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Inhaltsverzeichnis

LI 129, Sommer 2020

Reform der Peking-Oper

Aufstieg, Fall und Wiederkehr der Modelloper der Kulturrevolution

SO VIELE hatte ich erlebt, die zuerst gefeiert und dann kaltgestellt wurden, und so viele andere, die zuerst kaltgestellt und dann rehabilitiert wurden, daß ich lange die Hoffnung bewahrt habe, man werde mich eines Tages als würdigen Vertreter der Geschichte unseres Landes ansehen. Das Rad hatte sich gedreht, und es müßte sich weiter drehen. Gewiß würde ich nicht mehr dasein, um es zu erleben. Ich sagte mir den Satz vor, den die zum Tode Verurteilten auf dem Schafott herausfordernd riefen: „In zwanzig Jahren bin ich wieder ein schöner junger Mann, ein Tapferer ...“ Meine Rehabilitation würde dann vielleicht ein paar weit entfernten Neffen nützen, die heute auf unbedeutende Posten in Provinzsektionen der Partei abgeschoben sind. Später, sagte ich mir, würden sie erfahren, welcher Ruhm mir unmittelbar bevorstand und welche Macht ich ausübte. Sie leiden schwer unter den Verbindungen zwischen ihnen und mir. Sie verleugnen mich so nachdrücklich, wie sie können. Mir tut es äußerst weh, daß ich für sie unabänderlich eine Belastung bin. Selbst wenn ich mich mit einer brutalen Geste plötzlich aus dieser Welt verabschiedete, würde ihnen der Makel der Erinnerung an meine Entmachtung hartnäckig weiter schaden. Ich werfe ihnen nicht vor, daß sie mich verabscheuen. Sie sind die Kinder ihrer Zeit, so wie ich ein Kind meiner Zeit war. Man hatte ihnen gesagt, ich hätte mich an Verbrechen beteiligt, mich hätte der irrsinnige Hochmut getrieben, eine jahrtausendealte Kultur zertrümmern zu wollen. Jedenfalls sieht man es sehr ungern, wenn jemand an diese Zeit erinnert, so daß die neuen Generationen sie bald ganz vergessen haben. Auch ich wollte eine Vergangenheit auslöschen. Seit Jahren sehe ich nun, wie mich die Rache der Zeit heimsucht.
    Ich weiß, daß mein Ende nahe ist. Tag für Tag bewege ich mich weniger, leide ich schlimmer unter Atemnot. Ich bekomme wenig Medikamente, und das sehr spät. Dazu gibt man mir tausend Erklärungen in entschiedenem und sanftem Ton; doch ich kenne die Menschen gut genug, um in den Augen meiner Pfleger deutlich lesen zu können. Man wird mich nicht umbringen; man wird nichts tun, um mich am Sterben zu hindern. Ein Arzt hat Mitgefühl mit dem alten Mann, zu dem ich geworden bin. Er weiß, wer ich war; er sieht mich an wie einen Löwen, der Zähne, Klauen und Muskelkraft eingebüßt hat. Der andere Arzt ist ungeduldig, fieberhaft, beinahe rachsüchtig, als hätte ich ihn vor dreißig Jahren auf die Reisfelder geschickt, um sich kaputtzuschuften. Ob das tatsächlich zutrifft? Das habe ich mich schließlich gefragt.

(…)

Seit einiger Zeit haben die Gelegenheiten zugenommen, die Erinnerungen neu zu beleben. In der letzten Woche habe ich eine kurze Pressemeldung gelesen, in der die Freilassung von Yao Wenyuan angekündigt wurde. Ich habe an einen Besuch bei ihm gedacht, wenn ich wieder einigermaßen zu Kräften komme. Aber ich müßte mühsame Schritte unternehmen, deren erfolgreiches Ende man immer weiter hinausschieben würde, um mich schließlich zu entmutigen. Schon allein die Fahrt nach Schanghai müßte von Genehmigungen abhängen, die nie kommen würden. Und vor allem waren unsere Beziehungen schließlich von so vielen Unglücken belastet, daß wir uns überhaupt nicht wohl fühlen würden, glaube ich, wenn wir uns wieder in die Augen sähen.
    Er war nicht viel älter als ich. Recht früh, Mitte der 1950er Jahre, war er mit literaturkritischen Artikeln bekannt geworden, die er im Schanghaier Künstlerischer und literarischer Monat veröffentlichte. Sein Stil war schwerfällig und brutal; ebenso wirkten sein eiförmiges Gesicht und seine Glatze, die ihn wie einen verdutzten Bauern aussehen ließen. Er glich eher einem Lastträger als einem Schriftsteller. Außerdem hat er kein einziges bedeutsames literarisches Werk hinterlassen. In dem Zeitraum vom Tod Maos bis zum Prozeß der Viererbande nannte ihn die Presse ständig „den bösartigen gescheiterten Schriftsteller“. Er untersuchte die Werke allein auf ideologischer Grundlage. Seine Verdammungsurteile waren aufsehenerregend. Alle Autoren hatten Angst, daß über sie ein von ihm unterzeichneter Artikel erschien. Wenn er in einem Buch den Hang zu Rechtsabweichungen aufdeckte, war das so gut wie ein Todesurteil. Er bewies, daß der Subjektivismus Hu Fengs den sozialistischen Aufbau heimtückisch behinderte; er brandmarkte die schöpferische Halbherzigkeit Wang Shumings; er griff die dekadenten bourgeoisen Ideen Feng Cuns an, der in einer Erzählung durchblicken ließ, daß man die Liebe von der Politik trennen müsse. Das sind nur ein paar Beispiele. Hat man jemals erlebt, daß ein Literaturkritiker über eine so große Macht verfügte? Seine Feder war eine tödliche Waffe, meine war harmlos. Ich war Assistent an der Pekinger Beida-Universität, wo ich Literaturgeschichte lehrte. Meine Untersuchungen wurden von niemandem gefürchtet; sie wurden nur von ein paar Gelehrten gelesen. Damals war ich geneigt, ihn zu bewundern, selbst wenn ich mich geschämt hätte, in seinem groben Stil zu schreiben.

(…)

Mao hatte seinem früheren Privatsekretär Chen Boda und seiner Ehefrau Jiang Qing die Leitung der ZGKR übertragen. Jiang Qing hatte vielseitige Ambitionen. Die Reform der Peking-Oper gehörte zu ihren Hauptanliegen. Sie erklärte, unsere Bühnen seien überfüllt mit Kaisern, Königen, Generälen, Ministern, Edelherren und Edelfrauen – und weiteren bösen Geistern der Feudalzeit. Wo blieben da die Arbeiter, Bauern und Soldaten, die Stützen der neuen Gesellschaft? Ihnen müsse man dienen und sie unterrichten. Es gelte, ihr Leben und ihre Erscheinung darzustellen. Mao lehrte: „Es kann nur eins von beiden geben: Bist du ein bürgerlicher Schriftsteller oder Künstler, dann preist du nicht das Proletariat, sondern die Bourgeoisie; bist du ein proletarischer Schriftsteller oder Künstler, dann preist du nicht die Bourgeoisie, sondern das Proletariat und das ganze werktätige Volk.“
    Bei den Aufgaben, an denen ich mich beteiligte, waren im Grunde zwei Projekte zu verwirklichen. Das erste bestand darin, neue Opern zu schaffen, Peking-Opern mit revolutionären Themen unserer Zeit, ohne Kaiser und ohne höfisches Gefolge, dafür aber mit Arbeitern, Bauern und Soldaten. Der Inhalt der Textbücher sollte auf dem Grundsatz der „dreifachen Verbindung“ der Parteikader, der Berufskünstler und der Volksmassen beruhen. Die Bühnenautoren waren aufgefordert, sich auf dem Land, bei den Armeen und in den Fabriken über die Lebensformen zu unterrichten, die sie darstellen sollten und deren Realität sie nicht kannten. Wenn die Schriftsteller zurückkehrten, zeigten sie mir ihre Entwürfe. Meistens mußte ich sie korrigieren. Sie waren noch von alten Traditionen geprägt: Wie in der früheren Peking-Oper lenkten die negativen Personen übermäßig die Aufmerksamkeit auf sich, während die positiven Figuren sehr langweilig wirkten. Oft mußte ich an die Lehre von den „drei Hervorhebungen“ erinnern: „Unter allen Personen eines Stücks die positiven Personen hervorheben; unter den positiven Personen die heldenhaften Personen hervorheben; unter den heldenhaften Personen die Hauptperson hervorheben.“ Ich korrigierte Tiraden, ich vervollkommnete die Helden, ich strich allzu verführerische Banditen. Obwohl wenige es wissen, habe ich schließlich einen nicht unwichtigen Teil der Textbücher jener Werke geschrieben, die man dann die „acht Modellopern“ nennen sollte und die während der Kulturrevolution auf der Bühne zugelassen wurden.
    Als zweites war es unsere Absicht, die Mentalitäten in den Opernensembles zu reformieren. Viele waren zu Zufluchtsorten für die Konterrevolutionäre der „schwarzen Linie“ geworden. Die Künstler rühmten sich, eine alte Kunst zu bewahren, einen Schatz, zu dessen Erben sie sich erklärten. Sie versuchten, die Inszenierung der „Modellopern“ zu sabotieren, indem sie auf frühere Methoden zurückgriffen. Bei den Proben zu Shajiabang schlugen sie vor, eine „neutrale Musik“ auszuwählen, die sowohl die positiven Personen als auch die negativen begleiten sollte, als wenn die Musik keinen Klassencharakter hätte. Arbeiter, Bauern und Soldaten wurden nach alten Konventionen interpretiert, die deren Spiel einengten, sie lächerlich und unbeholfen erscheinen ließen: dem Qiba (die vorbereitenden Bewegungen der Krieger, bevor sie den Kampf aufnehmen), dem Zoubian (beim Auftritt das schnelle Entlanglaufen an der Rampe), dem Suibu (die kleinen Schritte der weiblichen Figuren), ganz zu schweigen von den Beckenschlägen, welche die Auftritte und Abgänge der Schauspieler hervorhoben. Der Gipfel war erreicht, als man feststellte, daß sie die Rolle Ah Jings einem als Frau verkleideten Mann übertragen hatten, wie es bei den altertümlichen Aufführungen üblich war, was dieser heldenhaften Person jede Glaubwürdigkeit nahm und das entscheidende Handeln der Revolutionsarmee bagatellisierte.

(…)

Ich hatte noch weitere Ambitionen. Ich begann, das Textbuch für eine „Modelloper“ zu schreiben, deren Thema die Überquerung des Dadu-Flusses während des Langen Marsches sein sollte. Früher oder später, sagte ich mir, würde man neue Opern schaffen, die den Kreis der acht kanonischen Werke erweitern müßten; und früher oder später würde man die Stellung des Autors rehabilitieren, die man als bourgeoisen Individualismus unter Verdacht gestellt hatte. Die „Modellopern“ waren tatsächlich kollektive Werke, bei denen niemand sich darauf berufen durfte, ihr alleiniger Autor zu sein. Man müßte abwarten, bis die Lehre von der „dreifachen Verbindung“ etwas von ihrer Ausschließlichkeit verlor, um als Textdichter einen Ruf zu erringen. Darauf hoffte ich. Einstweilen hielt ich mein Projekt geheim. An diesem Text habe ich drei Jahre gearbeitet. Ich habe ihn stets geheimgehalten, denn ich wußte: Wenn man ihn entdeckte, würden mich meine Genossen argwöhnisch ansehen. 1976 haben ihn Polizisten zusammen mit allen meinen Papieren mitgenommen, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Während meiner dienstlichen Aufträge bei den Theatergruppen kam ich mit einigen Schauspielerinnen zusammen. Dazu gehörte Liu Changyu, die ein großer Star der „Modellopern“ war. Jiang Qing war eifersüchtig auf sie. Sie hätte sie gern ins Dunkel zurückgestoßen. Eine Zeitlang verbannte man sie von der Bühne. Doch das Publikum zeigte sich unzufrieden über ihre Abwesenheit. Es verlangte lautstark danach, man solle ihm Liu Changyu in der Rolle der Li Tiemei, der Heldin von Die Rote Laterne, zurückgeben. Außerdem wurde sie von Zhou Enlai nachdrücklich gefördert. Er wachte darüber, daß die Anfeindungen bald aufhörten. Im Dunstkreis Jiang Qings nannte man die Schauspielerin „die Favoritin des Markgrafen von Zhou“. Liu Changyu zog alle Blicke auf sich, und viele hohe Funktionäre waren in sie verliebt. Ich schätzte mich glücklich, weil ich ihrem Charme nicht rettungslos erlegen war.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.