LI 69, Sommer 2005
Der Hilfe-Supermarkt
Humanitäre Organisationen, Geschäfte, Medien und KriegsparteienElementardaten
Genre: Reportage
Übersetzung: Aus dem Niederländischen von Anne Middelhoek
Textauszug
(…) Außer 250 NGOs gab es in der Region acht verschiedene UN-Abteilungen, etwa zwanzig staatliche Geberorganisationen, unzählige von Geberorganisationen finanzierte örtliche Hilfsorganisationen und neun internationale Militärkontingente, die die Hilfe im Gebiet der Großen Seen unterstützten. Hundert der 250 Hilfsorganisationen kümmerten sich ausschließlich um die Lager rund um Goma. Bei einer derartigen humanitären Megaveranstaltung nur dabeizusein reicht nicht aus. Zeigen, daß man da ist, um bei der überwältigenden Konkurrenz nicht unterzugehen, ist für die Hilfsorganisationen von größerer Bedeutung. Als ich nach Goma kam, ein Jahr nach dem Einmarsch der Hutu, flatterte über den Hunderttausenden von blau-weißen UNHCR-Planen, die die Flüchtlinge zum Bau von Hütten bekommen hatten, noch ein Meer von Fähnchen mit Firmenlogos. Hatten solche Banner einst die Funktion, den Konfliktparteien zu signalisieren, daß hier humanitäre und keine militärische Organisationen am Werke waren, so sind sie jetzt Grenzmarkierungen im Kampf um Aufmerksamkeit. Es war, als stünden Wahlen bevor. Auf T-Shirts und Mützen der vielen Hundert Mitarbeiter der Organisationen, die sich zwischen den Hütten herumtrieben, und auf den Türen ihres Fuhrparks war Werbung gedruckt, Latrinentüren waren mit Aufklebern übersät, und vor den Eingängen von Bürozelten, Wellblechkliniken und Waisenheimen waren Namensschilder in den Boden gerammt.
Ich sah Flaggen mit dem Logo der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des UN-Kinderhilfswerks UNICEF, der International Organisation for Migration (IOM), der UN-Abteilung für humanitäre Angelegenheiten (DHA) und des Welternährungsprogramms (WFP). Die Farben der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (IFRC) auf Schildern und Flaggen erkannte ich auch, doch Organisationen mit Namen wie GTZ, THW, AICF, AMDA, CAFOD, OFDA, CRS und CEPZa/CELZa sah ich hier zum ersten Mal.
Oxfam, Merlin, Equilibre, Trocaire, GOAL und Concern waren ebenfalls beteiligt wie das kanadische und deutsche CARE, die deutsche, niederländische und spanische Caritas, die Swedish Rescue Services Agency, der Order of Malta, Solidarité Française, das italienische Emergency, die deutschen Notärzte sowie die französischen, belgischen und niederländischen Abteilungen von Ärzte ohne Grenzen. Die weltweiten Kirchengemeinschaften waren vertreten durch die Medical Missionaries of Mary, Samaritans Purse, der Lutherische Weltbund und Christian Aid. Zudem entdeckte ich noch ActionAid, Refugee Help, Terre des Hommes, Help the Aged, Food for the Poor, Feed the Children und Save the Children.
„Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein erschöpfter Flüchtling nach Goma gewankt käme, überwältigt würde vom Werberummel und sich dann denken würde: ‘Ich werde erst einmal bei CARE frühstücken. Dann zu Mittag essen bei World Vision. Später schau ich mal beim Roten Kreuz vorbei wegen ein paar Medikamenten, und danach hole ich mir noch eine Plane und eine Decke beim UNHCR’“, schrieb Richard Dowden in The Economist, als er 1994 die Katastrophe besuchte. Er nannte Goma einen „Hilfe-Supermarkt“.
Hatte man sich einmal an den Marketingrummel und an das UNHCR-Plastik als das wichtigste Baumaterial gewöhnt, empfand man die Zeltlager bei Goma eigentlich wie ganz normale Städte. Camp Mugunga, das größte der 25 Lager, bestand im April 1995 seit einem Jahr und strotzte von Wohlfahrt. Zweimal wöchentlich fuhren Karren einer Müllabfuhr zwischen den Hütten und Zelten, und alle paar hundert Meter hatten Hilfsorganisationen öffentliche Toiletten gegraben und Wasserhähne installiert. Aus Trampelpfaden waren mit Bulldozern breite Wege geschaffen worden, die „Wohn“- und „Geschäfts“-Viertel durchkreuzten. Auf beiden Seiten des boulevard de l’Égalité, der rue de la Solidarité und der avenue de la Fraternité standen Hütten, die mit jedem Monat, der seit Sommer 1994 verstrichen war, komfortabler geworden waren und nun einen unverwüstlichen Eindruck machten. Manche Behausungen waren sogar drei Stockwerke hoch und schienen für eine dauerhafte Bewohnung vorgesehen zu sein. Sie waren dekorativ von wildem Wein umrankt. Gomas vulkanischer Boden ist fruchtbar: Auf kleinen, von Lavabrocken ummauerten Äckern bauten die Bewohner Kartoffeln, Kohl, Bohnen und Bananen an. Andere hielten sich Ziegen, und fast jeder hatte einen kleinen Blumengarten angelegt. Die bei ihrer Ankunft an die Flüchtlinge verteilten Plastikplanen des UNHCR wurden längst nicht mehr dazu benutzt, die Zehntausende von provisorischen Hütten vor den täglichen Regengüssen in diesem nassesten Teil Zaires zu schützen. In Streifen geschnitten flatterten sie jetzt an den Fassaden von mehrere Zimmer umfassenden Schilfrohrhütten. Die Zimmertüren waren aus flachgeklopften Speiseölbüchsen gefertigt worden.
Die Planen fanden auch als Tischtücher in den zahlreichen Restaurants des Lagers Verwendung und schmückten als fröhliche Tapete die Wände in Disko-Hütten. Auf halber Strecke der avenue de la Paix et de la Justice waren Gäste an den Tischen vor der Patience-Bar und dem Chez Papa Bon in lautstarke Dominospiele verwickelt. Durch die geöffneten Türen strömten duftende Marihuanadämpfe nach draußen. Das Café Champs-Élysées betrieb ein Gartenrestaurant. Vor dem Eingang wurde gerade eine Ziege mariniert. Zwischen den verschiedenen Vierteln wurden auf matschigen kleinen Fußballfeldern freundschaftliche Spielchen leidenschaftlich ausgetragen, und es gab Kirchen, Dutzende, vielleicht sogar Hunderte, denn die Ruander sind gottesfürchtige Katholiken. In den vielen salles de spectacle konnten Filmfans für tausend ruandische Francs, umgerechnet eineinhalb Euro, sich auf eine der Bänke setzen, um die Videovorstellung zu genießen. Es wurden Klassiker gespielt. Ich sah Ankündigungen für Rambo und Midnight Express, ähnlich wie in den Kinos Amsterdams, Londons oder Kigalis. Die Werbeplakate waren von artistes aus dem Lager von Hand gemalt worden. „Kinder zum halben Preis“ war quer über die Abbildungen geschrieben worden.
Die Lagerwirtschaft blühte. In schmalen Gassen verdienten Elektriker ihren Unterhalt mit der Reparatur von Radiogeräten ihrer Leidensgenossen. Es gab Videoverleiher, Bäcker, Metzger, Brennereien und Theater. Friseure warben mit Gemälden auf Pappschildern, und in Boutiquen hing die aktuelle Kanga-Mode. Es gab ein Photostudio für Familienporträts und Paßphotos, und im Hotel du Monde konnten Familienangehörige und Freunde für zwanzig Dollar die Nacht eine Bleibe finden.
„Hier ist ja was los, es ist viel belebter als in Kigali“, sagte ich beeindruckt. Kigali ist die Haupstadt Ruandas.
„Ist ja auch kein Wunder. Alles, was du hier siehst, haben sie von dort geklaut“, brummte der Verbindungsoffizier, mit dem ich unterwegs war. Er war einer aus der Gruppe von internationalen Polizeibeamten, die im Auftrag der Vereinten Nationen nach Goma gekommen waren, um den örtlichen Behörden dabei zu helfen, für Sicherheit und Ordnung in den Lagern zu sorgen. Burkina Faso, Benin und Kamerun schickten jeweils eine Handvoll Beamte, und auch die Niederlande: Der Mann neben mir war für den guten Zweck von der Wasserpolizei im niederländischen Delfzijl ausgeliehen worden.
In überfüllten Pkws und Lastern, auf Wagen, in Schubkarren und auf Gepäckträgern von Fahrrädern und Mopeds hatten die Hutu bei ihrer Flucht aus Ruanda alles nach Zaire mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Die Eigentümer der Sachen hatten sie zuvor ermordet. Wellblech von ruandischen Dächern, Haustüren, Mobiliar, Matratzen, Kloschüsseln und Waschtische wurden in die UNHCR-Lager geschleppt. An Seilen zogen sie gestohlene Kühe und Ziegen hinter sich her. „Viele Hutu gingen in den ersten Wochen noch etliche Male zurück nach Ruanda, um noch mehr zu rauben“, sagte der Mann aus Delfzijl.
Dies war aber der Tag der Mathematikprüfung in Mugunga. Studenten saßen in Reihen auf Brettern, die auf schwarzen Lavabrocken ruhten, und berechneten mühelos Differentiale. Ihre Dozenten, von denen manche von der Universität in Ruanda nach Goma ausgewichen waren, achteten durch schwere Hornbrillen darauf, daß nicht abgeschrieben wurde: Sie kannten ihre Pappenheimer.
Auch der niederländische Polizist betrachtete die schreibenden jungen Menschen nachdenklich.
„Fast die komplette Universitätsbibiliothek haben sie aus Ruanda mitgebracht. Für diese Jungen und Mädchen ist das ja ganz schön. Sie können ihre Ausbildung hier einfach fortsetzen. Aber die Tutsi-Kinder in Ruanda, die das Massaker überlebt haben, haben keine Bücher mehr und auch keine Dozenten, denn die sind entweder tot, oder sie sind hier. Als Helfer macht man sich da schon manchmal Gedanken.“
Einen Moment lang war er still. Dann zuckte er mit den Achseln. „Komm, laß uns ein Bier trinken gehen.“
„Bis wir nach Ruanda zurückkehren, dürfen die Kakerlaken über den Friedhof herrschen!“ kreischte ein Hutu aus dem Menschenstrom, der sich Richtung Goma bewegte, zu einem Kameramann von Reuters. Er trug einen gebrauchten Kühlschrank auf seinem Kopf, gestohlen aus dem Haus einer ermordeten Tutsi-Familie. Schätzungsweise 800 000 Tutsi und gemäßigte Hutu waren zu dem Zeitpunkt bereits im Auftrag des extremistischen ruandischen Hutu-Regimes niedergemetzelt worden.
Der Exodus aus Ruanda war keine Flucht der Hutu, sondern ein taktischer Rückzug. Sie wichen nach Zaire aus, nicht weil sie geschlagen waren, sondern um sich einer Niederlage zu entziehen: In den Lagern außerhalb der ruandischen Grenzen wußten sie sich in Sicherheit vor der Tutsi-Armee, die aus dem Nachbarland Uganda einmarschiert war. Die Tutsi-Krieger eroberten ein ausgeplündertes, mit verwesenden Leichen übersätes Land umsäumt von UNHCR-Lagern voller Mörder.
Mit dem Hutu-Volk zog auch die Hutu-Regierung nahezu vollzählig nach Goma. Der Ministerpräsident und die Minister checkten in Touristenhotels an den Ufern des Kivusees ein und regierten weiter unter den Heineken-Sonnenschirmen am Pool. Die Minister für Äußeres, Entwicklungszusammenarbeit und Verteidigung blieben einfach im Amt. Nur der Innenminister bekam einen neuen Aufgabenbereich. Er wurde zum Minister für Flüchtlingsangelegenheiten ernannt.
Beim Haushalt mußte nicht gespart werden. Die Ersparnisse der Tutsi-Kontoinhaber waren von der Nationalen Bank Ruandas am Anfang des Genozids eingefroren worden, und die Hutu-Führer hatten das Kapital in klingender Münze mit nach Goma genommen. Ebenso wie die gesamten Omnibusse der ruandischen öffentlichen Verkehrsbetriebe: Sie pendelten mittlerweile zwischen den verschiedenen Lagern hin und her. Der nationale Kaffeevorrat sowie die Kraftstoffreserven der staatlichen Ölfirma Petro-Rwanda lagerten ebenfalls in den Flüchtlingscamps.
Nahezu komplett kamen auch die Hutu-Regierungsarmee und ihre Handlanger im Genozid, die Interahamwe-Milizen, nach Goma. Es handelte sich um ein Heer von insgesamt 32.000 bis 100.000 Mann; die Schätzungen gingen weit auseinander. Militärs mit Familien siedelten sich meist in den Lagern am Südufer des Kivusees an, während ein Stück weiter, im Lager Bulonge, vor allem unverheiratete Hutu-Soldaten wohnten. Sie hatten die Kalaschnikows, Macheten und Äxte, mit denen sie ihre Tutsi-Landsleute ermordet hatten, mitgebracht. Sogar einige Panzer und sechs Hubschrauber waren zwischen den UNHCR-Zelten geparkt. Die Hubschrauber waren allerdings nicht einsatzbereit.(…)