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Cover Lettre International, Magali Lambert
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Inhaltsverzeichnis

LI 123, Winter 2018

Zorbas, eine Odyssee

Wenn man die Mysterien erlebt, gibt es keine Zeit für Notizen

   (…)

   GOTT WEINT IN ATHOS

Mitte November 1914 beginnt in Athen eine kleine Reise. Von dort aus unternahm der damals einundzwanzigjährige Nikos Kazantzakis eine vierzigtägige Pilgerwanderung über den heiligen Berg Athos, Zentrum der griechischen Orthodoxie. Der Balkan und insbesondere Griechenland litten unter neurasthenischem Chaos und flackerndem Zucken zwischen Revolution und Restauration. Bulgaren, Rumänen, Türken und Griechen lieferten sich immer wieder regionale Gemetzel, während die großen Machtspieler Deutschland, England, Frankreich und Rußland sich für das Fest der Apokalypse in Schale geworfen hatten. Es gab genügend Gründe, einem solchen Irrenhaus zu entfliehen und die Nähe Gottes zu suchen. Dazu kamen profane Belange: Der literarisch ambitionierte Junganwalt war angeekelt vom Alltag in der kleinen Athener Kanzlei und erschöpft von einer enervierenden Ehe. Während er über die Berge schritt, sprach er im Takt der Schritte:
   „Morgen also Heiliger Abend. Ich werde hinter den dicken Mauern des Klosters verschwinden und erst dann in die Welt zurückkehren, wenn ich die Kraft habe, Gott zum Leben zu erwecken. Ich mag dem Verfall nicht länger zuschauen und mich den Lügen, Parolen und Dogmen aussetzen und dem schmierigen Pathos. Ich werde meine Pflicht tun und mein Golgatha feiern. Was habe ich schon zu verlieren? Auf mich warten die Geschenke von Kontemplation und Reinigung. Zudem sollen manche Mönche 130 Jahre alt werden. Aber ich muß ja nicht alles mitmachen.“
   Zu lebenslanger Askese entschlossen, stand er am Morgen des 24. Dezember mit seinem Koffer vor dem Kloster Megisti Lavra. Die Welt hätte einen großen Schriftsteller weniger, wäre nicht Erstaunliches passiert. Aus dem Klosterportal heraus stürmte ein Mann, um die fünfzig, groß, hager, gelockte Haare, hochgeschobener Filzhut, kariertes Sakko. Sein gebräuntes, runzliges Gesicht trug ein kräftiges Kinn, einen markanten Schnauzbart, und dann fielen Nikos diese Augen auf, funkelnd, spöttisch und unruhig kreisend wie der Blick eines Raubtiers. In einer Hand hielt er eine verschrammte Bouzouki, in der anderen eine selbstgedrehte Zigarette, er spuckte dreimal aus und fluchte wie ein Rohrspatz:
   „Bloß weg aus dieser Kloake des Satans! Schütze dich vor dem Hinterteil der Esel und dem Vorderteil dieser Kuttenträger. Raffzähne! Stinktiere und Giftmischer! In dieser Gruft kann man Gott beim Weinen zuhören.“
   Dann musterte er den mageren Mann abschätzig, trat einen Schritt zurück und meinte:
   „– Was schaust du denn so gescheit aus der Wäsche, Nickelbrille? Ach, verstehe, das nächste Opfer. Nur hereinspaziert, Novize. Hast du Streichhölzer?
   – Ich bin Nichtraucher.

   – Danach habe ich nicht gefragt, mein Junge. Ich will dir aber etwas verraten. Und höre mir gut zu: Ein Fisch sollte im Meer bleiben. Und ein Mann an der Sonne. So geht das Leben, ganz einfach. Wer das kapiert hat, will kein Mönch werden.
   – Ich sehe das anders, denn ich habe viel nachgedacht und behaupte, daß nur der einen Platz am Licht verdient, der lange genug gegen die Finsternis gekämpft hat.
   – Welche Sprachkunst, gütiger Herr. Du willst da drinnen gegen die Finsternis kämpfen? Dann nur zu, mein Junge. Vorher aber begleitest du mich runter nach Karyes zu der Hafentaverne. Finsternis. Daß ich nicht lache. Da gießen wir uns lieber einen auf die Lampe.
   – Mit wem habe ich denn die Ehre?
   – Zorbas. Georgios Zorbas, Vagabund, Suppenkoch, Bergmann, Musiker, Witwer, Hufschmied, Schwarzhändler, Holzfäller, Schwammtaucher, Vielfraß, Frauenfresser, Wanderprediger. Exkommunizierter Mönch. Den Rest habe ich vergessen. Los geht’s!“

 

   SCHLACHTFELD DES LEBENS

Zur Person von Nikos Kazantzakis gab es eine unermeßliche Sekundärliteratur, über den historischen Menschen Zorbas hingegen war kaum etwas in Erfahrung zu bringen, das über das im Roman Erzählte hinausging. Ich machte mich also selbst auf die Suche und konnte nach einiger Zeit aus weit verstreuten Quellen einige Fakten mehr sichern: Georgios Zorbas kam 1857 nahe der mazedonischen Stadt Katerini zur Welt. Aufgrund der steten Möglichkeit unangenehmer Konflikte mit den osmanischen Besatzern verbrachte er den Großteil seiner Kindheit in abgeschiedenen Gebirgsdörfern, wo er die Schafe und Ziegen seines Vaters hütete. Mit 17 Jahren suchte er das Weite, verdingte sich als Gelegenheitsarbeiter und fand schließlich Arbeit in einer von Franzosen betriebenen Zink- und Silbermine in Lakkou. Mit Begeisterung vertiefte er sich in die Welt der Metalle, Mineralien und Bergwerksbelange. Nebenbei widmete er sich seiner Lieblingspassion und schwängerte Eleni Kalkouni, die Tochter des Minendirektors, was damals in dieser Region eine Eheschließung zwingend nach sich zog. Als der Schwiegervater wenig später bei einem Unfall ums Leben kam, übernahm Zorbas den vakanten Chefsessel. Mit Eleni verbrachte er viele glückliche Jahre, aus denen zehn gesunde Kinder hervorgingen. Ihr plötzlicher Tod wurde dann zum Schicksalsschlag seines Lebens.
   Seit Beginn des Jahrhunderts waren überall im Balkan Kriege aufgeflammt, die ihn zur Flucht aus Lakkou zwangen. Und so irrte er mit seinen Kindern im Schlepptau über Jahre hinweg durch eine Trümmerwelt ständig wechselnder Fronten. Um die Familie am Leben zu erhalten, mußte er jede noch so entwürdigende Arbeit annehmen. Oft sah er sich in aussichtslosen Situationen, doch konnte nichts seinen grundsätzlichen Lebensoptimismus unterminieren. Im Frühjahr 1914 erlebte er dann seinen persönlichen Sündenfall. Nikos sollte der erste und einzige Mensch sein, dem er dies anvertraute. Nach dem Fußmarsch saßen sie in einer Hafenkneipe in der Nähe des Ortes Karyes, von wo aus die Schiffe zwischen dem Athos und Thessaloniki verkehren.
   „– Ich habe das noch keinem Menschen erzählt, und warum ich es Ihnen gegenüber mache, weiß ich nicht. Egal. Gut. Ich ritt also eines Morgens mit besoffenem Kopf auf dem Esel hinunter nach Saloniki, und plötzlich standen da fünf zerlumpte und verheulte Kinder herum, der Größe nach aufgereiht wie lebende Orgelpfeifen. Sie bettelten mich an, und ich Trottel schnauzte großkotzig herum, so die Art, warum sie denn nicht Ziegen hüten oder Feigen verkaufen. Stockend, grauenvoll stockend meinte dann der Älteste, daß sie seit gestern nacht kein Haus mehr hätten, den Vater habe ein Barbar erschossen und ihre Mutter haben sie ohne einen Fetzen am Leib an einem Ziegenstrick hängend aufgefunden. Ich erkundigte mich beiläufig nach dem Namen des Dorfs. Xeria. Xeria? Hörte ich richtig? Und dann kamen die Bilder zurück, Nikos, die Bilder, das brennende Haus, das Blut, die Schreie, das Grauen, der Mann, die Frau, ein Alptraum, mein Junge. Xeria. Ich war vom eiskalten Blitz erschlagen und mußte an Ödipus denken, wie er da innerhalb einer Sekunde das Drama begreift, den Fluch, unter dem sein ganzes Leben gestanden hatte.
   – Sie meinen, daß Sie …?
   – Ja, genau das meine ich. Zorbas, der Held, ich, Zorbas, der große Patriot, ich, das wilde dumme Tier, hurra, ja, ich, Zorbas, hoch lebe der Sieg. Ein Mörder, ein Vergewaltiger, ein Brandstifter, aber natürlich, klar, für die gute Sache, für den Frieden, die Vernunft, das Vaterland, das ruhmreiche Vaterland. Solange es Vaterländer gibt, sind wir Menschen wilde Raubtiere.
   – Das ist sicher kein Trost, aber gestern nacht habe ich in meinem zerfledderten Homer eine Stelle angestrichen, schauen Sie hier, dort steht: ‘Sei stark, sei stolz, liebe den Wein, die Frau, den Krieg und genieße das Schlachtfest des Lebens.’
   – Geh mir zum Teufel mit deinem Homer. Nachdem ich den Kindern alles genommen hatte, habe ich ihnen alles gegeben, bis auf meine Kleider am Leib. Dann bin auf dem Esel hoch zum Athos geritten und habe mir tage- und nächtelang mein Herz aus dem Leib geheult. Und habe IHN um eine neue Seele angefleht. Seine einzige Antwort war Schweigen, kaltes Schweigen, nacktes eisiges Schweigen. Seither glaube ich an nichts mehr. Außer an mich, manchmal.
   – Vielleicht hat ER genau diese Verzweiflung erfunden, damit wir Menschen werden, echte, wahrhafte Menschen.
   – Bestien hat er erfunden. Nikos, der Mensch ist eine Bestie. Tust du ihm Grausames an, leckt er deine Füße. Tust du ihm Gutes an, kratzt er dir die Augen aus. Mönche, Generale, Anwälte, Schreiberlinge, Bauern, Fischer – am Ende sind sie feige Köter. Ja, sie atmen, essen, trinken, sie schlafen alleine oder miteinander, und ansonsten machen sie sich vor Angst in die Hose. Und wenn das Schmierentheater vorbei ist, liegen sie steif in der Erde und gehören den Würmern. Das ist schon die ganze Geschichte.
   – Sie sind die erste menschliche Stimme, die ich seit langer Zeit gehört habe, Herr Zorbas. Vielleicht hat Sie mir der Himmel geschickt. Ich stehe gerade an der Kreuzung und weiß nicht, ob ich nach links oder nach rechts oder nach oben oder nach unten gehen soll.
   – Geh lieber rückwärts und in die Welt hinaus, Nikos, egal, was du dort machst, aber gehe um Himmels willen in die Welt hinaus. Dein Gott wird eher ein verkleideter Fischer sein, als daß er eine Mönchskutte trägt. Wein, Despina, Wein. Und hört mal zu, meine Herrschaften, hier ein Lied, bevor der Kutter ablegt, von mir gedichtet und komponiert ...
   – Wenn dein Herz versteinert und deine Seele tot ist. Dann hilft nur noch Musik, Wein und ein echter Freund. Zur Not auch einer mit Nickelbrille, Tinte und Papier. Mit Homer und dem Buch Jesaja, Jassu, halleluja!“

   (…)

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.