LI 141, Sommer 2023
Die Frau aus den Karpaten
Elementardaten
Genre: Erzählung
Übersetzung: Aus dem mexikanischen Spaisch von Petra Strien
Textauszug: 3.239 von 19.611 Zeichen
Textauszug
(…)
Der Fremde stand eines Tages gegen Mittag vor meiner Tür. Er kam nicht wie ich einst auf dem Rücken eines Esels, sondern auf dem reichlich ramponierten Fahrersitz eines Militärfahrzeugs. Die Windschutzscheibe schlammbespritzt. Vier wuchtige Reifen. Ein zerrissenes Segeltuchverdeck. Die Buchstaben auf der Wagentür ergaben für mich keinen Sinn, aber die Worte, die er an mich richtete, schon. Er verlangte nach Wasser, und da ich mich nicht rührte, öffnete er seine Feldflasche und kippte sie auf den Kopf.
„Verstehst du?“ wiederholte er mit wachsender Verzweiflung. „Ich brauche Wasser.“
So was wie ihn hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Seine Gesten, so kindlich, so unnötig, er rührte mich. Er wirkte, als hätte er Angst zu sterben.
„Woher kommst du?“ fragte ich, bemüht, ihm etwas von seinem Unbehagen zu nehmen, so wie er da in der Türöffnung stand. Vielleicht war es auch schon ein Versuch, ihn abzulenken, ihn abzuwimmeln. Nie habe ich es verstanden, mir die Menschen vom Hals zu halten. Als er zusammenfuhr, was er vor mir zu verbergen suchte, begriff ich, daß er mich nicht richtig sehen konnte. Wie alle Häuser in den Bergen war meins klein und dunkel. Später würde er es „die Höhle“ nennen. Kühl im Sommer; warm im Winter. Deshalb sind die Häuser hier so gebaut.
„Aber du bist ja eine Frau“, entfuhr es ihm leise, halb überrascht, halb amüsiert.
Sein Körper verdeckte die Sonne, so daß auch ich ihn nicht richtig sehen konnte. Ich wußte keine Antwort. Da trat er über die Schwelle. Ein ausladender, raumgreifender Schritt. Ich brauchte lange, um zu reagieren.
***
Er erzählte vom Krieg. Als er das Wasser in großen Zügen ausgetrunken hatte, wischte er sich den Mund mit dem Hemdsärmel ab und nahm am Tisch Platz. Er bat um Essen. Er verlangte mehr.
„Was ist das?“ fragte er, als er die Glocken läuten hörte.
„Eine Messe“, sagte ich, während ich einen Teller mit Fleischstücken vor ihn stellte. „Teil einer Trauerfeier“, murmelte ich.
Er aß, wie er Minuten zuvor getrunken hatte: gierig. Voller Heißhunger. Er aß mit den Händen und führte sich die Happen zum Mund, ohne den Blick abzuwenden. Dann kaute und schluckte er geräuschvoll. Zum Schluß leckte er sich die Finger sauber.
Als er gesättigt war, fing er an zu reden. Er steckte sich eine Pfeife an und redete ohne Unterlaß vom Krieg. Die Worte sprudelten aus seinem Mund, wie eben noch die Nahrung darin verschwunden war: sintflutartig. Er schilderte die Jahre seines Lebens. Sah den Heranwachsenden, der er gewesen war, nachdenklich und ruhig. Er hörte die Schüsse, den Nachhall der Schüsse. Er spürte den Durst. Eine erbarmungslose Sonne zerknitterte erneut seine Haut, blendete seine Augen und trocknete seine Lippen aus. Er schluckte Erde. Sehnte sich verzweifelt nach Salz auf seiner Zunge. Ließ sich wie gebannt von der Farbe des Feuers hypnotisieren. Er marschierte ganze Nächte durch, stieg bergauf und bergab, in Urin und Schweiß gebadet. Er schoß. Schloß die Augen und schoß. Unzählige Male.
„Du weißt nicht, wie das ist“, sagte er. Um dann fortzufahren, ohne eine Antwort abzuwarten. Die Kälte. Der Dreck. Der Gestank nach verwestem Fleisch. Der Tod. All das erlebte er noch einmal. Ein winziger Körper unter einem endlosen, unerbittlichen Himmel.
„Man ist nie schutzloser als unter freiem Himmel“, sagte er mit Nachdruck.
(…)