LI 117, Sommer 2017
Brüder Vögel
Sommerliche Träumereien und Gesänge aus dem Blau des HimmelsElementardaten
Übersetzung: Aus dem Französischen von Uta Goridis
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Textauszug
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Wundervolles Wetter, hoch oben im Himmel großes Reinemachen, bei dem die verbliebenen Wolken weggefegt werden. Freier Blick auf das vom zarten Laubwerk der Akazie kunstvoll durchbrochene Blau des Himmels. Als musikalische Untermalung statt einer Baßlinie das große Rauschen des Meeres, sein immer wieder neu aufgenommenes Psalmodieren, während in der Ferne, upupa, der gedämpfte Ruf eines Wiedehopfs (upupa epops) zu hören ist, der morgendliche Muezzin, der in regelmäßigen Abständen sein zum wahren Glauben aufrufendes Triolett vernehmen läßt (bei Sonnenaufgang hatte er in Absprache mit den Lerchen die tägliche Konferenz der Vögel eröffnet).
Eine Lektüre unter freiem Himmel ist ein Vergnügen – ein stereoskopischer, kontrapunktischer Genuß. Denn das Gebet besitzt eine Doppelnatur. Einmal eine stille, innerliche, die uns den Raum des Buchs erfahren läßt. Und dann eine äußerliche, die erfüllt ist von Geräuschen und Klängen aller Art, was uns empfänglich macht für das große Ganze, für die Welt und ihren Rhythmus.
Wir sind mitten im Buch, folgen dem Bogen, dem narrativen oder meditativen, den es beschreibt, wir blättern, dringen tiefer in es ein auf den Wegen, die sich durch seine Seiten schlängeln. Gleichzeitig sind wir aber auch draußen, teilen den Atem der Landschaft, erzittern mit dem Laub, durch das der Wind fährt, inhalieren mit der Luft die flüchtigen, vorbeiwehenden Düfte, verfolgen hoch über uns den langsamen Auftrieb einer mageren Herde von Wolken. Und wenn der Gegenstand des Buchs, sein Motiv, übereinstimmt mit dem Ort, an dem wir es lesen, wenn wir dort, wo das Motiv sich befindet, ein Buch lesen, das über dieses Motiv spricht, wie das bei meiner erneuten Lektüre von Leopardis Lob der Vögel der Fall war, dann sind innere und äußere Landschaft beinahe deckungsgleich.
Wir lesen das Wort „Himmel“, träumen davon, in ihm zu kreisen, und sind dank der „Froschperspektive“ der Hängematte in der Lage, in diese durch das Gitterwerk des Laubs wahrgenommenen Seen von unendlichem Blau einzutauchen. Wir stellen uns die Vögel vor, die in dem Buch beschrieben werden und sehen sie „in echt“. Unser Blick verfolgt hoch über unseren Köpfen das Flugmuster von Möwen, die ausgelassen auf der obersten Etage ihre Kreise ziehen. Jede folgt ihrer eigenen Bahn und läßt sich langsam und lustvoll vom wie ein Treibnetz wabernden Blau des Himmels in einen rauschhaften Zustand versetzten – holiday on sky. Indessen laviert weiter unten eine nie zur Ruhe kommende, pausenlos zwitschernde Armada von kleineren Seglern, Meisen und lärmenden Sisis (si, si, es sind diese kleinen Piepmätze in der gelb-rostroten Livrée). Auf halber Höhe, in den Zwischenetagen, gehen die Turteltauben ihren Geschäften nach; gelegentlich rauscht verstohlen ein mit den Flügeln schlagender Eichelhäher vorbei und beschreibt in dem dichten Grün der Blätter eine blaue Zickzacklinie, die flüchtige Signatur eines trunkenen Schiffs.
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Angenommen, es gibt sie, diese natürliche Freude und das Lachen der Vögel, so verfügen sie – weit mehr als wir – auch über die Gabe, die Schönheit der Dinge zu genießen, die sie im Gegensatz zu uns vom Himmel aus betrachten können. Sie müssen also auch einen Sinn für Schönheit besitzen. Verliebt sein in alles Schöne und wie wir empfänglich für die Gestaltung einer Umgebung, für schöne Landschaften, insbesondere wenn sie die Frucht menschlicher Bemühungen, also künstliche Landschaften sind, wie Leopardi betont.
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