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Lettre International 146 / Tina Merandon
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LI 146, Herbst 2024

Polyphone Einstimmigkeit

(…)

Alexander Kluge: Sie haben einmal gesagt, Ihr Ideal sei polyphone Monodie. Die Struktur vibriert, so drückten Sie sich aus. Es ist ein spannungsreiches polyphones Geflecht.

Wolfgang Rihm: Aber das ist eine ausartikulierte Einzelstimme. Es ist zunächst ein genuin musikalisches Problem, was aber durchaus bis ins Psychologische sich verfolgen läßt. Ich habe die Vision und auch die Lust, wenn ich für große Orchester komponiere, genuin einstimmig zu schreiben. Aber diese Einstimmigkeit stufe ich ab. Manchmal errichte ich auf einem Ton dieser Einstimmigkeit einen Akkordturm; dann wieder nehme ich die Einstimmigkeit bis in die Pause zurück, wo sie wohl herrscht, aber nicht unterbrochen ist, sondern als Gegengestalt weitergeht. Das sind Ideen, die mich von dem, was man unter Tonsatz im klassischen und auch im zeitgenössischen Sinn versteht, nämlich Geflecht oder Gewebe, entfernt haben. Mein Denken geht vielmehr in die Setzung von Einzelereignissen, in die Setzung einer virtuellen Einstimmigkeit. Wer das hört, wird sagen: Das ist doch nicht einstimmig. Aber es kommt aus der einen Stimme, die durch Anreicherungen, durch Ausbuchtungen, durch Begegnungen in sich dialogisch ist. Überhaupt ist das In-sich-Dialogische eine Idee, der ich in Konzertwerken oft nachgehe, wenn ich ein Solostück für ein Instrumentarium schreibe, das aus zwei Instru­menten besteht. Das habe ich in einzelnen Stücken gemacht. Die heißen dann Doppelgesang, ein Stück für Viola und Cello. Das fasse ich aber als streitbares, in-sich-dialogisches, selbstgesprächfähiges Einzelinstrument auf. 

Alexander Kluge: Das sind Metamorphosen von Instrumenten.

Wolfgang Rihm: Es geht darum, aus zwei Instrumenten eines zu erfinden, was aber aus zwei Körpern stammt und auch von zwei Personen gespielt wird. Oder ich komponiere Stücke, in denen zwei Singstimmen einen Text singen. Die Idee des Solistischen ist immer vom Janus her aufzufassen. Da singt ein Doppelmund. So ist auch der Schluß zu verstehen, daß dort ein Janus hergestellt wird. 

Alexander Kluge: Singen Sie, während Sie schreiben?

Wolfgang Rihm: Ja, aber nicht professionell.

Alexander Kluge: Sitzen Sie am Klavier, während Sie schreiben?

Wolfgang Rihm: Ich arbeite im Stehen. Ich schreibe am Stehpult. Ich bin immer in Bewegung. Die sitzende Lebensweise hat mir schon eine Rückenschädigung eingebracht. Dann gehe ich herum, gehe ans Klavier, gehe einkaufen, gehe etwas essen, komme wieder zurück, arbeite an der Komposition, gehe wieder weg.

Alexander Kluge: Die Töne sind beim Komponisten im Kopf?

Wolfgang Rihm: Die sind auch in der Hand manchmal und im Auge. Die Tonverhältnisse sind im Kopf, das sind die Vorstellungen. Bei zwei Tönen kenne ich das Verhältnis. Aber es klingt nichts real im Kopf. Der Maler, der eine Farbe setzt, hat nicht plötzlich Blau in den Augen oder Grün, sondern er weiß, wie das aussieht. Ich weiß, wie es klingt.

Alexander Kluge: Sie sagten, Musik sei eine kombinatorische Kunst.

Wolfgang Rihm: Das ist sie einerseits und andererseits auch eine Kunst der Imagination.

Alexander Kluge: Spielen Sie auf die Erfindung der Oper an?

Wolfgang Rihm: Bei dem, wie ich es auffasse, handelt es sich nur um etwas in diesem Jahrhundert Denkbares. Das ist eine Gegenbewegung zu einer Auffassung des Komponierens, die das Hauptinteresse auf den Tonsatz legt, auf das Verweben der Stimmen, auf das Herstellen von Tonsatz, während ich mehr vom Klangsatz her denke. 

Alexander Kluge: Klangsatz ist die musikalische Logik?

Wolfgang Rihm: Das ist eine Satzlogik. Das muß nicht die musikalische Logik sein; es ist eher eine Sprachlogik als eine Logik dessen, was gesprochen wird. Es ist auch in meinem Fall kein Garant für Schlüssigkeit, es ist nur eine persönliche Obsession, die ich auch umsetze, die vom Gattungsbegriff zu einer Erweiterung führt. Das Ideal von kammermusikalischer Polyphonie ist mit der Zeit zu einer fast akademischen Vorstellung verkommen. Für Schönberg, der den Brahms verpflichteten Quartettsatz verinnerlicht hatte (wie Adorno es ausdrückte), war das noch ein Kraft­moment, dieses polyphone Denken. Das ist auch eine Leistungsethik, die dahintersteckt, daß etwas veredelt werden kann, Musik besser wird durch Tonsatz. Das ist eine Vorstellung, die auch mit Materiellem zu tun hat, daß das Kunstwerk dadurch dauerhafter, also wertvoller ist. Jetzt nehmen wir Debussy. Niemand würde sagen, Debussys Musik sei wertlos oder schlampig, aber sie ist in der Form nicht polyphon, wie es die Brahms-Tradition nahelegt. Sie läßt den Klang in einer Weise selbst sprechen, daß daraus eine Polyphonie, ein Vielklang entsteht.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.