LI 74, Herbst 2006
Beirut irgendwo
Schichten einer Stadt oder ein Ägypter im Libanon der kein Araber warElementardaten
Genre: Erinnerung, Reisebericht, Reportage
Übersetzung: Aus dem Arabischen von Nermin Sharkawi
Textauszug
Das Flugzeug gleitet wie ein Projektil dahin, als folgende Worte meinen Kopf erschüttern: "Vergiß die Tage. Leg dein Herz auf den nächsten Tisch. Und warte." Die heftige Landung auf dem Asphalt macht mir keine Angst. Als könnte ich die Gefahr erst dann eingestehen, wenn sie der Schwerkraft unterliegt. So bin ich seit Jahren nicht mehr nach Kairo zurückgekehrt.
"In der Nacht regnete es nicht einen Tropfen. Ich bereute nicht, daß ich die Reise ohne Abschied unternommen hatte."
In der Warteschlange zur Paßkontrolle erinnere ich mich, daß diese Worte in mir aufstiegen, als ich zwischen Ägypten und England unterwegs war. Als Student. Die meiste Zeit unglücklich. Mein Leben zum vergänglichen Traum mutiert vor der Wirklichkeit der Flugzeuge. Nur Worte, die ich mir kaum zurechtgelegt hatte. Ich hätte sie beinahe vergessen, wenn mein Kopf heute nicht damit bestürmt würde. Aber mehrfach bekam ich nach ihrer Veröffentlichung zu hören, es sei das "Trockenste", das ich bisher geschrieben hätte. Seltsam ist, daß sie nur zufällig veröffentlicht wurden und nur in Beirut, woher ich gerade komme. Der Paßbeamte hinter dem Schalter läßt meinen Gruß unerwidert. Ich lehne mich an das Förderband der Gepäckablage. Ein schmerzhaftes Bedürfnis, Wasser zu lassen. Eine meiner anstrengendsten Reisen. Wenn auch nicht ohne Nutzen.
"Er kennt überhaupt niemanden. Mein Gefühl steckt in den öffentlichen Toiletten. Er kann die anderen nicht genießen. Geschmack kreisrunder Einsamkeit."
Vielleicht versteckt sich der Fahrer, den meine Mutter geschickt hat, hinter den Tafelträgern.
"O Bruder, Geld ist Geld, und Drängeln ist Drängeln, und das Gepäck ... Gott weiß, was nach dem Gepäck kommt ..." - Ziad ar-Rahbani, Al-Aql Zina (Verstand ist Zierrat)
"Ich genieße die Angst, die durch meinen Körper dringt, wenn ich mich verlaufe." Nicht genau. Ich bin aufgrund einer Einladung unterwegs: Es sei an der Zeit, daß ich die östlichen Länder der arabischen Welt kennenlerne - so S., die sich um meine Angelegenheiten kümmert - aber auch, um mich von den Strapazen der Zeitung zu erholen. Der verborgene Wunsch, ein mögliches Leben zu wählen. Wäre es wirklich möglich? Ich habe schon etwas von der Sprache gelernt und mich zum Zuhören entschlossen - gegen meine Gewohnheit -, um mir ausführlich von der Geschichte des Bürgerkriegs und anderen Entwicklungen erzählen zu lassen.
Ich genieße die Angst nicht, vielleicht habe ich keine Angst. Aber ein Gefühl des Verlorenseins umgibt den Radius meines Körpers. Seit Jahren habe ich die ägyptischen Grenzen nicht mehr passiert. Ich habe keinen Reisepaß benötigt und mußte keine Ausreiseanträge ausfüllen. Auch keine Zeit in der Warteschlange vor dem Schalter des Paßbeamten zubringen. Wirklich, ich habe die Sicherheitskontrollen passiert und mein Gepäck abgegeben. Die meisten nannten mich "mein Herr" aufgrund meines Berufs, der im Reisepaß angegeben ist: Journalist der Zeitung Al-Ahram.
Aber eine Spur von plötzlicher Panik durchdringt mich doch, sobald ich in der Abflughalle bin: Jetzt gibt es kein Entkommen mehr davor, mit einem libanesischen Flugzeug abzuheben, und kein Entkommen mehr, in einer Stadt zu landen, in der ich noch nie gewesen bin.
Und wenn S. nicht dort ist, was fange ich mit mir an?
Offenbar wurde der Flughafen ausgebaut. Ich erinnere mich noch an meine fast besessene Suche nach einem Sitzplatz und daß ich den zuständigen Stellen - sicher auch ein privates Unternehmen - innerlich den Vorwurf machte, sie sollten besser alles neu konzipieren. Es gibt also keinen Sitzplatz für mich und niemanden zum Unterhalten. Die Blicke der anderen sind wie beunruhigendes Geflüster: Kann es sein, daß ich Sie kenne? Aber eine instinktive Scheu trennt uns in letzter Minute. Manchmal ist das besser. In den Flughäfen blickt man sich gegenseitig an wie Liebende, welche die Ablehnung der Geliebten fürchten, oder wie Komplizen eines Verbrechens, die sich zufällig Jahre später wiederbegegnen, nach der gemeinsam begangenen Tat. Ich wende mich ab und rufe meine geschiedene Kollegin in Madinat Nasr an. Ein achtzehnjähriges Mädchen der Nacht. Dann meine aus Beirut stammende Geliebte in ihrer New Yorker Wohnung, meine Mutter, meinen Freund, den Regisseur, meinen Freund mit Bart und S.
(...)
Die Geschichte des Libanons fasziniert mich. Jeder behauptet, sie sei kompliziert.
Beirut Beirut von Sonallah Ibrahim verstehe ich nicht. Als ich noch keine Freunde dort hatte, fehlte mir das Interesse an Büchern oder Dokumentarfilmen zum Thema. Meine Kollegen von der Redaktion Al-Ahram Weekly verarbeiten alle Einzelheiten der Nachrichten für diese oder jene Deutung der Ereignisse. Es gibt eine stille Übereinkunft, daß Israel und Amerika die Bösen sind (auch jeder, der mit ihnen sympathisiert), im Gegensatz zu den gutmütigen Arabern und Muslimen, die um ihre Rechte gebracht werden.
Das letzte Ereignis, das ich bewußt verfolgt habe, war der Erfolg der Hisbollah bei der Befreiung des Südlibanon. Der Rückzug Israels war in Wirklichkeit nur militärisches Kalkül im kalten Krieg mit Syrien. So jedenfalls erklärten es mir die Libanesen. Die Front im Süden. Der "Widerstand" hatte nur drei Siedlungen getroffen, und das nicht einmal nennenswert. Wie die Scheba-Farmen, deren Befreiung die Hisbollah als Vorwand nutzt, um, im Gegensatz zu den anderen Gruppierungen, weiterhin die Waffen zu behalten. Die "Befreiung" gewann eine nationale Dimension, die nichts mehr mit der Realität zu tun hatte. Hassan Nasrallah - so behaupteten einige - sei nur eine Karte in der Hand der syrischen Regierung: "Man kann sagen, daß er ein Agent ist." Obwohl mir diese Auslegung damals nicht in den Sinn kam, hat der angebliche Sieg meine Abneigung gegen den politischen Islam nicht gemindert. Die Nachrichten aus Palästina und dem Irak zogen mich zunehmend in ihren Bann, so daß ich diesen Dingen keine weitere Beachtung schenkte.
Vor einigen Wochen löste das Attentat auf Rafik al-Hariri bei S. große Besorgnis aus. Ich weiß nicht viel über ihn, nur, daß er ein reicher Geschäftsmann war, der mehrfach den Posten des Ministerpräsidenten innehatte. S.' Besorgnis wurde durch die Bombenanschläge in den christlichen Stadtteilen Beiruts noch verstärkt. Einige sprechen von einem neuen Krieg. Seltsam ist, daß die Stadt am Tag meiner Ankunft den dreißigsten Gedenktag des Ausbruchs der Kampfhandlungen feierte (13. April 1975). Wäre es nicht angebrachter, zu trauern?
Warum bestehen die Libanesen darauf, im Gegensatz zu meinen Kollegen, daß die syrische Regierung hinter dem Attentat steckt? Mir ist durchaus bekannt, daß das syrische Militär seit 1976 an der Verwaltung des Libanon beteiligt ist. Eine Tatsache, welche die Libanesen, konfessionsübergreifend, erzürnt. Aber hat die syrische Präsenz - zumindest seit 1989 - nicht echte sicherheitspolitische Gründe? Wie schafft man es, die syrische Präsenz abzulehnen und gleichzeitig Bushs Kampagne gegen Syrien die Stirn zu bieten, vor allem nach der Besetzung des Irak? Das Thema ist groß. Im Ernst: Ist Unkenntnis hier nicht ratsamer?
Doch ganz plötzlich interessiert mich die Sache im Libanon. Ich freue mich, weil ich die Gedenkfeiern vom 13. April miterleben werde. Freue mich, weil ich S.' Wunsch erfüllen konnte, freue mich, weil ich endlich erfahren werde, was Beirut eigentlich ist und wie mein Freund, der Journalist und Musiker, aussieht und woher die Musik von Ziad ar-Rahbani stammt, freue mich auf den fernen Strand am Mittelmeer und auf Thymianfladen zum Frühstück.
Ehrlich gesagt ist mir so etwas gar nicht in den Sinn gekommen, als ich die Durchgänge passiere.
Ich bin völlig damit beschäftigt, mit den Stewardessen der Middle East Airlines zu flirten. Es wird behauptet, sie würden sich den Fluggästen kostenlos nähern. Das nährt meine Hoffnungen erneut, als Sexfahrzeug mit Sprengsatz eingesetzt zu werden, das jetzt erst explodiert. Ich habe vollkommen vergessen, daß ein Regisseur für Dokumentarfilme aus Beirut mir vor einigen Wochen in Ägypten sagte, ich sehe wie ein Palästinenser aus. Ein al-Helwa. Erst später sollte ich begreifen, daß dies nicht nur politisches Asyl bedeutet, sondern auch Armut und Kriminalität.
Er hatte leider recht.
Weder mein zärtlichstes Lächeln noch meine verborgenen Liebesbotschaften, dazu angetan, wenigstens brüderliche Zuneigung bei den Stewardessen zu erwecken, haben Erfolg.
Ich weiß noch, daß die Stewardessen der ersten Klasse hübscher und schlanker waren. Das wirft ernsthafte Fragen über die innere Einstellung der Verantwortlichen der libanesischen Fluggesellschaft auf: Ist das nicht skandalös? Selbst der leihweise erbetene Stift zum Ausfüllen der Karte wurde mir erst dann ausgehändigt, als das sinkende Flugzeug bereits in den Luftlöchern schwankte.
Vom Schauer, der mich auf Flughäfen überkommt, hin zur Berührung mit anderen arabischen Gesichtern, diese meine innerste Identität, vielleicht auch eine vermeintliche Identität. Die Kleidung der Sicherheitsbeamten lenkt mich von der hohen Luftfeuchtigkeit ab und davon, daß alle Taxis Mercedesse sind.
Nur über die Zypressen wundere ich mich und über die Fähigkeit eines ganzen Volkes, sich mittels Ausdrücken zu unterhalten, die ich - im Allgemeinen - nur geschrieben kenne: so zum Beispiel ba'd und iyyaha für "noch" oder darak für "Polizei", sogar sayyara für "Auto" oder bala beziehungsweise na'am (anstelle des unbestimmten ägyptischen aywa) als "Ja" auf eine Frage. Mit der Zeit werde ich die kulturellen Unterschiede in den Worten herausfinden: Die Leute gehen zum Beispiel nicht aus, sondern sie treten auf an bestimmten Orten. Wenn man etwas Benötigtes besorgt, dann sichert man es hier. Sterben meint hier unbedingt fallen, auch als Märtyrer. Jemandem seine Bereitschaft zu einem Gefallen oder einem Dienst zu vermitteln, drückt man hier mit einem ergebenen Möge dein Auge geehrt werden aus. Wenn die Leute hier von Experiment sprechen, meinen sie eigentlich nur den Versuch. Ihr Fleischer meint unseren Metzger, und wenn sie von Enthäutungshaus sprechen, meinen sie unser Schlachthaus. Pech bedeutet bei ihnen nicht unbedingt Schlechtes, sondern kann auch Straßenasphalt meinen. Der Durchgang meint nur den Verkehr, und Gedränge steht für Stau. Der große Schritt hat hier keine sexuelle Komponente.
"Denn die Worte entgleiten mir wie das ,t' von Beirut." - Rayes Bek
Einen ganzen Tag lang habe ich das Gefühl, neue, bisher unterdrückte Seiten an mir zu entdecken, so als entblößten Frauen auf der Straße Teile ihres Körpers. Oder als würde man plötzlich die Bohne im Kaffee schmecken oder der Taxifahrer würde anhalten, bevor er den Bestimmungsort erfahren hat. Sogar als stünden in den Zeitungen wirkliche Nachrichten oder ein Beamter ginge ernsthaft seinem Amt nach. Ausgehen ist wirklich Erholung. Ich habe meinen Alltagsfilm verlassen, und das Leben spricht immer noch Arabisch. -(Nabil Tag pflegte über Kairo zu sagen, daß die "Dinge eine Kopie ihrer selbst sind". Ich denke, daß die "Dinge" hier, mögen sie noch so simpel und unbedeutend sein, wirklich sich selbst darstellen.) In Beirut kann man einfach mara ("Frau") sagen, ohne ein unangenehmes Gefühl hervorzurufen, oder man kann den Gott seines Freundes verfluchen, ohne daß man der Blasphemie beschuldigt wird. Man kann als Kellner oder Diener arbeiten, ohne mit einem Schlag auf den Hinterkopf rechnen zu müssen. Und wenn es an öffentlichen Plätzen zu großen Menschenansammlungen kommt, wird man nicht von einer noch größeren Anzahl von Sicherheitskräften umringt.
Die erzählten Geschichten haben schon auf dem Parkplatz des Flughafens begonnen. Von der Terrasse aus im neunten Stock, in dem sich die Wohnung von S.' Familie befindet, erscheint die Corniche weiter entfernt und breiter als das Meer von Alexandria. Ich betrachte die Dächer. Rechts der Berg. Die Sonne ist angenehm, und das Meerwasser ist in der Luft spürbar. Man erträgt die Hitze ohne Mühe, und dennoch macht sich Müdigkeit breit - wir sitzen zusammen und trinken den unvergleichlichen Junis-Kaffee. Aber kaum hat S. die Geschichte vom Busunfall in Ain ar-Rumaneh beendet, wird es Zeit aufzubrechen. Die ganzen zehn Tage lang ist mir unklar, wie und woher man weiß, wann es Zeit ist aufzubrechen. Ich glaube, S. verhält sich hier wie die meisten Beiruter: Sie achtet ohne Nachdenken darauf, den Zeitpunkt nicht zu verpassen. Es kommt ihr nicht in den Sinn, daß der Zeitpunkt aufzubrechen gar nicht kommen könnte, wenn sie ihn vergißt.
Ich laufe ihr hinterher mit gebrochenem Flügel, oder, besser gesagt, mein Flügel flattert speziell in ihrem Luftraum.
Aber mir gefällt die Vorstellung, an diesem Strand als staubiger Vogel von Ein al-Helwa gelandet zu sein, in diesem Raum oder außerhalb. Ein virtueller Palästinenser. Ich verhalte mich - so die Freunde - wie ein leichtsinniger ungestümer Schiit. Dunkel wie die Nacht. Gestört. Vulgär. Wie alles, außer dem unbedeutenden Ägypter, der keinen Grund hat, die Kairoer Nachbarschaft Dokki zu verlassen. Obwohl mich meine Herkunft als Ägypter noch öfter plagen wird, begreife ich in diesem Moment daß ich dabei bin, mich selbst kennenzulernen.
Ras Beirut ist verschachtelt wie ein Meccano-Modell. Der Weg geht auf und ab, macht eine Biegung und kommt an eine Sperre. Wir gehen ein wenig, mit der Corniche hinter uns steigt das Gefühl auf, als versteckten sich die Dinge ineinander. Als wären Dutzende ganzer Städte innerhalb eines Monats aufgebaut und zerstört worden. Und ihre Trümmer lägen - in der momentanen Stadt - nur einen Moment von den Fassaden entfernt. Im Arabischen existiert der Ausdruck für Stadtmitte nicht: Wir laufen downtown, und die Alten sitzen an den Türschwellen und zeigen auf uns, wie es die Schulkinder in den ärmeren Stadtteilen Kairos mit den Touristen machen.
Auf der Hauptstraße stoßen wir auf eine Art Ausstellung oder Jahrmarkt. Improvisierte Stände, die Patriotismus zum Thema haben. Die meisten Gegenstände sind Importe, die im Namen des Libanon vermarktet werden. Stifte. Tassen. Kleine Plastikzedern. Gedrucktes Papier. Karten. Flaggen verschiedener Größen und Formen. "Wir krepieren, oder: Soll das Patriotismus sein?"
Die Menschen hier stylen ihre Körper mit einem Kalkül, das über die Befreiung von Enthaltsamkeit und Tabubruch hinausgeht. In der Stadt existiert ein Körperkult, der weit von Europa entfernt liegt, aber alles hier versucht, einen davon zu überzeugen, daß man dort sei.
In der Nähe der Fußgängerzone, die Hariri bauen ließ. Der Spaziergang gibt mir das Gefühl, mich in einem Filmstudio zu befinden: eine Szene aus einer Werbesendung. Als ich mich hinter dem Platz der Märtyrer (im Arabischen bekannt als Sahat al-Burj) alleine zu den römischen Ruinen begebe - während ich versuche, mich an den Namen der Firma zu erinnern, die das Solidiere-Projekt durchgeführt hat -, entdecke ich, was meine ägyptischen Freunde mir schon vorher gesagt hatten: Irgend etwas in Beirut gibt dir das Gefühl, minderwertig zu sein. (Mein Freund nubischer Herkunft erzählte mir, daß er den Kulturschock, den er weder in England noch in Spanien erlebt hatte, in Beirut als riesiges Hindernis bei seinen Begegnungen vorfand. Zum ersten Mal - so mein Freund - hatte er das Gefühl, ein "Schwarzer" zu sein.)
Als läge man ständig im Wettkampf mit einer übergroßen Macht.
Über die Tischdecken hinweg, die aus Libanonfahnen bestehen, beobachtet jeder jeden. In den Restaurants gibt es spezielle Angebote zum Gedenktag des 13. April, und selbst die Kosmetikwerbung enthält Begriffe zum Thema Heimat. Jeder bietet sich auf plumpe Weise feil, gepaart mit bourgeoisem Gebaren. Davor bin ich mein Leben lang geflüchtet, ohne zu wissen, wie weit dieses Gehabe gehen kann. (Ich hätte mir nie vorstellen kšnnen, daß man Sandwiches mit Messer und Gabel ißt.) Ich fühle mich wie eines unter Hunderten von Models in einer nie endenden Modenschau.
Am Sahat an-Nijma, wo die Uhr steht, verliere ich mich in Plakaten. Werbebanner und Musik. Hörner. Hundert Remixe der Nationalhymne: Rock, Techno und Hip-Hop. Gerade startete ein Marathon neben einem roten Zelt. Man verteilt ein blaues Getränk kostenlos in Plastikbechern. S. lächelt gezwungen, blickt ernst und ist über die Art, wie ich mich zwischen den Autos bewege, besorgt. Die Fahne. Das Gesicht Hariris. "Die Wahrheit ... für den Libanon." Meine laute Stimme, als ich meine Gedanken ausspreche, entsetzt sie.
(Mit der Zeit komme ich mir wie ein unbedeutender Ägypter vor. Die Filme Elia Suleimans zum Beispiel habe ich nie gesehen. Und den Namen Franjieh habe ich noch nie gehört. Wo hat sich meine arabische Herkunft durch Umar Ibn al-Chattab versteckt? Der einzige Held und Gefährte des Propheten, der wirklich arabische Wurzeln hatte. "So ein Fuck." S. betont fortlaufend, daß es wichtig sei, sich um die Bruderstaaten zu kümmern. Entweder das oder "hohle Bourgeoisie". Als wäre Beirut nicht ein silberner Fußreif am Knöchel der Bourgeoisie der Region.)
Cheerleader zum Wohle des Libanon? Etwas dumm blicke ich mich um. Nacktheit und Dekadenz. Ein Mädchen kommt lächelnd auf mich zu. Die Hälfte ihres Busens ist unbedeckt. Vor einigen Minuten blickte ich schon von hinten auf ihre Jeans: Der perfekteste Hintern im ganzen Nahen Osten. Mein Blick wandert von ihrem Gesicht hin zur Libanonfahne, einem beunruhigend tief fliegenden Flugzeug, einer weiteren Fahne, einer Reihe von Fahnen. Eine silberne Wolke, die einem Zedernbaum gleicht. Ich spüre, wie die Hand des Mädchens sich meiner Taille nähert und gehe erregt in Stellung ... Allahu akbar ... Aus ihrem Beutel zieht sie einen Lutscher. Das gleiche Lächeln auf ihrem Gesicht. "Die Musikband der Fleischerinnung hat heute rund eintausend Dollar gesammelt" - etwas in der Art erzählt sie mir und geht weiter. Plötzlich habe ich das Gefühl, in Amerika zu sein. Bei einem NBA-Spiel.
Mich überrascht dieser Ausdruck von Patriotismus. Grüppchen sammeln sich und laufen wieder auseinander, bis hin zum Horizont. Verblüffung und Verärgerung. Es ist leicht, sich elend zu fühlen. Inmitten der Menge sollte alles Bedeutung haben, doch alles ist bedeutungslos. Wir überqueren die grüne Linie, und der Tag raucht seine letzte Zigarette. Ich küsse S. auf den Nacken. (Auch das kann man machen, ohne daß Mißtrauen aufkommt.) Die Wolken bestehen aus Menschen und Booten. In der Ferne sieht man Polizei und Militär.
Große Freude überkommt mich.
(...)