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LI 126, Herbst 2019

Von den Hütten

Philosophische Aspekte der Armut und der wahre Luxus des Lebens

   (…)

   ALTISSIMA PAUPERTAS

Franz von Assisi unterscheidet in seinem Testament zwei Lebensformen, die sich entweder die Heilige Römische Kirche oder das Heilige Evangelium zum Vorbild genommen haben. Da ich alles andere als ein Experte bin, was das mittelalterliche Mönchswesen betrifft, habe ich diese Unterscheidung dem Buch des gelehrten Philosophen Giorgio Agamben Höchste Armut, Ordensregeln und Lebensformen entnommen, in dem er untersucht, wie sich ein Leben „außerhalb des Rechts“ gestaltet, also ein Leben, das zwar von Regeln bestimmt wird (asketischen Techniken, was das mönchische Leben betrifft), sich aber dem Recht (der Institutionen, der Macht, der Kirche und des Vatikans) nicht unterordnet. Ein wahrer Christ ist derjenige, der einen Schritt zur Seite tut und sich „seinem Jahrhundert“ entzieht, um sich nicht sklavisch an die Vorschriften halten zu müssen, sondern um ein vom Geist des Evangeliums erfülltes Leben zu führen, außerhalb kirchlicher Gesetze, in größter Nähe zum Wort Gottes. Da die Welt als etwas betrachtet wurde, was man sich nicht aneignen konnte, mußte man sich eine Lebensform ausdenken, in der es kein Eigentumsrecht gab und die dem unersättlichen Verlangen nach materiellen Gütern und Reichtum den Rücken kehrte. Das wiederum hatte eine „Veränderung des ganzen Kanons mit den Grundregeln für das menschliche Leben“ sowie Konflikte mit der römischen Kurie zur Folge, die diese Forderung der Franziskaner nach einem Leben in Armut mit großem Mißtrauen betrachtete.
   Die Historiker, so Agamben, konzentrieren sich vor allem auf diese konfligierenden Positionen und lassen, vielleicht zum ersten Mal, die Tatsache außer acht, daß es dabei nicht um Regeln, sondern um das Leben ging, nicht darum, sich zu diesem oder jenem Glaubensartikel zu bekennen, sondern nach seinen eigenen Vorgaben zu leben, frei und offen eine bestimmte Lebensform praktizieren zu können.
   Damit endet Agambens Ausführung, auf die ich zurückgreifen möchte, um sie auf unsere Zeit anzuwenden. Ich weiß, die Analogien sind gewagt, gleichzeitig sind sie aber auch notwendig, wenn eine Frage und eine Situation ein kühneres Denken erfordern. Zu diesem transhistorischen Vergleich ermunterte mich auch Agambens allgemeinere Reflexion. Sie schreibt sich in der Tat einer „anarchistischen“ Perspektive ein, in der die Welt ohne Staat auskommt und sich von der für den Kapitalismus symptomatischen Logik einer immer hemmungsloseren Ausbeutung lossagt. Weit über die Geschichte des Mönchtums hinausgehend, ist die franziskanische „höhere Armut“ eine Herausforderung, die uns um so weniger gleichgültig lassen darf, als sie uns direkt betrifft. Daß das Thema akut ist, liegt für mich auf der Hand, auch wenn unsere Gesellschaften es lieber ignorieren und die ganze Debatte über die notwendige Verminderung des Wachstums unter den Teppich kehren würden – oder die Mitbürger, die es wagen, neue Lebensformen auszuprobieren, bei denen Armut auf einer freien Entscheidung beruht, einfach nur mitleidig belächeln.
   Aber versuchen wir, Parallelen zu ziehen. Folgendes läßt sich feststellen: „Nach dem Vorbild der Heiligen Katholischen Kirche zu leben“ würde heutzutage bedeuten, sich dem herrschenden Lebensstil anzupassen und das weltweit vom Kapitalismus aufoktroyierte Konsumdenken zu übernehmen (Wall Street ist der Vatikan in dieser Religion, in der lawyers ebenso wichtig sind wie Aktionäre und Waffenhändler). Eine Art zu leben, die Souchons Chanson Foule sentimentale angemessen auf den Punkt bringt (wäre es nicht die ideale Tonspur zu einem Video über die Gelbwesten?): „Man bietet uns tausend Dinge an“, heißt es, „die Lust auf andere Dinge machen / Jaja, man will uns weismachen, daß Glück ist, zu haben. Die Schränke voll zu haben / Es ist der reine Hohn, armselig (…) Aus den Verpackungen kommen farblose Leute, außer Betrieb / Und traurig und ohne jeden Vorteil / Man verpaßt uns Wünsche, die uns plagen …“
„Nach dem Evangelium leben“, das wäre im Gegenteil, Partei für die Dissidenz zu ergreifen, für den zivilen Ungehorsam, für den Konsumverzicht, auszuscheren und fernab von den Orten der Macht und des Konsums neue Lebensformen zu entwickeln, bei denen Armut nicht als Fluch empfunden wird, sondern als eine Möglichkeit, einen Ort für sich zu finden, an dem man im Einklang mit Gaia (der Erde) leben kann. Die Hütte, ein gefährdetes Habitat, ist das perfekte Emblem für diese alternative Lebensform, die sich abseits der Zentren der Macht erfindet.

   (…)

   FRÖHLICHKEIT UND RESPEKT

Man braucht aber gar nicht bis zum Mittelalter und der christlichen Spiritualität zurückzugehen. Armut wurde nicht immer als Elend erlebt und wahrgenommen, und das ist noch gar nicht so lange her. Sie wurde auch positiv gesehen als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer Klasse mit einer verheißungsvollen Zukunft (der Arbeiterklasse, der arbeitenden Bevölkerung), als Indiz für eine Lebensform, die nicht nur gönnerhaft als respektabel bezeichnet wurde, sondern ihren eigenen Stolz und feste Werte besaß, jenseits aller lamentierenden, das Elend beschwörenden Diskurse, Werte, die sie einer auf Ausbeutung und Anhäufung von Reichtümern beruhenden etablierten Ordnung entgegensetzen konnte.
   Pasolini hat das klar erkannt, als er das schelmische Porträt eines römischen Bäckerjungen zeichnete. Ich zitiere es in seiner ganzen Länge: „Heute, wo das vom einzelnen erstrebte gesellschaftliche Verhaltensmodell nicht mehr von der eigenen Klasse vorgegeben, sondern von einem neuen Machtzentrum verordnet wird, sind viele nicht mehr in der Lage, es für sich zu realisieren. Und das ist eine furchtbare Demütigung. Ich will das an einem winzigen Beispiel erläutern: Früher war der Bäckerjunge, cascherino heißt er in Rom, eine Figur, die immer und ewig fröhlich war: seine Fröhlichkeit, die ihm förmlich aus den Augen sprühte. Er machte pfeifend seine Runde durch die Straßen und ließ seine Sprüche los. Seine Lebensfreude war unwiderstehlich. Er war sehr viel ärmlicher gekleidet als heute, die Hose voller Flicken, das Hemd oft nur noch ein Fetzen. Doch all das gehörte zu einem kulturellen Modell, das in seinem Milieu einen Wert, einen Sinn hatte. Und er war stolz darauf. Der Welt des Reichtums hatte er seine Welt, mit ebenso gültigen Werten, entgegenzusetzen. Er kam in die Häuser der Reichen mit einem von Natur aus anarchistischen Lachen, dessen Spott nichts ausließ, dennoch war er wahrscheinlich voller Respekt. Eben der Respekt dessen, der aus einer ganz anderen Welt kommt. Und vor allem: Entscheidend ist, daß dieser Mensch, dieser Junge, fröhlich war.“ (Übersetzung Thomas Eisenhardt)

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