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Cover Lettre International 95, Maki Na Kamura
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Inhaltsverzeichnis

LI 95, Winter 2011

Was geschah in Libyen?

Das arabische Erwachen und die Militärintervention der Schutzmächte

(Auszug: 14.000 von 89.305 Zeichen)

Nun ist Gaddafi tot, und die NATO hat, zum ersten Mal seit dem Sieg des algerischen FLN (Front de Libération Nationale) über Frankreich 1962, einen Krieg in Nordafrika geführt. Der einzig wahre „Staat der Massen“ in der arabischen Welt, die Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahiriyya, hat ein böses Ende genommen. Im Gegensatz zum unblutigen Staatsstreich vom 1. September 1969, der König Idris stürzte und Gaddafi und seine Kollegen an die Macht brachte, hat die Kombination von Rebellion, Bürgerkrieg und NATO-Bombardierung zum Schutz von Zivilisten mehrere tausend (5 000? 10 000? 25 000?) Todesopfer gefordert, viele tausend Verletzte und Hunderttausende Flüchtlinge hinterlassen sowie massiven Schaden an der Infrastruktur angerichtet. Was hat Libyen als Gegenwert, wenn davon überhaupt die Rede sein kann, für so viel Tod und Zerstörung erhalten, die in den letzten siebeneinhalb Monaten über das Land hereingebrochen sind?

Der Sturz von Gaddafi & Co. war weit davon entfernt, eine eindeutige Revolution gegen eine Tyrannei zu sein, doch die jüngste militärische Intervention des Westens ist auch nicht einfach abzutun als eine Sache, bei der es nur um Öl ging. Das libysche Drama, das vom Nationalen Übergangsrat (NTC) aufgeführt und von den westlichen Medien als integraler Bestandteil des Arabischen Frühlings bejubelt wurde, als sei es von derselben Art wie die Aufstände in Tunesien und Ägypten, gehört eher auf die Liste der westlichen oder vom Westen unterstützten Kriege gegen feindliche, „aufsässige“, nicht ausreichend „gefügige“ oder „Schurken“-Regierungen: Afghanistan eins (gegen das kommunistische Regime, 1979 bis 1992), Irak eins (1990 bis 1991), die Bundesrepublik Jugoslawien (in Sachen Kosovo, 1999), Afghanistan zwei (gegen das Talibanregime, 2011) und Irak zwei (2003), wozu sich mit Einschränkungen die Militärinterventionen in Panama (1989), Sierra Leone (2000) und der Elfenbeinküste (2011) anfügen lassen. Eine frühere Reihe von Ereignissen, die man im Gedächtnis behalten sollte, schließt die Schweinebucht (1961) ein, die Intervention durch westliche Söldner in Kongo (1960 bis 1964), die von den Briten assistierte Palastrevolution in Oman 1970 und nicht zuletzt drei fehlgeschlagene Komplotte, bei denen man sich, unter den anfangs wohlwollenden Augen der westlichen Geheimdienste, David Stirlings und verschiedener anderer Söldner bediente, um zwischen 1971 und 1973 das Gaddafi-Regime zu stürzen – eine Episode, die als das Hilton Assignment bekannt ist.

Gleichzeitig gibt die Geschichte Libyens im Jahre 2011 Anlaß für mehrere verschiedene Debatten. Die erste von ihnen, über das Für und Wider einer militärischen Intervention, tendierte dazu, die anderen in den Hintergrund zu drängen. Doch zahlreiche Staaten in Afrika und Asien und zweifellos auch in Lateinamerika (Kuba und Venezuela kommen einem in den Sinn) möchten womöglich wissen, warum die Dschamahiriyya, obwohl sie ihr Verhältnis zu Washington und London 2003 bis 2004 verbessert hatte und mit Paris und Rom vernünftigen Umgang pflegte, sich als so verletzbar durch deren plötzliche Feindseligkeit erweisen sollte. Und der libysche Krieg sollte uns auch dazu veranlassen, zu überprüfen, wie sich Interventionen der westlichen Mächte in Afrika und Asien und insbesondere in der arabischen Welt auf demokratische Prinzipien und die Idee der Rechtsstaatlichkeit auswirken.

Die Afghanen, die gegen die kommunistischen Regierungen von Nur Muhammad Taraki, Hafizullah Amin und den von der Sowjetunion gestützten Babrak Karmal rebellierten und 1992 Mohammed Nadschibullah stürzten, bevor sie Kabul in einem langen Krieg der Splittergruppen in Schutt und Asche legten, haben sich mudschaheddin genannt, „Kämpfer für den Glauben“. Sie führten einen Dschihad gegen gottlose Marxisten und sahen keinen Anlaß, damit hinter dem Berg zu halten angesichts der enthusiastischen Berichterstattung in den Medien und der logistischen Unterstützung, die ihnen der Westen gab. Doch die Libyer, die gegen Gaddafis Dschamahiriyya zu den Waffen griffen, waren bemüht, diese Bezeichnung zu vermeiden – wenigstens dann, wenn sie in die Nähe westlicher Mikrofone gerieten. Mit Religion hatten die Umwälzungen in Tunesien und Ägypten wenig zu tun: In Tunesien fehlten Islamisten auf der Bühne bis zum Fall von Ben Ali beinahe völlig; in Ägypten waren die Muslimbrüder nicht die Anstifter der Protestbewegung (an der auch die koptischen Christen teilnahmen), und sie achteten darauf, daß ihre Unterstützung diskret blieb. Und so wurde die Irrelevanz des Islamismus für die populäre Revolte gegen despotische Regime Teil der westlichen Lesart des Arabischen Frühlings. Libysche Rebellen und Gaddafi-Getreue haben diese Tatsache gleichermaßen stillschweigend anerkannt.

Die westlichen Medien haben die Selbstbeschreibung der Rebellen als vorwärtsblickende liberale Demokraten meist bestätigt und Gaddafis übertriebene Behauptung zurückgewiesen, daß al-Qaida hinter der Revolte stecke. Doch man kann inzwischen nicht länger ignorieren, daß die Rebellion Islamisten mobilisiert und selbst eine islamistische Färbung angenommen hat. Bei seinem ersten Besuch in Tripolis erklärte Mustafa Abd al-Dschalil, der Vorsitzende des NTC, der damals seinen Sitz noch in Benghazi hatte, daß alle Gesetzgebung des zukünftigen libyschen Staates auf der Scharia gründen werde, und kam in diesem entscheidenden Punkt jedem gewählten Gremium zuvor. Abd al-Hakim Balhadsch (alias Abu Abdullah as-Sadiq), den der NTC auf den neugeschaffenen Posten eines Militärkommandeurs von Tripolis berufen hat, ist ein ehemaliger Anführer der Libyschen Islamischen Kampfgruppe (LIFG) – einer Bewegung, die in den neunziger Jahren eine Terrorkampagne gegen den libyschen Staat betrieb und Rekrutierungen für al-Qaida vornahm. Die demokratischen Revolutionäre in Tunesien sind nun besorgt darüber, daß das Wiedererstarken der islamistischen Bewegung die politische Debatte von Verfassungsfragen auf Identitätsfragen abgelenkt hat – das wäre Gift für die im Entstehen begriffene Demokratie des Landes. Unter diesem Gesichtspunkt sollte uns der islamistische Aspekt der libyschen Rebellion eine Warnung sein. Er ist einer von mehreren Gründen, zu fragen, ob wir Zeugen einer Revolution oder einer Konterrevolution geworden sind.

(…)

Der Panikfaktor
Warum war der Panikfaktor in der internationalen oder jedenfalls westlichen öffentlichen Meinung und besonders in den Regierungen so wirksam? Wie aus verläßlicher Quelle berichtet wurde, gab Obamas Angst vor dem Vorwurf, ein weiteres Srebrenica zuzulassen, in Washington den Ausschlag, während nicht nur Robert Gates, sondern anfänglich auch Hillary Clinton sich einem Eingreifen der USA widersetzten. Meiner Meinung nach ist die Antwort, daß Gaddafi bereits so gründlich dämonisiert worden war, daß die wildesten Beschuldigungen über sein wahrscheinliches (oder, wie viele behaupteten, sicheres) zukünftiges Verhalten geglaubt wurden, ganz egal, wie er sich wirklich verhielt. Diese Dämonisierung fand am 21. Februar statt, dem Tag, an dem alle wichtigen Karten ausgeteilt wurden.

Am 21. Februar wurde die Welt von der Nachricht erschüttert, daß das Gaddafi-Regime seine Luftwaffe einsetze, um friedliche Demonstranten in Tripolis und anderen Städten abzuschlachten. Der Hauptlieferant dieser Story war al-Dschazira, doch sie wurde schnell von den Sendern Sky, CNN, der BBC, ITN und anderen aufgegriffen. Bevor der Tag zu Ende war, war die Idee, eine Flugverbotszone über Libyen zu errichten, allgemein akzeptiert, ebenso wie die Idee einer Resolution des Sicherheitsrats, die Sanktionen und ein Waffenembargo verhängen, Libyens Konten einfrieren und Gaddafi und seine Verbündeten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen sollte. Die Resolution 1970 wurde fünf Tage später pflichtgemäß verabschiedet, und fortan dominierte der Vorschlag einer Flugverbotszone die internationale Diskussion über die Libyenkrise.

Viele andere Dinge ereigneten sich am 21. Februar. In az-Zawiya herrschte Berichten zufolge Chaos. Der Justizminister Mustafa Abd al-Dschalil trat zurück. Fünfzig serbische Arbeiter wurden von Plünderern angegriffen. Kanada verurteilte das „gewaltsame Vorgehen gegen unschuldige Demonstranten“. Zwei Piloten der Luftwaffe flogen ihre Kampfflugzeuge nach Malta und behaupteten, sie hätten das getan, um die Ausführung eines Befehls zu vermeiden, Demonstranten zu bombardieren. Am späten Nachmittag gab es verläßliche Berichte, daß Regierungstruppen und Scharfschützen in Tripolis in die Menge feuerten. 18 koreanische Arbeiter wurden verwundet, als ihr Arbeitsplatz von rund hundert bewaffneten Männern angegriffen wurde. Die Europäische Union verurteilte die Repression, gefolgt von Ban Ki-moon, Nicolas Sarkozy und Silvio Berlusconi. Zehn Ägypter wurden Berichten zufolge von Bewaffneten in Tubruq getötet. William Hague, der (wie Hillary Clinton) die Repression am Tag zuvor verurteilt hatte, erklärte auf einer Pressekonferenz, er habe Informationen, nach denen Gaddafi aus Libyen geflohen und auf dem Weg nach Venezuela sei. Der libysche Botschafter in Polen sagte, daß das Überlaufen von Angehörigen der Streitkräfte und der Regierung nicht mehr aufzuhalten sei und Gaddafis Tage gezählt seien. Zahlreiche Pressekanäle verbreiteten die Geschichte, daß Libyens größter Stamm, die Warfalla, sich der Rebellion angeschlossen habe. Libyens Botschafter in Washington, Indien, Bangladesch und Indonesien traten zurück, und der stellvertretende Gesandte Libyens bei den Vereinten Nationen, Ibrahim Dabbaschi, brachte den Tag zum Abschluß, indem er eine Pressekonferenz in Libyens Botschaft in New York einberief und behauptete, Gaddafi hätte „den Genozid gegen das libysche Volk bereits begonnen“ und fliege afrikanische Söldner ein. Dabbaschi war es vor allen anderen, der, nachdem er sein Publikum auf diese Weise vorbereitet hatte, die Idee lancierte, daß die Vereinten Nationen eine Flugverbotszone verhängen und der Internationale Strafgerichtshof Gaddafis „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ untersuchen solle.

Zu diesem Zeitpunkt betrug die Gesamtzahl der Toten seit dem 15. Februar nach Angaben von Human Rights Watch 233. Die Fédération Internationale des Droits des Ligues de l’Homme vermutete zwischen 300 und 400 Tote. (Aber sie erklärte auch am selben Tag, Sirte sei in die Hände der Rebellen gefallen.) Wir können diese Zahlen mit der Gesamtzahl der Toten in Tunesien (300) und Ägypten (mindestens 846) vergleichen. Wir können auch die Zahlen von HRW und die der FIDH mit der Zahl der Toten während des sieben Tage dauernden Aufruhrs in Algerien im Oktober 1988 vergleichen, die nach plausiblen Schätzungen zwischen 500 und 600 lag, wobei die französische Regierung es strikt unterließ, irgendwelche Kommentare zu den Ereignissen abzugeben. Doch Zahlen waren am 21. Februar unerheblich – was zählte, waren Eindrücke. Der Eindruck, den die Story machte, der zufolge Gaddafis Luftwaffe friedliche Demonstranten abschlachtete, war enorm, und es war natürlich, die Rücktritte von Abd al-Dschalil und den Botschaftern, die Flucht der beiden Piloten und insbesondere Dabbaschis dramatische Erklärung über den Genozid als Bestätigung der Story von al-Dschazira aufzufassen.

Goodies und baddies (um Tony Blairs Kategorien zu verwenden) waren eindeutig identifiziert worden, die empörte Aufmerksamkeit der westlichen Medien war vollkommen gefesselt, der Sicherheitsrat befaßte sich mit höchster Dringlichkeit mit der Angelegenheit, der Internationale Strafgerichtshof war präpariert und in Bereitschaft, ein fundamentaler Umschwung hin zu einer Intervention gelungen – alles innerhalb von Stunden. Und nach Meinung vieler auch ganz zu Recht. Abgesehen davon, daß die Story von al-Dschazira falsch war, ebenso wie die Story von den Warfalla, die sich auf die Seite der Rebellion geschlagen hatten, falsch war und Hagues Story, daß Gaddafi nach Caracas floh, falsch war. Und natürlich war Dabbaschis „Genozid“-Behauptung pathetischer Unsinn – doch keine der Organisationen, die eigentlich ein Interesse am zutreffenden Gebrauch dieses Begriffes haben sollten, stellte sie in Frage.

Diese Überlegungen werfen heikle Fragen auf. Wenn der Grund, der von diesen Botschaftern und anderen Angehörigen des Regimes für ihr Überlaufen am 21. Februar genannt wurde, falsch war – was brachte sie dann wirklich dazu, überzulaufen und die fraglichen Erklärungen abzugeben? Worauf wollte al-Dschazira hinaus? Und was führte Hague im Schilde? Eine seriöse Geschichtsschreibung dieser Angelegenheit wird, wenn weitere Belege ans Licht kommen, Antworten auf diese Fragen suchen. Aber ich finde es nicht schwer zu verstehen, daß Gaddafi und sein Sohn plötzlich zu einer derart heftigen Rhetorik Zuflucht nahmen. Sie glaubten offensichtlich, daß sie es ganz und gar nicht mit „unschuldigen Demonstranten“ zu tun hatten, wie die Kanadier meinten, sondern daß sie durch Kräfte destabilisiert würden, die einem Plan mit internationalen Verzweigungen folgten. Es ist möglich, daß sie falsch lagen und daß alles spontan und zufällig und ein chaotisches Durcheinander war; ich behaupte nicht, das mit Sicherheit zu wissen. Aber es hatte bereits zuvor Pläne gegeben, ihr Regime zu destabilisieren, und sie hatten Gründe zu der Annahme, daß sie erneut destabilisiert werden sollten. Plausibler wurde die Destabilisierungsmaßnahme insbesondere durch die frisierte Berichterstattung in den britischen Medien, namentlich das Beharren darauf, daß das Regime nur friedlichen Demonstranten gegenüberstehe, als es sich neben libyschen Durchschnittsbürgern, die sich gewaltlos Gehör zu verschaffen suchten, ebenso politisch motivierter wie auch blindwütiger Gewalt gegenüber sah (zum Beispiel dem Lynchmord an fünfzig angeblichen Söldnern in al-Baida am 19. Februar). Und aufgrund der Belege, die ich bislang sammeln konnte, neige ich zu der Annahme, daß Destabilisierung genau das war, was stattfand.
(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.