LI 109, Sommer 2015
Hobby und Dandy
Die Demokratisierung der Kunst und der Horizont der UnsterblichkeitElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Französischen von Jens Hagestedt
Textauszug: 11.215 von 57.178 Zeichen
Textauszug
(…)
Nun ist mit dem Eintritt der Kunst ins Zeitalter der Massenkultur nicht nur die Vermassung der Verbreitung und des Konsums von Kunstwerken aller Genres verbunden (gleichgültig, ob es sich um Werke traditioneller Art handelt oder um industriell hergestellte Werke eines neuen Typs). Der Vorgang führt vielmehr auch zu einer Demokratisierung aller künstlerischen Praktiken, die nicht zuletzt auf der beträchtlichen Zunahme von Freizeit in unseren Gesellschaften beruht. Das heißt, daß die Kunstreligion nicht nur viele Gläubige, sondern heutzutage auch immer mehr Menschen hat, die sie praktizieren.42 Das Phänomen ist aber abgesehen davon, daß es Ergebnis der verminderten Arbeitszeit ist, offenkundig auch Frucht eines Sitten- und Wertewandels.
Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, unter denen zum einen die Leidenschaft für die Demokratie, zum anderen die Ideologie (oder der Mythos) der Kreativität besonders ins Gewicht fallen. Der Hunger nach Gleichheit und nach der damit verbundenen Anerkennung hat zur Folge, daß zum Imperativ grenzenlosen Konsums, der dem Kapitalismus inhärent ist, ein Imperativ der Kreativität hinzutritt: Jeder ist eingeladen, kreativ zu sein, das schöpferische Potential auszuschöpfen, das er angeblich besitzt, wobei der Appell an Selbsterschaffung (an Erfindung eines authentischeren Selbst) oft mit dem puerilen Phantasma von einem magischen Aufstieg zum Star verwechselt wird. Was den zweiten Faktor, die Ideologie der Kreativität betrifft, so trägt sie nicht nur zur Vervielfachung künstlerischer Neigungen bei, sondern verbreitet auch, indem sie künstlerisches Schaffen zum Modell für alles menschliche Tun erhebt, sein Modell und seine Werte (Phantasie, Innovation, Risikobereitschaft, Abweichung um jeden Preis usw.) bis in die Welt des Unternehmertums und des Managements hinein.
Da sie der Kunst nur einen instrumentellen (oder funktionellen), keinen ihr zuinnerst eigenen Wert attestiert, kann die analytische Betrachtungsweise an dieser Vermassung der künstlerischen Praxis natürlich nichts auszusetzen haben. Ja, sie kann sie nur bejahen, wenn sie, hierin d’accord mit Nelson Goodman und der pragmatistischen Philosophie von John Dewey, die Auffassung vertritt, daß es mehr darauf ankommt, was die Werke bewirken, als darauf, was sie sind („ce qui compte est ce que les œuvres font, plus que ce qu’elles sont“).44 Und wenn sie mehr bewirken bei denen, die sie hervorbringen, als bei denen, die sie nur rezipieren, dann sollte es möglichst viele Menschen geben, die sich künstlerischen Aktivitäten widmen.
Die Verächter der Massenkultur sehen die „Demokratie des Genies“ (Daniel Bell), über die sie sich lustig machen, natürlich ohne Wohlwollen. Gewiß, Adorno hat vom „einen und wahrhaft freien John Dewey“ gesprochen45 und sich dessen Kritik an der Kunst als einem „Schönheitssalon einer Zivilisation“ 46 angeschlossen. Doch hat er die vom Pragmatismus vorgeschlagene Definition der Kunst kaum berücksichtigt. Weit entfernt, Kunsterfahrungen gerecht zu werden, die mit dem gewöhnlichen Leben verbunden sind (und der elitären Sphäre der Kunst fernstehen), hat er als authentisch kreative künstlerische Praxis nie eine andere in Betracht gezogen als die der Avantgardekunst. Alles, was nicht der letzteren angehört, kann in Adornos Augen nur der Unterhaltung und damit der „Kulturindustrie“ angehören. Das gilt bekanntlich auch (wenn nicht sogar vor allem) für den Jazz, in dem Adorno nie etwas anderes hat sehen wollen als eine Form von „leichter Musik“, die sich an der von ihm unnachgiebig angeprangerten „Entkunstung“ beteilige.
(…)
In den „demokratischen Jahrhunderten“, das heißt in den modernen Gesellschaften, in denen die Lebensbedingungen und die Sitten dazu tendieren, sich anzugleichen, und in denen die Leidenschaft für Gleichheit (und mit ihr der Individualismus) zur beherrschenden Leidenschaft wird, erfährt die Kunst eine bemerkenswerte quantitative Veränderung. „Die Zahl derer, die die Wissenschaften, die Literatur und die Künste pflegen, wächst unabsehbar“, schreibt Tocqueville, und ihre Hervorbringungen sind „zahllos“, auch wenn sie „oft unvollkommen“ sind.54 Im Grunde strebt jeder nach dem beneidenswerten Status des Künstlers (und, mit Andy Warhol zu sprechen, nach der „Viertelstunde Ruhm“, auf die er ein Recht zu haben glaubt wie jeder andere).
Zu dieser quantitativen Veränderung tritt jedoch im 20. Jahrhundert eine qualitative und sogar eine radikale Neudefinition der Kunst hinzu. Diese betrifft sowohl die Produktions- als auch die Rezeptionsbedingungen des Werkes und modifiziert die bisher geltenden Definitionen desselben wie auch die des Künstlers. Darüber hinaus tendiert sie dazu, die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst, deren Verlauf unklarer ist als je zuvor, zu verwischen, wenn nicht sogar aufzuheben. Eine ganze Strömung des zeitgenössischen Schaffens widmet sich der Entwicklung von Kunstformen mit direktem Bezug zum Alltagsleben. Der amerikanische Künstler Allan Kaprow etwa propagiert mit der Form des Happenings seit den fünfziger Jahren eine Kunsterfahrung, für die Dispositive und Rahmen zu erfinden sind, in denen der Sinn bestimmter alltäglicher Vorkommnisse (etwa eines Autounfalls) plötzlich gesteigert und befragt wird.
Ein solches „Werk“ kann nicht mehr als in sich abgeschlossenes Ding, als Monade, als fertiges Objekt begriffen werden. Es ist vielmehr unlösbar mit dem Kontext verbunden und besteht in der Erfahrung selbst; es ist nichts anderes als der Prozeß (die praxis), die „Performance“.
(…)
Das Gedicht der Existenz
Man könnte sich fragen, ob das „demokratische“ Verständnis von Kunst, wenn es die künstlerische Praxis zu einem bloßen Mittel zur Verbesserung des Lebens macht und das Streben nach Wohlbefinden dem nach dem Meisterwerk vorzieht, jene – die Kunst – nicht aller wahrhaften Ambition beraubt. Führt das nicht dazu, daß jede Unterscheidung zwischen Kunst und Bastelei, zwischen Hobby und dem Ernst einer verzehrenden Berufung ausgelöscht wird? Läuft man nicht Gefahr, den Unterschied zwischen künstlerischem Streben und dem Reiten eines Steckenpferds zu verwischen, das, wie möglicherweise das Schreiben in Schreibworkshops, eher „soziokulturellen“ Aktivitäten zuzurechnen ist als der Kunst? Ein solches Verständnis von Kunst zu privilegieren (bei dem die künstlerische Praxis sich, wenn nicht mit einer radikalen „Entwerkung“ der Kunst, so doch anscheinend mit einer gewissen Geringschätzung für das Werk leicht abzufinden vermag), heißt das nicht letztlich jene „Entkunstung“ zu begünstigen, die Adorno angeprangert hat?
Erste Antwort auf diese Fragen wird sein, daß die Kunst demokratischer Zeitalter ein komplexes, nicht einzig und allein dem Prinzip der Nivellierung unterworfenes Phänomen ist. Auch wenn die Leidenschaft für Gleichheit der Motor demokratischer Gesellschaften ist, so ist sie doch nicht ohne ihre Kehrseite, die ihr entgegengesetzte Leidenschaft für Unterscheidung zu verstehen, eine ursprünglich aristokratische Leidenschaft, die unter den Bedingungen der Demokratie nicht nur erhalten bleibt, sondern sogar noch heißblütiger wird. Baudelaire hat den Dandy, den von ihm so genannten „letzten Vertreter des menschlichen Stolzes“,66 bekanntlich zur emblematischen Figur für diese wesentlich aristokratische Leidenschaft gemacht. In ihm, der „das brennende Bedürfnis“ hat, „sich [...] eine wirkliche Originalität zu schaffen“,67 sah Baudelaire einen Zwillingsbruder des modernen Künstlers. Die heute weitgehend abgeschlossene Demokratisierung der Kunst aber hebt, auch wenn sie deren Kontext modifiziert, jenes der künstlerischen Geste als solcher innewohnende aristokratische Bedürfnis nicht im geringsten auf. Wenn das demokratische Zeitalter gleichbedeutend ist mit einer Nivellierung der Geschmäcker und der Praktiken, so vor allem im Sinne einer Beseitigung alter Hierarchien zwischen (über- und untergeordneten) Gattungen und Formen der Kunst. Die davon herrührende Vermassung und Segmentierung nimmt dem „aristokratischen“ Ringen um Distinktion und Exzellenz nichts von seiner Entschiedenheit. Der Künstler „demokratischer“ Epochen will durchaus nicht immer einer unter vielen sein. Da auch er dem System der Konkurrenz, der Rivalität unterworfen ist, versucht er, der Beste zu sein, von seinesgleichen (von den Erfahrenen auf dem Gebiet, auf dem er sich einmischt) anerkannt zu werden.
Man wird hinzufügen, daß der eine Pol vom anderen (der Pol Hobby vom Pol Dandy, wenn man so will) eher graduell als essentiell verschieden ist, so daß ein Kontinuum vom einen Pol zum anderen führt, wie sich übrigens auch an den Wegen zeigt, auf denen die Berufung zum Künstler sich herausbilden und erkennbar werden kann. Was besagt, daß das amateurhafte Ausüben einer Kunst weit mehr ist als Dilettantismus und Zeitvertreib. Gewiß sind die Niveaus, auf denen Menschen sich einer Kunst widmen, verschieden, und die Formen, in denen sie es tun, sind es ebenfalls. Aber sofern sie es mit einiger Ernsthaftigkeit tun (und das ist möglich, ohne daß sie sich unbedingt mit dem romantischen Modell der totalen Hingabe des Künstlers an sein Werk identifizieren müssen), werden sie dazu angeregt, ihre Existenz zu überdenken, sie den Stereotypen entreißen zu wollen, die den Alltag eines „gewöhnlichen Lebens“ allzu oft zum Sklaven von Konformismen des gesellschaftlichen Lebens machen.
Das Ausüben einer Kunst ist also nicht nur Auseinandersetzung mit Materialien und Formen. Es ist auch Auseinandersetzung mit einem selbst, Suche nach einer Haltung und einem Rhythmus, die dafür sorgen, daß die eigene Existenz mehr in sich ruht und einen weniger lachhaften Sinn erhält. So greift Kunst ins Leben ein und imprägniert den Stoff, aus dem es gewoben ist. So schreibt sich auf der Rückseite des geschriebenen, gemalten, gemeißelten oder photographierten Werkes das, was Thoreau das „ungedruckte Gedicht“ der Existenz nennt.68 Vielleicht ist dieses Gedicht sogar das wichtigere, wenn es zutrifft, daß „auf die Beschaffenheit des Tages einzuwirken [...] die höchste Kunst“ ist. „Jedermann“, so Thoreau weiter, „hat die Verpflichtung, sein Leben auch in Einzelheiten so zu gestalten, daß es selbst in seiner feierlichsten und kritischsten Stunde als der Betrachtung würdig sich erweist.“
Bleibt zu sagen, daß der Künstler (und zweifellos liegt da für ihn der asoziale Weg der Größe) niemals nur mit seinesgleichen konkurriert. Die Leidenschaft für die Distinktion ist nicht nur eine soziale Leidenschaft. Oft nährt sie sich auch von einem romantischen Verlangen nach dem Absoluten, dem Unendlichen. Der Künstler strebt dann nach einem idealen Werk und nach einem Ruhm, den die Gesellschaft ihm nicht bieten kann. Denn Ruhm ist nicht Erfolg und resultiert nicht aus dem Wunsch nach Beifall; sein Horizont ist die Unsterblichkeit, und damit setzt er den Tod, nicht das Leben voraus, die Fiktion des Schattenreichs, nicht die Gesellschaft. Er (seine Unmöglichkeit in der Immanenz des Lebens) war es, der einen mit seinem Œuvre unzufriedenen Autor wie Kleist in den Selbstmord trieb. Und er ist es auch, der dafür sorgt, daß nicht nur neben der als praxis (als Element einer Kunst zu leben) verstandenen Kunst, sondern in ihr das abenteuerlustige Streben nach „großer Kunst“ lebendig bleibt.
(…)