LI 102, Herbst 2013
Ägypten ohne Revolution
Das Militär erobert das Zentrum der politischen Macht zurückElementardaten
Genre: Landesporträt
Übersetzung: Aus dem Englischen von Bernhard Schmid
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Textauszug
Der Westen hat nach wie vor seine liebe Not mit der Entscheidung darüber, was er von der Situation in Ägypten wenn schon nicht halten, so doch, was er dazu sagen soll. Die Händler in Sachen Schimären wirken mittlerweile kleinlaut, und hinsichtlich der Kairoer Ereignisse vom 3. Juli von einer „zweiten Revolution“ zu sprechen ist längst nicht mehr in. Sie andererseits als Konterrevolution zu bezeichnen, was zutreffender wäre, würde eine Revolution voraussetzten. Von einer solchen scheint das Gros der Kommentatoren in den westlichen Medien nach wie vor überzeugt. Daß das, was die Medien den „arabischen Frühling“ getauft hatten, eine Abfolge von Revolutionen gewesen sei, avancierte im Handumdrehen zum Glaubenssatz. Und da die Vorstellung eines „arabischen“ Frühlings ohne Ägypten undenkbar ist, muß es auch dort zu einer Revolution gekommen sein.
Was zum Teil reines Wunschdenken war. Die wagemutigen jungen Ägypter, die vom 25. Januar 2011 an die bemerkenswerten Demonstrationen auf dem Tahrirplatz und andernorts organisierten, waren durchaus von revolutionärem Geist erfüllt, und als man ihrer Forderung nach der Abdankung Mubaraks nachkam, konnten sie gar nicht anders, als das Erreichte für eine Revolution zu halten. Die enthusiastische Berichterstattung der durch den in den Balkankriegen aufgekommenen „Journalismus der Verbundenheit“ (journalism of attachment) desorientierten westlichen Medien trug ihren Teil dazu bei. Den Rest besorgte der Einfluß gewisser Faits accomplis. So die Ereignisse in Tunesien, die nun tatsächlich eine Revolution waren. Die tunesische Armee spielte dabei eine ausgesprochen bescheidene Rolle, die im wesentlichen in der Weigerung bestand, zur Rettung von Ben Ali Demonstranten hinzuschlachten. Die Rolle der ägyptischen Armee im Februar 2011 dagegen war alles andere als bescheiden; sie wirkte nur so. Während das tunesische Militär sich als apolitischer Staatsdiener erwies, entschied sich die ägyptische Armee für eine neutrale bis sympathisierende Haltung gegenüber den Demonstranten, welche jedoch nur eine Maske für die eigentliche Zielsetzung des Generalstabs war. Den Berichterstattern, die zwischen Schein und Sein nicht zu unterscheiden vermochten, genügte das allemal. Äußerlich betrachtet war es in beiden Ländern zu Revolutionen gekommen – und zu praktisch identischen obendrein. Und schon hatte man seinen „arabischen Frühling“, bei dem sich nur noch die Frage stellte, wer wohl der Nächste sei.
Die entsetzliche Entwicklung der jüngsten Zeit in Ägypten vor dem Hintergrund einer ursprünglichen „Revolution“ mit dem 25. Januar 2011 als ersten Tag einer Art republikanischen Kalender zu sehen beraubt das Drama der letzten zweieinhalb Jahre seiner historischen Wurzeln, der Geschichte dessen nämlich, wozu der ägyptische Staat während der letzten Phasen von Husni Mubaraks zählebiger Präsidentschaft geworden war. Diese Sache ist nicht ganz einfach: Es ist die Geschichte der Bedeutung von Mubaraks Präsidentschaft für den ägyptischen Staat – für dessen Bestandteile, insbesondere die Armee, und seine Regierungsform –, aber auch davon, was Mubaraks Herrschaft für die verschiedenartigen Formen von Opposition bedeutete, die sie hervorrief oder zuließ. All dies vor dem Hintergrund einer wachsenden Staatskrise, die begonnen hatte, lange bevor die Revolution in Tunesien Fahrt aufnahm.
Mubarak beherrschte Ägypten über dreißig Jahre hinweg, länger als Nasser (18 Jahre) und Sadat (elf Jahre) zusammengenommen, und er ließ nie den geringsten Zweifel daran, bis zu seinem Tode im Amt bleiben zu wollen, während er den Eindruck vermittelte, daß er seinen Sohn Gamal als Nachfolger sah. Seine Herrschaft war ein Schulbeispiel für die zwei Phänomene, die Roger Owen in seinem Buch The Rise and Fall of Arab Presidents for Life diskutiert hat: der Aufstieg des „Präsidenten auf Lebenszeit“ in der arabischen Welt sowie die Tendenz – oder zumindest die Versuchung, der sich diese Staatsoberhäupter ausgesetzt sehen –, ihren Familien die Präsidentschaft durch die Einrichtung quasi dynastischer Amtsfolgen zu garantieren. Aufbauend auf Sadats Vorarbeit konzentrierte Mubarak eine beispiellose Macht auf sein Amt.
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Ungehorsam und Protest - Die Tamarrud-Bewegung
Wie konnte Ägypten vom Tahrirplatz des 31. Dezember 2011 zum Tahrirplatz des 30. Juni 2013 gelangen? Was war passiert?
Seit dem 3. Juli tobt ein heftiger Streit zwischen allen Parteien. Im Mittelpunkt der Debatte stehen die konkreten Ereignisse der letzten Monate und der dreißig Monate ihrer Vorgeschichte. Daß Außenstehende dabei Stellung beziehen und in der Hitze des Gefechts weiteren Staub aufwirbeln, ist alles andere als sinnvoll. Es wäre lohnender, sich statt dessen zwei Rätseln im Herzen dieses Dramas stellen: dem Verhalten der Tamarrud-Protestbewegung, die im Namen der „Revolution“ für die Demonstrationen vom diesjährigen Juni verantwortlich zeichnete, und dem Verhalten der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder. Beide werden vielfach mißverstanden.
Tamarrud heißt so viel wie „Ungehorsam“, „Widersetzlichkeit“, „Revolte“, „Rebellion“ (und „Meuterei“). Unter diesem Namen hat eine Gruppe die erste landesweite Petition gegen Präsident Mursi und die Kundgebungen vom 30. Juni organisiert. Es handelt sich um eine neue, im April 2013 gegründete Gruppe. Die Unterzeichner der Petition riefen den Präsidenten zur Abdankung auf. Die Organisatoren gaben ihre ehrgeizige Absicht bekannt, 15 Millionen Unterschriften zu sammeln, und behaupten, 22 Millionen zusammenbekommen zu haben – eine Zahl, die zu verifizieren mir nicht möglich war. Aber räumen wir hier einmal ein, daß sie Millionen Unterschriften gesammelt haben. Eine solche Petition zu organisieren oder gar sie zu unterschreiben ist kein antidemokratischer Akt: Bürger haben das Recht, einen gewählten Amtsinhaber zum Rücktritt aufzufordern, so wie der Betreffende das Recht hat, im Amt zu bleiben, bis er abgewählt wird. In der Petition war von der Armee keine Rede, geschweige denn, daß sie die Armee aufgefordert hätte, in der Sache zu handeln. Dasselbe gilt für die Mobilisierung zu den Kundgebungen zum 30. Juni. Einige wohlbekannte Gruppen, die eine Schlüsselrolle bei den Demonstrationen gegen Mubarak gespielt hatten, zögerten keinen Augenblick, sich daran zu beteiligten, namentlich die Jugendbewegung des 6. April, die Revolutionären Sozialisten sowie die Bewegung Wir alle sind Chalid Said (die als Protest gegen den Mord an einem jungen Mann durch die Polizei in Alexandria gegründet worden war). Sie alle hatten ihre Gründe dafür, Mursi und seine Freiheits- und Gerechtigkeitspartei nicht zu mögen und den Präsidenten gehen sehen zu wollen. Was dann bei der Demonstration passierte, steht auf einem anderen Blatt, denn viele der Anwesenden forderten die Armee tatsächlich zum Eingreifen auf. Und als die Armee drei Tage später Mursi aus dem Amt entfernte, reagierten viele Demonstranten genauso wie die vom 11. Februar 2011: triumphierend darüber, ihren Willen durchgesetzt zu haben, und geneigt, im Militär ein Instrument staatsbürgerlichen Willens zu sehen. Wie ein am 6. Juli im Observer zitierter Tamarrud-Aktivist jubelnd meinte:
„Sisi [der Oberkommandierende der ägyptischen Streitkräfte] und die Armee haben sich nach dem Volk gerichtet. Sie hatten zuvor viele Gelegenheiten gehabt, zu tun, was sie nun taten, haben sie aber nicht ergriffen. Aber in dem Augenblick, in dem Millionen Leute auf die Straße gingen und skandierend nach der Armee riefen, nahmen sie ihre Befehle von uns entgegen. Die Armee hat nicht die Macht übernommen. Sie war nur Partner bei dem demokratischen Wechsel, den wir anstrebten.“
Das Element des Wunschdenkens, wenn nicht baren Wahns in diesen Worten ist ein Hinweis auf das wahre Wesen von Tamarrud. Dasselbe gilt jedoch für den angesprochenen Sachverhalt. Wieso mutierte die in der Tamarrud-Petition erhobene Forderung nach Mursis Rücktritt – und vorgezogenen Präsidentschaftswahlen – zur Forderung nach einem Eingreifen der Armee? Daß Tamarrud zufrieden war mit dieser Entwicklung, liegt auf der Hand. Wäre es möglich, daß, nachdem sie Millionen von Ägyptern zum Unterzeichnen einer Petition mit einer einzigen unmißverständlichen Forderung bewegt hatten, die Tamarrud-Aktivisten selbst es geschafft haben, während der eigentlichen Kundgebung an dieser Forderung zu drehen? Die Organisatoren von Demonstrationen sind für gewöhnlich auch die Lieferanten der von den Teilnehmern skandierten Slogans, und der durchschnittliche Demonstrant ist bereit, die gehörten Slogans mit anderen zu skandieren.
Für das Ziel von 15 Millionen Unterzeichnern hatte man sich eindeutig deshalb entschieden, weil es die Zahl der Ägypter überstieg – gut 13 Millionen –, die Mursi im Juni 2012 ihre Stimme gegeben hatten. Später wurde behauptet, daß mindestens 14 Millionen am 30. Juni gegen ihn auf die Straße gegangen waren. Die Zahl wurde bald von anderen übertroffen: 17 Millionen, 22 Millionen. Nawal El Saadawi, die große alte Dame des ägyptischen Feminismus, behauptete sogar, daß 35 Millionen gekommen seien, eine Mehrheit der Gesamtwählerschaft. Diese Zahlen sind Fiktion, reine Märchen. Aber wer wollte es den Ägyptern ernsthaft verübeln, die Medien der Welt mit derart faustdicken Lügen bombardiert zu haben? Der Westen hatte es sich in der Galerie bequem gemacht, und nun spielte man für die Galerie. Für sie ging es um immense Einsätze, und es handelte sich um einen „bonne guerre“. Die Frage, die wir uns stellen sollten, ist folgende: Warum ließen sich unsere Medien von diesem Unsinn so bereitwillig einwickeln und plapperten ihn dann auch noch nach?
Der Frage nach den Zahlen ist Jack Brown nachgegangen, ein amerikanischer Autor, der jahrelang in Kairo gelebt hat; sein Artikel erschien am 11. Juli in Maghreb émergent, einer unerläßlichen Quelle für ernst zu nehmende Berichterstattung über nordafrikanische Entwicklungen mit einer englischen Ausgabe auf der Website internationalboulevard.com. Nach Browns Berechnungen können bei der Kundgebung auf dem Tahrirplatz und in seiner unmittelbaren Umgebung selbst nach großzügigsten Schätzungen nicht mehr als 265 000 Menschen teilgenommen haben. Einmal angenommen, an der zweiten großen Kairoer Demonstration in Heliopolis hätten 211 000 Menschen teilgenommen, dann kämen wir auf maximal 476 000. Wo also kamen die anderen 12,8 Millionen her, die es brauchte, um Mursis Stimmenzahl bei der Präsidentschaftswahl in den Schatten zu stellen? Fast ein Viertel der ägyptischen Bevölkerung wohnt in Kairo. Vage Angaben in den westlichen Medien, denen zufolge auch in anderen Städten „Hunderttausende“ auf den Straßen waren, mögen es uns erlauben, die Gesamtzahl der Demonstranten noch einmal nach oben zu korrigieren, aber selbst dann kämen wir nur auf eine, im äußersten Fall vielleicht auf 2 Millionen im ganzen Land, mit andern Worten: auf weniger als die 2,85 Millionen, die Mursi in Kairo und Giseh gezählt haben will. Die nachgerade bizarren Zahlen, die durch die westlichen Medien geisterten, mögen, so Brown, durch eine absichtliche Verwechslung zwischen der Zahl tatsächlicher Demonstranten und der Zahl der angeblich von Tamarrud gesammelten Unterschriften zustande gekommen sein. Aber die tatsächliche Zahl der Unterzeichner einmal außer acht gelassen – keiner dieser Menschen hat eine Petition unterschrieben, laut der die Armee den Präsidenten absetzen sollte.
Als die Gewalt des Militärs gegen Mursis Anhänger immer größere Ausmaße annahm, kamen dem einen oder anderen Teilnehmer der Kundgebung vom 30. Juni Zweifel. Ahmed Maher, Kopf der Jugendbewegung vom 6. April, stand zunächst hinter der Kampagne gegen Mursi, distanzierte sich jedoch später vom Vorgehen der Armee. Auch die Revolutionären Sozialisten grenzten sich schließlich ab. Die Führung von Tamarrud jedoch tat dies nicht. Für sie spielte es keine Rolle, ob Staatsbürger den Präsidenten zum Rücktritt aufforderten oder ob ein Verteidigungsminister ihn manu militari zu entfernen befahl. Und als genügte die Begeisterung über das Resultat nicht, rechnete man sich den Akt auch noch als Verdienst an. Der vom Observer zitierte Tamarrud-Aktivist war ein gewisser Mohammed Chamis. Am 16. August, zwei Tage nach den Massakern an der Rabaa-al-Adawiya-Moschee und auf dem Nahdaplatz, bei denen wenigstens 628 Demonstranten ums Leben kamen, zitierte ihn auch der Guardian: „‛Wir stehen hinter den Ereignissen von Rabaa und Nahda’, sagte Mohamed Khamis, ein Sprecher der Tamarrud- (Rebellions-)Kampagne, die die öffentliche Meinung gegen den demokratisch gewählten, aber unbeliebten Mursi mobilisierte. ‛Wir finden nicht gut, was die Bruderschaft da gemacht hat.’“
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Ermöglicht wurden die Demonstration am 25. Januar 2011 und das historische Drama, dessen Auftakt sie war, durch die Schockwelle der tunesischen Revolution sowie durch die Herausbildung einer neuen Generation junger Aktivisten aus der Mittelschicht seit 2008. Letztere hatten sich von den Arbeiterstreiks begeistern lassen, die am 6. April dieses Jahres begonnen hatten (und die auch die Raison d’être für Ahmed Mahers Jugendbewegung vom 6. April gewesen waren); darüber hinaus waren sie entsetzt von der zunehmenden Brutalität des Regimes, die im Juni 2010 in dem Mord an Chaled Said gipfelte, der Wael Ghonim zu seiner Facebook-Seite mit dem Titel Wir alle sind Cahled Said inspirierte. Aber auch wenn diese Entwicklungen für etwas sorgten, was 2004 und 2005 so offensichtlich gefehlt hatte, namentlich ein erhebliches Reservoir an politisierten Energien, die endlich Massendemonstrationen ermöglichten, blieb das Ausmaß der Politisierung begrenzt. Die jungen Aktivisten wußten, was sie nicht wollten, und konnten sich auf dieser Basis einigen, aber damit hatte es sich auch schon; sie orientierten sich an Kifayas negativer Agenda, ob sie sich deren Herkunft bewußt waren oder nicht. Unter diesen Umständen ging der Traum der Nasseristen, die Mubarak-Frage von der Armee lösen zu lassen, in Erfüllung.
Wir sollten den 11. Februar 2011 nicht auf einen Staatsstreich reduzieren. Es war keine Revolution, was da passierte, aber es war auch nicht nur ein Coup d’Etat. Es war ein Volksaufstand, dem mangels positiver Agenda oder Forderung die Initiative ausging. „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ sind keine politischen Forderungen, sondern nur Ansprüche und Slogans. Möglicherweise hätte eine gesellschaftliche Bewegung durch entsprechenden Druck auf den Staat, die erforderlichen Schritte einzuleiten, aus diesen Parolen Forderungen zu schmieden vermocht. Eine Bewegung jedoch, die ihre Wünsche von einer Regierung erfüllt bekommen möchte, deren Rücktritt sie zugleich fordert, hat ein Kohärenzproblem. Die einzig relevante politische Forderung war: „Mubarak irhal!“ Die Kommandeure der Armee ergriffen die Initiative, indem sie sich diese Forderung auf eine Art und Weise zu eigen machten, die ihnen von Nutzen war. Mit großer Wahrscheinlichkeit entschieden sie sich dafür, weil dies seit einiger Zeit ihr – wenn auch unerklärtes – Ziel gewesen war.
Wozu es am 11. Februar 2011 kam, war eine Neuauflage des Staates der Freien Offiziere. Der Sturz Mubaraks hatte mit einer Revolution nichts zu tun, da das fundamentale Rahmenwerk des Staates, das die Freien Offiziere nach dem Putsch von 1952 errichtet hatten, unangetastet blieb; die Entwicklung des Militärrats zum dominanten politischen Akteur machte das auch dem letzten klar. In dieser Hinsicht blieb das ägyptische Resultat weit hinter dem tunesischen zurück. Die Tunesier erzwangen nicht nur Ben Alis Flucht, sie sorgten auch umgehend für die Auflösung der herrschenden Partei, des Rassemblement constitutionnel démocratique („Konstitutionelle Demokratische Sammlung“). Beim RCD handelte es sich um eine Weiterentwicklung der nationalistischen Partei, die unter ihrem Gründer Habib Bourguiba das Land in die Unabhängigkeit geführt hatte. Der RCD war eine echte Staatspartei, Quelle der Macht und wesentliches Instrument, mit dem der Staat seine Bürger beherrschte. Die Partei hatte in ganz Nordafrika kein Pendant. Ihre Auflösung bedeutete das Ende dessen, was französische Analytiker den parti-État genannt haben. Sie bedeutete auch, daß die tunesische Gesellschaft konstitutionell wie politisch Neuland betrat. Als jedoch ägyptische Demonstranten die Zentrale von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei verwüsteten, griffen sie keineswegs die Quelle der politischen Macht im Staat an, sondern lediglich die Fassade eines Regimes. Eine wirkliche Quelle politischer Macht war seit 1952 die Armee. Mubarak hatte sie an den Rand gedrängt, sie hatte somit kaum Anteil am regierungspolitischen Tagesgeschäft; aber man hatte sie auch nicht durch eine alternative Machtquelle ersetzt. Weshalb die Ereignisse vom Januar und Februar 2011, die sie wieder in den Mittelpunkt des politischen Geschehens rückten, alles andere als eine Revolution waren.
Einen Staatsstreich als „Revolution“ zu bezeichnen hat bei den Nasseristen seit 1952 Tradition.
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Vor der Desillusionierung
Die ungestüme Rückkehr der ägyptischen Armee ins Zentrum der politischen Macht markiert keineswegs den Beginn eines Mubarakismus ohne Mubarak, da die exzessive Autonomie der Präsidentschaft der Vergangenheit angehört, woran sich auch dann nichts ändern wird, wenn Sisi den Job übernimmt. Außerdem bestand ein wichtiges Element von Mubaraks weitreichendem Balanceakt darin, sich stillschweigend darauf zu verlassen, daß die Muslimbrüder ihm nötigenfalls zu Diensten sein würden, wenn es darum ging, in den Teilen der Gesellschaft für Ordnung zu sorgen, mit denen der Staat sich nicht länger befassen konnte oder wollte. Dieser Pakt ist nun zerbrochen. Ob es innenpolitisch zu einer grundlegenden – im Gegensatz zu einer rein rhetorischen – Rückkehr zum Nasserismus kommt, bleibt abzuwarten; es ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich. Die Abhängigkeit vom saudischen Geld und von der Kooperation der Israelis dürfte dies außenpolitisch ausschließen, es sei denn, die Armee erklärt die totale Wiederherstellung ägyptischer Hoheit über den Sinai zum konkreten Ziel. So könnte sich denn der bestürzende Einfluß der Tamarrud-Bewegung auf die politischen Reflexe der jungen „Revolutionäre“ als kurzlebig erweisen. Wenn die große Desillusionierung einsetzt, dämmert ihnen womöglich endlich, in welchem Ausmaß sie letztlich den tragischen Fehler der algerischen Säkularisten und der algerischen Linken nach 1989 wiederholt haben in ihrem Versäumnis, eine positive Vision zu entwickeln, die sich derjenigen der Islamisten entgegensetzen ließe – eine Vision eines Weges zu Freiheit, Gerechtigkeit und Würde.