesentlichen ein Globish spricht, das mit dem Airport-Englisch verwandt ist – mit jenem Englisch, das sich ebenfalls auf dem ganzen Globus durchgesetzt hat.
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Glenn Gould, der legendäre kanadische Pianist, der aufhörte, Konzerte zu geben, und ihnen den Monolog im Aufnahmestudio vorzog, ist ein Beispiel dafür. „Musik“, so Gould, „muß den Hörer und den Interpreten zur Kontemplation führen, und der kann man sich nicht hingeben, wenn 2999 andere Seelen um einen herum sind.“ Für Gould ist Musik gleichsam „ein in Töne verwandeltes Gebet“, bei dem die Seele, ganz darin aufgehend, frei nach Baudelaire „das Geheimnis zu ergründen, das schmerzliche, an dem sie siecht“, nur mit sich selbst spricht.
So betrachtet, ist Musik vor allem eine Kunst der Innerlichkeit. Hegel sagt in seinem System der Künste nichts anderes. Musik ist die Zeitkunst und die Kunst der subjektiven Innerlichkeit schlechthin. Indem sie sich den subtilsten Regungen der Seele anschmiegt, läßt sie das Ich in seinem Intimsten Klang werden – das ist es im Kern, was Hegel sagt. Proust wird nichts anderes sagen, wenn er in „La Prisonnière“ im fünften Buch der Recherche die Macht der Musik beschwören wird, „in der die Töne offenbar direkt von der Persönlichkeit moduliert werden und den allerinnerten Ort des Gefühls zum Ausdruck bringen“.
Es leuchtet ein, daß die so verstandene Musik in der Kammermusik zu sich selbst kommt. Oder erst in der Stille. In der radikalen orientalischen Stille von John Cage: in seinem berühmten Stück 4'33" mit der Vortragsanweisung „TACET“. Oder in jener, in die, anknüpfend an Beethoven, das 15. Streichquartett von Schostakowitsch mündet. Den Mitgliedern des Tanejew-Quartetts, die dieses nächtlich finster von der Elegie des ersten Satzes zum Epilog des letzten schreitende De profundis uraufführten, riet der Komponist, es so zu spielen, „daß die Fliegen tot von der Decke fallen und die Hörer aus purer Langeweile anfangen, den Saal zu verlassen“.
Es fällt mir nicht schwer, mich in der Gestalt dieses musikalischen Anachoreten wiederzuerkennen, der die Sonosphäre flieht, wie der Philosoph aus Platons Höhle herauszukommen sucht. Obwohl wenig geneigt, mich in die Folle Journée zu stürzen, war ich entschlossen hinzugehen, um die Quartette von Schostakowitsch zu hören. Doch sind Anachoreten wie ich (oder auch nur die, die einfach neugierig sind) offenbar recht zahlreich, denn da ich mich zu spät darum kümmerte, konnte ich für diese Konzerte keine einzige Karte mehr ergattern.
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Die Musik hat jene „Hospitale für blutleere Töne“, die die Konzertsäle dem Futuristen Luigi Russolo zufolge lange Zeit waren, inzwischen verlassen. Sie ist (wieder) auf die Straße gegangen und manifestiert sich im heutigen städtischen Leben auf Festivals und anderen Events in Form einer an die große Masse sich wendenden Kunst der Exteriorität, ja eines klingenden „Pleinairismus“. Mit ihren Rhythmen und ihrer Art, sich in Einklang mit der vibrierenden Unruhe der Metropolen zu bringen und deren Erschütterungen zu begleiten, ist sie in den körperlichsten, konvulsivsten Äußerungen ihrer verschiedenen Strömungen und Schulen eher eine Musik des städtischen Lebens als eine, die die verborgenen Windungen und Winkel der Innerlichkeit erkundet.
Und als Kunst der Exteriorität ist sie oft zugleich eine Kunst kollektiver Trance. Indem sie die Verbindung zum Körper und zum Tanz, zur heißen Kultur wieder aufnimmt, die die Formen populärer Musik immer hatten, hat sie, gemeinsam mit der Werbung und den Medien, voll und ganz und im guten und schlechten teil an jener „All-Erotisierung“, die, so Carlos Oliveira, aus der Welt eine Art „narzißtische pan-erogene Zone“ macht.
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