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Cover Lettre International 43, Giulio Paolini
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Inhaltsverzeichnis

LI 43, Winter 1998

Die Stimmen der Hieroglyphe

Weltbeheimatung, Weltentfremdung - das Echo des Alten Ägypten

Adalbert Reif Herr Professor Assmann, worauf führen Sie die ungeheure Faszination zurück, die das Alte Ägypten seit Jahrhunderten auf den Westen ausübt?

Assmann Das Alte Ägypten nahm in der europäischen Geistesgeschichte von jeher einen zentralen Platz ein, weil es der eigenen Vergangenheit zugerechnet wurde. In ihm erblickte man den verlorenen Ursprung einer kulturellen Tradition, die über Griechenland, Rom und die Bibel bis zu uns gelangte. Im Alten Griechenland war die ägyptische Geschichte in groben Umrissen durch Diodor, die Kultur durch Herodot und die Religion durch Plutarch bekannt. Auch in den Schriften der Kirchenväter findet man eine Fülle von Aufschlüssen und Informationen über die Götter, Riten und Weisheiten des Alten Ägyptens. Diesem positiven, von mancherlei Phantasmagorien geprägten Ägyptenbild in den griechischen Texten und in denen der Kirchenväter steht das biblische Bild Ägyptens gegenüber. Aus Ägypten mußte man ausziehen, um in die Welt des Monotheismus einziehen zu können. Von daher ist Ägypten in der Religionsgeschichte des Abendlandes dominierend als Gegenwelt eingeschrieben, als eine Welt des Heidentums und des Götzendienstes, gegen die sich die monotheistische Religion definiert. Nun fügten sich diese verschiedenen Auffassungen zu einem komplexen Bild zusammen. Und es ist gerade diese Ambivalenz, die unseren Geist so nachhaltig in Bann schlägt.

Aber auch im Laufe der Jahrhunderte nach Christus war das Ägyptenbild immer wieder Wandlungen unterworfen. Wie erklären Sie sich diesen ständigen Wechsel der Betrachtung?

In der Rezeptionsgeschichte Ägyptens unterscheidet man mehrere Phasen, von denen zwei eng mit Ereignissen in der europäischen Geschichte verbunden sind: der Renaissance und der Napoleonischen Expedition von 1798 nach Ägypten. Während im Mittelalter offensichtlich kein besonderes Interesse am Alten Ägypten bestand, änderte sich das in der Renaissance mit der Entdeckung angeblich ägyptischer Texte wie die Hieroglyphica des Horapollon auf der Insel Andros und des Corpus Hermeticum. Beide lösten eine ungeheure Welle von Ägyptenbegeisterung aus, die sich sehr treffend mit dem Begriff "Ägyptosophie" bezeichnen läßt. In dieser "Ägyptosophie" erscheint Ägypten als eine Art Urheimat der Weisheit. Das 17. Jahrhundert war dann das "Jahrhundert der Antiquare", das heißt der Sammler, denen natürlich nicht entging, daß Ägypten auch das Land des Tierkults und aller möglichen monströsen Erscheinungen ist, wie sie sich in den archäologischen Funden widerspiegeln. Das Ägyptenbild dieser Zeit muß als äußerst ambivalent, fast sogar als negativ bestimmt gewertet werden. Viele äußerten ihren Abscheu vor dem ägyptischen Tierkult mit seiner Verehrung von Krokodilen, Schlangen und anderem Getier. Im 18. Jahrhundert wiederum hielten sich "Ägyptomanen" und Ägyptengegner ungefähr die Waage. Kein geringerer als Johann Joachim Winckelmann kritisierte auf der Basis von Platons Lobpreis der frühen Erkenntnis des Schönen durch die Ägypter und der Tatsache, daß sie diese Schönheit sogar zum Gegenstand einer Gesetzgebung machten, diesen "Konservatismus", in dem er ein Zeichen des ästhetischen, des künstlerischen Stillstandes erkannte. Damit trat ein neues Paradigma in Erscheinung, zweifellos genährt von den damals aufkommenden Fortschrittsideen. Zugleich verblaßte die bis dahin gängige Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs der Weisheit. Sie wurde ersetzt durch das Modell von der originären, unabhängigen Entstehung der Kulturen: Jedes Volk, besitze seinen eigenen Genius, aus dem heraus es sich kulturell entfalte. Im Rahmen einer solchen Betrachtungsweise, der die Vorstellung zugrunde lag, daß die Kulturen Individuen sind, vermochte man natürlich mit dem Alten Ägypten nicht mehr sehr viel anzufangen. 1822, als man in der Folge der Napoleonischen Ägypten-Expedition mit der systematischen Aufnahme der antiken Monumente begann und Jan Francois Champollion die Entzifferung der Hieroglyphen gelang, setzte eine neue Phase der Rezeption Ägyptens ein. Nun fingen die alten Texte sozusagen mit eigener Stimme an zu sprechen. Man war nicht mehr auf die griechischen Autoren und auf die Bibel angewiesen. Das allerdings führte unverkennbar zu einer Desillusionierung. Denn die Texte, die entschlüsselt wurden, sprachen nicht von erhabenen Weisheiten und dem Einweihungswissen der hermetischen Tradition, sondern beinhalteten ganz triviale oder uns unverständliche Mitteilungen. So wurde uns das Alte Ägypten immer fremder.

Das heißt, die zunehmende Kenntnis der ägyptischen Kultur führte nicht zu einer Annäherung, sondern im Gegenteil zu einer Entfremdung?

In der Tat ist das Ägyptenbild der Wissenschaft von Fremdheit gekennzeichnet. Ich meine aber, daß eben dies die legitime wissenschaftliche Haltung darstellt: daß man nicht die andere Kultur mit einem vorschnellen, aus der Erinnerung gespeisten Verstehen überschreibt, sondern versucht, sie in ihrer Fremdheit und Eigenheit zu analysieren.

Und wie würden Sie unser heutiges "Ägyptenbild" charakterisieren?

Durch das Motiv der Fremdheit. Für uns ist Ägypten heute genauso eine Fremdkultur wie Babylonien, China, Indien oder das präkolumbianische Amerika. Der einzige Unterschied mag vielleicht darin bestehen, daß Ägypten als Steinkultur sich sehr viel ansehnlicher darstellt als beispielsweise Babylonien, das eine Lehmkultur war. Aufgrund seiner größeren Monumentalität und besseren Erhaltensweise ist das Alte Ägypten einfach spektakulärer. Nicht zuletzt trägt auch der Mythos seiner Goldschätze zu seiner besonderen Anziehungskraft bei. Dennoch bleibt es die Anziehungskraft des Fremden, längst ist jene Anziehungskraft, die aus dem Bewußtsein des gemeinsamen Ursprungs erwächst und die eigene Vergangenheit veranschaulicht, abgestorben.

Wenn erinnerte Geschichte, selbst auf kurze zeitliche Distanz, keineswegs der tatsächlich stattgefundenen Geschichte entspricht - wie "authentisch" darf dann das heutige Ägyptenbild genannt werden?

Unser Bild von Ägypten ist in dem Maße authentisch, als es den Fremdheitscharakter der ägyptischen Kultur respektiert und stehen läßt. Das Paradox besteht im Erinnern und Erforschen. Der Historiker, der sich heute mit Ägypten beschäftigt, weiß, daß er es mit einer sehr fremden Kultur zu tun hat, die wir nur in kleinsten Teilen verstehen. Das heißt, weite Bereiche der Überlieferung sind uns hermeneutisch kaum zugänglich. Wir kennen die Grammatik, wir kennen das Vokabular, wir können die Texte in großen Linien übersetzen, aber trotzdem bleibt ein Abstand, der sich nur durch unendliche Bemühungen und immer nur approximativ verringern läßt. Dieses Arbeiten im bewußten Abstand von einem Verstehen, wie es uns etwa mit Homer oder mit dem Propheten Jesaja natürlich ist, kennzeichnet die Authentizität des modernen Ägyptenbildes. Im Grunde ist das fast tragisch. Andererseits gibt es durchaus Theologen und klassische Philologen, die auch für ihre Kulturen diesen Abstand und diese Fremdheit reklamieren und etwa die alten Griechen "verfremden", um zu einem "authentischen Griechenlandbild" vorzudringen. Das Lossagen vom klassizistischen Marmorbild Griechenlands stellt ebenfalls einen antihermeneutischen Zugang des Verstehens als Verfälschens dar.

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