LI 72, Frühjahr 2006
Wir und der Tod
Ursprungskult oder Bündniskult - Über die Mitbestimmung der TotenElementardaten
Textauszug
JOCHEN RACK: In der Geschichte der Menschheit wurde das Verhältnis des Menschen zum Tod in vielfältigen Mythen verarbeitet. Unsere heutige, westliche Kultur scheint dagegen die Entmythologisierung des Todes so weit vorangetrieben zu haben, daß wir uns vom Tod gar keine Vorstellung mehr machen, ihn höchstens als technisch-medizinische Herausforderung ansehen, mit der Perspektive, ihn vielleicht einmal durch den Fortschritt der Gentechnologie ganz abschaffen zu können. Wird denn das Todesbewußtsein immer mehr verdrängt?
KLAUS HEINRICH: Ich würde eine Unterscheidung machen zwischen Tod und Sterben, die mir für die letzten, sagen wir ruhig: hundert Jahre in unserer hochzivilisierten, hochindustrialisierten Gesellschaft wesentlich erscheint. Der Tod als Tod ist unwichtig, das Sterben als ein unter Umständen qualvoller letzter Lebensabschnitt ungeheuer wichtig geworden. Ich brauche nur zu erinnern an die Diskussion um Sterbehilfe und Sterbeverfügungen; daran, daß die Leute heute Angst davor haben, nicht mehr entscheiden zu können, wann die Apparate abgestellt werden, während sie früher fürchteten, scheintot begraben zu werden. Das heißt, die Verlagerung auf das Sterben als auf einen letzten Lebensabschnitt hat die metaphysische und religiöse Bedeutung des Todes auf den ersten Blick verdrängt. Auf den zweiten Blick, würde ich sagen, ist alles noch da, sind alle Uraltvorstellungen von Schamanismus und Animismus noch präsent, ist der Tod viel gegenwärtiger als in jenen Epochen, wo er fest in die Kultur eingebaut war und man sich seiner nicht ständig vergewissern mußte. Was mir, wenn ich von einer Stadt wie Berlin ausgehe, am meisten auffällt, ist, ich übertreibe jetzt einmal: Dem toten Hund setzt man einen Gedenkstein, der tote Angehörige wird verscharrt. Das Unwichtigwerden des Todes bedeutet, daß die Toten unwichtig geworden sind, und das hat diverse Gründe, die sich gegenseitig stützen: ökonomische Gründe – Bestattungen und die Pflege von Grabplätzen werden teurer; betriebswirtschaftliche Gründe, wenn man so will –, die von allen eingeforderte Flexibilität erlaubt es nicht, die Toten mitzunehmen, fordert dazu auf, sich ihrer zu entledigen; und auch spirituell braucht man das Gedenken an die Toten zu bestimmten Zeiten und an einem Ort, wo man mit einem Nachbild von ihnen konfrontiert wird, nicht mehr. Also, die Toten werden als Ballast abgeworfen – das ist, wieder überspitzt gesagt, mein Eindruck heute. Das Sterben wird unendlich aufgeladen, als etwas, was eigentlich nicht sein sollte, und wenn es denn doch ist, so vernünftig, so schmerzlos wie möglich einherkommen soll. Und jeder Versuch, ein Leben zu führen, das aus Leben und Tod gemischt ist, und einen Tod zu sterben, der ein Abschied von den Lebenden ist, wird in diesem Zusammenhang ausgeblendet.
Inwiefern widerspricht denn der Tod der Rationalität unserer modernen Gesellschaft?
Er widerspricht nur dem, was in unserer Gesellschaft sich kaum jemand öffentlich mehr leisten kann, nämlich dem Mitsterben. Mitsterben ist das, was für alle Trauerzeremonien in aller Welt eine Herausforderung für die Menschen ist, denen Angehörige sterben. Mitsterben läßt sich zwischen einander jagenden Terminen schwer arrangieren, und Mitsterben in der Arbeitslosigkeit ist ein Luxus, der einem die eigene Situation nur noch deutlicher macht.
Wie kam es zu dieser Unfähigkeit zu trauern? Noch im 19. Jahrhundert haben wir eine ausgeprägte Kultur des Sterbens, wo die Angehörigen sich am Bett des Sterbenden versammelten, wo der Pfarrer gerufen wurde, wo Abschiedsrituale vollzogen wurden. Was ist der Grund für die Erosion dieser Sterberituale?
Eine ungeheure Erosion hat schon im 19. Jahrhundert stattgefunden, als der Tod im Namen des deutschen Nationalismus und seines Opferkultes enteignet wurde. Der Nationalismus bei uns war ein Ersatz für die nicht gehabte Nation. Man mußte diese Nation herbeizitieren, und wenn Sie sich die Lyrik zu Beginn des 19. Jahrhunderts ansehen, die die Freiheitskriege begleitet, feiert sie einen einzigen Blutrausch zwecks Herstellung der Nation. Die einzelnen sterben, aber die Nation ersteht auf – das ist sozusagen die Lebenslüge des Todes im Nationalismus. Die Nation muß sich erneuern, das geht nur auf den Schlachtfeldern. „Schlachten“ ist ja das Wort für opfern. Opferrituale begleiten von Anfang an die Errichtung der Nation. Sie sehen das am deutlichsten darin, daß die wilhelminische Baukunst, nachdem die Nation erreicht zu sein scheint, ihre größte Originalität in den nationalen Opferstätten, den Kriegerdenkmälern entfaltet. Das Kyffhäuserdenkmal, das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig sind die monumentalen Zeugen eines ausgeprägten Totenkults. Das heißt, in dem Moment, wo die Nation entsteht, wird sie auch schon zu Grabe getragen. In der NS-Zeit wird der Opferkult noch einmal gesteigert, er wird verinnerlicht und totalisiert: Nichts, was nicht Opfer ist, ist noch etwas wert. Dementsprechend dienen die Thingstätten und die Großveranstaltungen der NS-Zeit samt und sonders der Inszenierung des Opfers, das ich zu bringen habe und das ich selber bin. Wenn man sich vorstellt, wie man aus der Stadt herauszieht zu einer solchen Thingstätte, wenn man an den Lichtdom denkt, der die Opferstätte mit Scheinwerfern aus der Nacht herausschneidet, leuchtet einem sofort ein, was Opferkult heißt. Deswegen schüttelt es mich, wenn ich heute einen solchen Lichtdom als Stadtdesign zu Silvester vorgesetzt kriegen soll. Das spielt in meinen Augen immer noch mit Opferreiz und Opferkitzel und Krieg. Die Verherrlichung des Opfers sorgt für eine Erosion der Sterberituale in der Gesellschaft. Das Opfer erhöht und enteignet den Tod.
Die politisch-nationalistische Instrumentalisierung des Todes für die Wiederherstellung der deutschen Nation oder die Etablierung des faschistischen Herrschaftssystems machte den Umgang mit dem Tod gewissermaßen zu einer ideologischen Angelegenheit. Aber was passiert mit den privaten Toten?
Die privaten Toten kann man leichter abschaffen. Vor zwanzig, dreißig Jahren, als die Wirtschaft prosperierte, waren Grabstellen gesucht, und Sie mußten unter Umständen Geld unter dem Tisch springen lassen, um eine Grabstätte auf einem gut belegten Friedhof zu bekommen. Heute veröden die Friedhöfe. Man praktiziert die anonyme Bestattung, es ist nicht mehr wichtig, was mit den Toten geschieht. Es war vorher auch nur noch repräsentativ wichtig, nicht mehr individuell, außer bei denjenigen, die sich von Menschen schwerer trennen als von Orten oder Eigentum. Es scheint mir tatsächlich ein sehr unheimlicher Aspekt zu sein, daß der Tod und die Toten so weit wie möglich entfernt werden – nicht, weil man sich vor ihnen ängstigt, wie das eine ganze lange neolithische Gesellschaft hindurch der Fall war, sondern, weil sie überflüssig geworden sind, weil man sie als Ballast abwerfen kann.
Gewissermaßen als Abfall.
Ja.
Hängt das damit zusammen, daß wir heute in einer Wegwerfgesellschaft leben, die auf der Produktion kurzlebiger Produkte beruht und diese industriell-ökonomische Logik auf die Menschen überträgt?
Es hängt damit zusammen, daß die große Balance, die über Jahrtausende hinweg, seit der neolithischen Revolution, also vielleicht zehn Jahrtausende lang, zwischen Raum und Zeit hergestellt wurde, gestört ist. In der neolithischen Kultur brauchte man keine Angst mehr zu haben vor dem Weltall, in dem man ausgesetzt war, weil man auf Erden die Häuser des Himmels nachbauen konnte, und man brauchte keine Angst zu haben vor dem Verschlungenwerden in den Tod, beispielshalber durch wilde Tiere oder durch Katastrophen, Sintflutkatastrophen und ähnliches mehr. Man durchschritt in der Ackerbauzivilisation einen vorgezeichneten Weg in der Zeit, wurde wieder zurückgebettet in den Schoß der Erde, aus dem man wieder hervorgehen konnte. Der Totenkult war sozusagen die Vergewisserung der Balance von Raum und Zeit. Jede Stadt, jede kleinste Siedlung war schon ein Stück Wiedergabe des Kosmos und seiner Bewegungsform. Aber unter den Bedingungen einer Informationsgesellschaft, die keine räumlichen Entfernungen und keine zeitlichen Abfolgen mehr kennt, wo man die Information ohne Vergangenheit und Zukunft abrufen kann, ist der Bezug auf Raum und Zeit überflüssig geworden. Es wird der Versuch gemacht, den Ballast von Raum und Zeit mit abzuwerfen. Das ähnelt manchen mystischen Bestrebungen, sich unabhängig von Raum und Zeit in die Identität, die Gemeinsamkeit mit der Gottheit oder in eine Ewigkeit ohne Differenzierungen zu versetzen, also in ein Nirwana, so etwas wie einen abstrakten Schoß, nachdem man der brodelnden Schöße, die einen hervorbringen und wieder verschwinden lassen, endlich Herr geworden ist. In allen Religionen, die Schoßreligionen beziehungsweise mütterliche Religionen sind, also nicht prophetische Religionen, ist es unendlich wichtig, aus den erschreckenden Kreisläufen herauszukommen: Seelenwanderung ist eine Strafe und sich davon zu befreien ein großes Ziel. Darum hat der Buddhismus als Erlösungsreligion eine so große Wirkung gehabt; darum ist so erschreckend, wenn ich sehe, wie Sekten heute auf Seelenwanderung setzen, in der Hoffnung, sich dadurch ein Überleben zu sichern. Für jemanden in der Antike wie für jemanden in den existierenden östlichen Religionen wäre das der Schrecken per se gewesen.
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