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Cover Lettre International 131, Antoine D'Agata
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Inhaltsverzeichnis

LI 131, Winter 2020

Das polnische Paket

Die Durchschlagskraft der Rechten, geleitet von fanatischen Ideen

(…)

KIRCHE UND POLITIK
Für den Politiker ist die Wirkungsweise des Machtgewinns der grundlegende ethische Maßstab – ich habe gesiegt, folglich muß ich moralisch sein. Die Hybris des Sieges ist die erste Grimasse, die dem Politiker aufs Gesicht tritt, sobald er gewonnen hat. Hinter dieser Genugtuung aber – die nichts Ehrenvolles hat – verbergen sich komplexe und differenzierte Emotionen. Hinter dem rechten Denken lauert die Ideologie, hinter dem liberalen verbergen sich Wirtschaftsexperimente und politische Konformismen, hinter dem linken ein mehr oder weniger authentisches soziales Mitgefühl. Und sie alle stützen sich auf das Verlangen nach Macht und die Lust an ihr.
     Der Machterwerb erfordert unterschiedliche Operationen und Talente. Die polnische Rechte hat auf diesem Gebiet raubtierhafte Witterung bewiesen. Sie spürte, wie satt das Volk die Herrschaft einer passiven Demokratie hatte, die es nicht verstand, ihre Erfolge herauszustellen und eine für alle akzeptable, höhere Botschaft vorzutragen. Die liberale Regierung blieb „lau“ und lavierte. Dem Anschein nach unterstützte sie gleichgeschlechtliche Partnerschaften, vermochte sie aber nicht zu legalisieren. Sie versuchte den Besitzgelüsten der Kirche entgegenzutreten, gab ihnen aber aus konformistischen Gründen doch nach. Sprach sich angeblich für die Interessen der Frauen aus, stimmte aber immer schärferen Abtreibungsverboten zu. Diese Liste ließe sich verlängern. Die Rechte besetzte dieses Feld mit wehenden Fahnen und feurigen Losungen, sie spielte nationale Sehnsüchte aus. Sie befreundete sich sofort mit der Kirche, die ihren politischen Aktionen eine Aureole von Heiligkeit und Unantastbarkeit verlieh und für eine erfolgreiche Zusammenarbeit sorgte.
     Indem die Kirche sich so unverhohlen auf die Politik einließ, stellt sie die Institutionen über die Religion. Dieses Vorgehen ist häufig bei Hierarchieträgern, die seit Jahrhunderten stärker vom „Papst“ als von Gott abhängig sind. Weil Politiker, die Macht mit Hilfe von Ideologie ausüben – und dazu zählen auch die kirchlichen –, zumeist gefeit sind gegen ihre eigene Ideologie, bereitet ihnen diese Operation keine Schwierigkeiten. Wo keine Identifikation, dort ist auch kein Verrat nötig.

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GOTT UND NATUR
Familie und Leben bilden gegenwärtig die Bundeslade zwischen der Kirche und der Rechten. Auf diesen Feldern läßt sich am leichtesten mit weit herbeigeholten Argumenten manipulieren. Dabei handelt es sich meist um einen Cocktail von Gott und Natur. Diese Überredungswerkzeuge wirken noch immer. Drückt man sich nur nebelhaft genug aus, kann man behaupten, Homosexualität und Abtreibung seien unvereinbar mit den Naturgesetzen und den Gesetzen Gottes. Kaum jemand hat einen so geübten Verstand, sich dem zu widersetzen.

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Einer frappierenden Transformation wurde die katholische Religion unterzogen, die nunmehr als Nationalreligion propagiert wird, gekrönt von der Heiligkeit des Polen und der Erhebung Christi zum König von Polen. Niemand störte sich am ketzerischen Beigeschmack dieses Eingriffs und der Gönnerhaftigkeit, mit der Gott die Königswürde eines kleinen, nicht sehr verdienstvollen Landes angetragen wurde. Über dieser Operation der Aneignung der Religion und ihrer Gleichsetzung mit dem Polentum vergißt man die Tatsachen. Mehr als 1 500 Jahre lang hatten wir auf polnischem Gebiet urslawische Volksglauben, wie sie charakteristisch für diese Gegend waren, hervorgegangen „aus diesem Boden“. Sie wurden verdrängt – wenn auch nicht restlos – von der Annahme der Taufe im Jahre 966. Diese Gewalt an der lokalen Religion, verübt von einer Religion mit globalen Aspirationen, dient der Rechten heute als Deklaration des Polentums. Die Taufe Polens wird als Manifestation nationaler Identität verstanden. Niemand erinnert sich mehr daran, daß die Annahme der Taufe den Verzicht auf die nationale zugunsten einer europäischen Religion bedeutete, daß sie eine politische Geste war, die den Prototyp des vereinten Europa schuf, in dem die Mitgliedsstaaten sich der übergeordneten Macht des Vatikans unterwarfen. Heute ist in Polen diese politische Religion keine gemeinsame – verbindende – Religion mehr, sie ist zu einer nationalen – ausschließenden – Religion geworden.
     Das nächste „Geschütz“ der Rechten ist die Geschichte. Die Präparierung dieses Werkzeugs besteht in einer ausgewogenen Mischung von Hervorhebung und Ausblendung. Manche Tatsachen wachsen zu gigantischen Ausmaßen an, andere schrumpfen. Was dominieren soll, wird durch Übertreibung verstärkt. Das rechte Modell der Geschichte vermengt erlittenes Unrecht mit dem Gefühl der Größe. Die Tatsachen sind hier formbar. Banditen lassen sich zu Helden, ein Unfall zu einem Anschlag modellieren. Hauptsache, man lenkt die Emotionen richtig und implementiert in den Hirnen das Gefühl von Unrecht und Lüge. Die Geschichte ist ein Feld unerschöpflicher Manipulation, unter anderem deshalb, weil sie eine wesentliche Grundlage von Identität ist, die uns – im Einklang mit der jeweils verbindlichen politischen Deutung – in der Erziehung von Beginn an eingebleut wird. Das rechte Modell der Geschichte leidet – ähnlich wie das kommunistische – nicht am „Streß der Wahrheit“. Was zählt, sind „höhere“ Werte, vor allem solche, welche die Feindseligkeit der Bürger in der von den Politikern vorgegebenen Richtung garantieren.

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VERMEHRUNGSPOLITIK
Die Einstellung der Rechten zum Leben hat eine verständliche Genese. Ziel der Aktion war eine möglichst hohe Zahl von Schwangerschaften. Am Anfang stand die Angst vor sinkender Fortpflanzung und folglich – einer sinkenden Bevölkerung der Polen. Die Intention war pragmatisch – wir sollen uns vermehren. Daraus folgte der männliche Despotismus in der Abtreibungsfrage. Damit das Programm gegen die Abtreibung erfolgreich war, mußte der Gesellschaft der Wert des Lebens und die mit dem Schwangerschaftsabbruch einhergehende ungeheure Kriminalität bewußt gemacht werden. Aufgebauschte Reden und blutige Bildchen in den Kirchen weckten Abscheu bei den Erwachsenen und brachten die Kinder zum Weinen.

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UM JEDEN PREIS
Das Gebot zu retten, was immer die Rechte als Keim des Lebens betrachtet, verliert das Leid der Frauen völlig aus den Augen. Die neue, verschärfte Fassung des Programms gegen die Abtreibung sieht keinerlei Umstände mehr vor, die einen Schwangerschaftsabbruch erlauben würden. Ein durch Vergewaltigung gezeugtes Kind muß zur Welt gebracht werden, gegen die Warnung von Psychologen, daß es – als Mahnung an den Alptraum – von der Mutter gehaßt werden wird.
     Diese doppelte Gewalt kann weiteres gesellschaftliches Leid nach sich ziehen, denn Kinder, die ohne Liebe aufwachsen, rächen sich später an ihren Eltern. Auch Geburtsfehler oder die künftigen Leiden eines behinderten Kindes gelten nicht als Umstände, die einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Embryo ein deformiertes Hirn oder einen Körper ohne Extremitäten hat und sein kurzes Dasein als gequälte Pflanze oder vor Schmerzen winselnder Rumpf verbringen wird – in allen Fällen beharrt der rechte Fanatiker auf lebenslanger Existenz. Der Kampf ums Leben hat in diesen Kreisen absurde Formen angenommen und nimmt keinerlei Rücksicht auf menschliche Empfindungen. Mit der Einschränkung der Empfängnisverhütung, dem Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und der Verdammung der Euthanasie tut die Kirche, tut auch die Rechte der moralischen Selbstbestimmung des Menschen Gewalt an. Diese Diktatoren trauen den Menschen keine ethischen Entscheidungen zu und glauben deshalb, Zwang und Recht anwenden zu müssen. Sie wissen außerdem, daß jemand, der sich das erste Stück Freiheit wegnehmen läßt, peu à peu den Stoff für einen Sklaven abgeben wird.
     Sehr mißtrauisch macht es bei der Rettung des Lebens um jeden Preis (sprich: bezahlt von anderen), daß dieser Eifer so jungen Datums ist. Propagiert hat die Kirche die Abtreibung zwar nie, doch nahm sie diese Praktiken hin. In kommunistischen Zeiten, als die Abtreibung das allgemein übliche Verhütungsmittel war, gab es keinerlei Protest von kirchlicher Seite.

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Die einzige Chance, das polnische Denken von der Macht der Rechten zu befreien, liegt darin, der Gesellschaft bewußtzumachen, daß die Kirche eine bestimmte politische Haltung einnimmt und ihrer eigenen Rolle untreu wird, wenn sie die Propaganda von der Kanzel aus unterstützt. Denn aufgegeben ist ihr einzig und allein, auf der Seite Gottes zu stehen. Wenn die Autorität der Kirche untergraben, am besten lächerlich gemacht wird, wird das die Rechte automatisch schwächen, denn sie bezieht ihre Kraft aus der Allianz mit dieser Institution. Eine schwierige Aufgabe, denn die Würdenträger werden verzweifelten Widerstand leisten. Je mehr Gläubige und, daraus folgend, Einkünfte die Kirche verliert, desto mehr ist sie auf andere Quellen angewiesen. Am besten geeignet scheint ihr die Politik zu sein, der sie im Gegenzug ihre Dienste als Hypermedium anbieten kann. Und das ist ein reelles Angebot, denn in ihrer Reichweite übertrifft die Kirche noch immer alle Zeitungen, Magazine und Fernsehsender. Die Definition von Medien paßt vorzüglich auf die Einstellung und die Aktivitäten der Kirche. Aber zugleich ist die Kirche mehr, und dieses Mehr versetzt sie in die Position eines Mediendiktators.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.